Gregor Gatscher-Riedl
Harald Seewann (Hrsg.): „Freundschaft, Freiheit, Ehre!“ Die Burschenschaft Budovisia im B.C. zu Wien (1894-1938). Ein Beitrag zur Geschichte des deutsch-freiheitlichen Verbindungswesens in Wien. Eigenverlag: Graz 2019, 569 Seiten, 28,00 Euro (zzgl. Versand) erhältlich beim Autor: Prof. Harald Seewann, Resselgasse 26. A-8020 Graz; Email: c.h.seewann@aon.at
„Lieber Herr Haidinger!“, beginnt ein Brief Bruno Kreiskys vom 24. Juni 1986 an den heutigen ORF-Journalisten und Autor Martin Haidinger, in dem der vormalige Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzende seine Beziehung zum Verbindungsstudententum erläutert: „Einer meiner Onkel, Dr. Otto Kreisky, Rechtsanwalt in Wien, wurde mit seiner Frau aus Wien deportiert und in Auschwitz vergast. Der zweite Onkel war Professor Oskar Kreisky, der nach kurzer Haftzeit in Amerika arbeitete, nach dem Krieg aber zurückgekehrt ist, nicht zuletzt deshalb, weil er hier viele Freunde aus seiner schlagenden liberalen, deutsch-freiheitlichen Studentenverbindung hatte. Es war die ‚Budovisia‘, und dies deshalb, weil beide in Budweis in der Mittelschule waren.“ Der Sozialdemokrat Kreisky wusste mit der Nomenklatur der Farbstudenten nichts anzufangen, stellte den Budovisen aber ein gutes Zeugnis aus: „Beeindruckt hat mich jedoch die verlässliche Freundschaft, die die Angehörigen dieses Corps verbunden und sich auch in schweren Zeiten bewahrt hat. Wahrscheinlich war dies auch mit ein Grund für die Rückkehr meines Onkels aus Amerika.“
Die von Kreisky erwähnte „Budovisia“ war 1894 von Studenten aus der Bierstadt Budweis (České Budějovice) in Wien gegründet worden. Zunächst bestand sie als „Vereinigung Budweiser Hochschüler“, die ab 1903 als Landsmannschaft „Budovisisa“ mit hellblau-weiss-schwarzen Bändern und schwarzen Samtmützen auftrat. Im Folgejahr trat Oskar Kreisky mit dem Couleurnamen „Ortwin“ ein, sein Bruder Otto gehörte ihr bereits seit 1899 an. Nach dem Ersten Weltkrieg firmierte „Budovisia“ als Burschenschaft, wobei die etablierten Wiener Korporationen gegen die Umbenennung Sturm liefen.
„Budovisia“ und einige mit ihr verbundene, ebenfalls unter der Selbstbezeichnung Burschenschaft auftretende Bünde wie „Fidelitas“, „Constantia“ und „Suevia“ in Wien waren im deutschnationalen Spektrum zu verorten, ohne jedoch einen antisemitischen Standpunkt einzunehmen. Sie pflegten das waffenstudentische Prinzip, unterschieden sich aber von der Mehrzahl der Wiener Burschenschaften dadurch, dass ihr jüdische Studierende als vollberechtigte Mitglieder angehören konnten. Sie selbst charakterisierten sich als „deutsch-freiheitlich“, wobei „Budovisia“ in ihrer parteipolitischen Orientierung eher als sozialdemokratisch galt. Gelegentlich findet sich für diesen Typus von interkonfessionellen Korporationen der Deskriptor „paritätisch“, womit auf das gleichberechtigte Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Angehörigen abgestellt wird, wobei bei „Budovisia“ das Verhältnis einigermassen ausgeglichen war.
Ebenso wie die in Wien sehr zahlreichen jüdisch-nationalen Verbindungen ist „Budovisia“ und mit ihr das „deutsch-freiheitliche“ Studententum nicht mehr wiedererstanden. Die Vertreibung ihrer Mitglieder und die Shoah haben einen Neuanfang verunmöglicht und dabei auch die Hinterlassenschaft dieser Bünde zerstört. Umso verdienstvoller ist daher das Anliegen des Grazer Studentenhistorikers Harald Seewann, der bereits mit seiner monumentalen fünfbändigen Reihe „Zirkel und Zionsstern“ (1990-1996) die grossen Linien der Entwicklung des jüdisch-nationalen Farbstudententums und dessen geistesgeschichtliche und politische Bedeutung nachgezogen hat. Ihm ist es zu verdanken, dass oft buchstäblich in letzter Sekunde aus Privatbesitz und den Erinnerungen der wenigen noch lebenden Zeitzeugen auf vier Erdteilen ein Stück verdrängter österreichischer Geistesgeschichte rekonstruiert werden konnte. Nunmehr wendet sich Seewann mit seiner Dokumentation der „Budovisia“ einer heute völlig vergessenen Strömung des Farbstudententums zu. Auf knapp 600 Seiten zeichnet der Herausgeber anhand von faksimilierten Originaldokumenten das Bild der „Budovisia“ und ihrer Mitglieder nach und ermöglicht damit eine Innensicht in ein komplett verschwundenes akademisches Milieu. Harald Seewann hat mit seiner im Eigenverlag erschienen Dokumentensammlung ein immenses Quellenkorpus zugänglich gemacht und damit die Grundlage für weitere Studien und Analysen auf diesem Teilgebiet der mitteleuropäischen Hochschulgeschichte geschaffen.