Ausgabe

Paul Celan (23.11.1920 – 20.04.1970) Zum 50. Todestag

Ingrid Nowotny

Vor 50 Jahren erreichte uns die Nachricht vom tragischen Tod Paul Celans in der Seine.

Inhalt

Ich darf persönlich werden und mich in diese Tage zurückversetzen. Paul Celan war mir ein Begriff - ob ich sein Werk, seine Poesie in seiner Tiefe und Bedeutung damals schon erfassen konnte, sei dahingestellt. Ich widme daher meine Gedanken jetzt dem Freund, der mir Paul Celan erst nahegebracht hat: Ernst Sucharipa, der österreichische Diplomat, der für die Opfer des Nationalsozialismus so viel getan hat und der viel zu früh von uns gegangen ist. Österreich ist er im Gedächtnis als Sonderbotschafter für Restitutionsfragen der Jahre 2000 und 2001 und als geistiger Vater des Washingtoner Abkommens zur Errichtung des Allgemeinen Entschädigungsfonds. Mehr als 20.000 Opfern der NS-Zeit konnte damit – spät, aber doch – Hilfe geleistet werden. Sein Herz und auch sein Verstand waren auf Seiten der Opfer, wenngleich er als loyaler Beamter der Republik hier in einem Spannungsfeld gestanden sein muss. Er hat sich diesem Druck ausgesetzt und ihn durch seine kluge und ausgleichende Art bewundernswert gemeistert. Er hat damit Grosses getan, sein historisches Verdienst für Österreich soll nicht vergessen werden! Er war jedoch nicht allein ein grosser Jurist und Diplomat - die Krönung seiner Laufbahn als österreichischer Botschafter in London konnte er nur kurze Zeit geniessen, bevor ihn nach wenigen Wochen die tückische Krankheit dahinraffte – er war ein wunderbarer, der Humanität und der Kultur verpflichteter Mensch. Ich erinnere mich an lange Gespräche über Literatur und Kunst - und somit auch an seine Gedanken über Paul Celan. Es war in Linz, wohin uns die Arbeit an der neu gegründeten Universität verschlug, im Frühjahr 1970. Ernst war sehr betroffen über Paul Celans Freitod: „Mit ihm ist jetzt einer von uns gegangen, der nicht nur die Grausamkeit eines verbrecherischen Regimes, sondern die Unfassbarkeit, die Abgründe der menschlichen Seele verstanden und in poetische Worte gesetzt hat.“ Wenngleich Ernsts unmittelbare Familie überleben konnte – die Nürnberger Gesetze waren knapp nicht anwendbar und es gab auch Menschen, die eine Lebensgrundlage ermöglichten – so blieb die weitere Familie von Theresienstadt und dem Holocaust dennoch nicht verschont. Ernst Sucharipa hat mir vor allem die Augen für Paul Celans literarische Grösse, für sein Leben, sein Leiden am Leben und seine Irrwege im Leben geöffnet. Wir sprachen über Altösterreich, Czernowitz, Kultur und Judentum zwischen den beiden Weltkriegen in der rumänischen Bukowina, alles war für mich neu und die Frage, warum wurde geschwiegen, für mein weiteres Denken und Fragen bestimmend. Ich kann mich hier nicht mit der poetischen und literarischen Dimension des Werks von Paul Celan auseinandersetzen. Dazu fehlt mir die Basis – es wäre vermessen, mich auf das Terrain von Sprach- und Literaturwissenschaftlern zu begeben; sie waren hier ohnehin schon höchst produktiv unterwegs. Ich will mich daher auf das Leben von Paul Celan, seine Herkunft und sein Umfeld beschränken. Poesie als solche geht nahe, ohne Erklärung und Interpretation. Ich erinnere mich hier an Paul Celans Gedicht Todesfuge: „dein goldenes Haar Margarete/ dein aschenes Haar Sulamith“.1

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Paul Celan, 18-jährig, Passfoto, 1938. Quelle: Wikimedia commons, abgerufen am 02.06.2020.

 

Kindheit und Jugend

Paul Celan wurde am 23. November 1920 als einziger Sohn von Leo Antschel-Teitler und seiner Frau Friederike geb. Schrager in Czernowitz in der damaligen Wassilkagasse 5, nunmehr Saksaganskogo, geboren. Die wirtschaftliche Grundlage der Familie war ein bescheidener Brennholzhandel. Die Familie war kleinbürgerlich, man sprach jedoch im damals rumänischen Umfeld Deutsch, die Sprache der gehobeneren Schichten. Paul besuchte teils die deutsche, teils die hebräische Volksschule. Der Vater war streng religiös, eher autoritär, den Sinn für die schöne Sprache vermittelte ihm die Mutter. Die ersten Gymnasialjahre verbrachte Paul im rumänischen Gymnasium, welches aus dem seinerzeitigen k. u. k. I. Staatsgymnasium hervorgegangen war, die Matura legte er am ukrainischen Gymnasium ab.

 

Bemerkenswert ist, dass Paul nicht alleine das lyrische Talent in der grösseren Familie blieb: Seine Grosscousine mütterlicherseits Selma Meerbaum-Eisinger (5.2.1924 – 16.12.1942) tat es ihm gleich und war schon sehr früh von Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke und Paul Verlaine begeistert. Sie übersetzte aus dem Französischen und hinterliess 57 Gedichte. Im Alter von 18 Jahren starb sie, entkräftet, ebenso die Eltern, im Zwangsarbeiterlager Michailowka in Transnistrien. Ihr Album mit Gedichten höchster lyrischer Qualität und ihr letzter Brief landeten nach verschlungenen und abenteuerlichen Wegen in einem Banksafe in Israel. Ein schmaler Band Ich bin in Sehnsucht eingehüllt (Hoffman und Campe, 1980) erfüllt uns mit Trauer über dieses dahingemordete Talent.

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Paul Celans Geburtshaus. Foto: Mehlauge 2011. Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Celans_Geburtshaus.jpg abgerufen am 02.06.2020.

Czernowitz - Aufstieg zur multiethnischen Grossstadt

Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, konnte nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1775 durch den Friedensvertrag von Kücok aus der osmanischen Herrschaft gelöst und Galizien angegliedert werden. Galizien selbst war nach der Teilung Polens 1775 an die österreichisch-ungarische Monarchie gefallen. Das Land war durch Feudalismus, durch die wechselnden polnischen, russischen und osmanischen Herrschaftsansprüche verarmt. Habsburg war es ein Anliegen, dieses darniederliegende Land mit Leben zu erfüllen. „Kolonisation“ war angesagt: im aufklärerischen Sinne Maria Theresias und Josefs II. galt es, Menschen ins Land zu bringen. Im 18. und 19. Jahrhundert setze die Zuwanderung von Armeniern, Rumänen, Ruthenen (Ukrainern), Deutschen und Juden ein. Steuererleichterungen und Befreiung vom Militärdienst sollten helfen. Die Rechnung ging auf: von 9.000 Einwohnern um 1800 war die Bevölkerung der ganzen Bukowina im Jahr 1900 auf 800.000 angewachsen. Czernowitz hatte sich von einem 5.000 Seelen-Dorf zur Hauptstadt der Bukowina entwickelt.

Wie auch in den anderen Teilen der Monarchie setzte Joseph II. mit dem Toleranzpatent die Grundlage zur weiteren Entfaltung der jüdischen Kultur. Die Stadt Sadagora wurde zu dieser Zeit zum Zentrum des Chassidismus, der orthodoxen jüdischen Frömmigkeit mit ihrer Musik und ihren Tänzen. Noch heute prägt diese Glaubensrichtung mit den Lubawitschern den New Yorker Stadtteil Brooklyn. 1849 stieg die Bukowina zu einem Kronland mit eigener Statthalterei auf. Nach 1867 wurde sie, obwohl weit im Osten gelegen, Teil der cisleithanischen Reichshälfte. Elf Abgeordnete hatten Sitz und Stimme im Reichsrat in Wien. Habsburg hatte durchaus den Ehrgeiz, Wohlstand und höheren Bildungsgrad zu bringen. Aus dem multiethnischen, multikulturellen und wahrhaft kosmopolitischen Potenzial konnte dieses Land aus dem Vollen schöpfen. Die Verbesserung der kommunalen und territorialen Verwaltung, neue Bahnlinien und Schulen führten zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung. 1857 konnte im I. k.u.k. Staatsgymnasium erstmals die Matura abgelegt werden. 1875 wurde die Franz-Joseph-Universität gegründet, ein grosser bildungspolitischer und wissenschaftlicher Gewinn, weit über die unmittelbare universitäre Institution hinaus. Die jüdischen Studenten und Graduierten mit neun jüdischen Studentenverbindungen wurden zur intellektuellen Elite und stellten später Rektoren und Professoren. Sie wurden auch Lehrer, Ärzte und Anwälte und besetzten hohe administrative Positionen. Josef Schumpeter wirkte 1909 bis 1911 als Professor und schrieb hier sein bedeutendstes Werk „Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“.

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Der jüdische Friedhof Czernowitz. Foto: O. Jaus. Quelle: Otto Jaus, Jüdischer Friedhof in Czernowitz, In: DAVID Heft 53, Juni 2002, link: http://david.juden.at/kulturzeitschrift/50-54/Main%frame_Artikel53_Jaus.htm, abgerufen am 02.06.2020, mit freundlicher Genehmigung O. Jaus.

Die Stadt Czernowitz gelangte in den Ruf einer Stadt der Literaten und Gelehrten. Karl Emil Franzos (1848-1904) beschrieb, noch als Schüler des I. k.u.k. Staatsgymnasiums, in berührender Weise das jüdische und multikulturelle Leben der Bukowina, bevor er von Wien aus seine Karriere als einflussreicher Journalist, Feuilletonist und Literat durch halb Europa begann: „Doch für die jüdische Bevölkerung stellte dieser Ort gleichsam ein Schwarzwalddorf, ein podolisches Ghetto, eine kleine Wiener Vorstadt, ein Stück tiefstes Russland und ein Stück modernes Amerika dar“. Czernowitz bekam noch andere treffende Bezeichnungen, Jerusalem am Pruth, Klein-Wien, Schweiz des Ostens, das Zweite Kanaan oder Jüdisches Eldorado Österreichs. Eine beträchtliche Bautätigkeit setzte ein; der nachgeahmte Ringstrassenstil verlieh der Stadt ihr urbanes Bild. Auch die unvermeidlichen Wiener Theaterarchitekten Fellner und Hellmer setzten mit dem Stadttheater ihre Spuren bis in die heutigen Tage.

 

Die jüdische Bevölkerung

Um 1870 bestand die Czernowitzer Bevölkerung zu 30% aus Juden. Es gab mit 78 Bethäusern ein reges religiöses Leben. In der Stadt spielten die Juden – nachdem sie spätestens 1867 durch die Staatsgrundgesetze die völlige Gleichberechtigung genossen – eine bedeutende Rolle. Sie stellten Bürgermeister und Stadträte. 1877 wurde die grosse Synagoge eingeweiht. Die meisten Juden sprachen Deutsch, teilweise auch Jiddisch als Umgangssprache. 1908 fand die Czernowitz-Konferenz statt, die die jiddische Sprache fördern sollte. 1910 wurde der jüdische Sportverein Hakoah Czernowitz gegründet. Es gab auch eine bedeutende deutschsprachige Presse, einschliesslich mehrerer Tageszeitungen. Die Ostjüdische Zeitung vertrat die zionistische Idee. 1866 wurde der neue jüdische Friedhof angelegt. Ein überwältigendes Erlebnis, von seiner Anhöhe aus auf die Stadt zu blicken: Ein riesiger Friedhof mit 50.000 Gräbern, einer der grössten Europas, kein  G‘ttesacker für ein lebendiges Gemeinwesen, sondern ein steinernes Denkmal für eine versunkene Zeit, keine Juden mehr in der Stadt, die sich vital zu Füssen ausbreitet, symbolhaft für das Schicksal der jüdischen Gemeinde.

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Synagoge in Czernowitz, heute Supermarkt. Foto: Daniel Fuhrhop 2011. Quelle: https://memorialmuseums.org/staettens/druck/1468, abgerufen am 02.06.2020.

Trotz seiner Randlage und trotz des Rufes, das Armenhaus der Monarchie und ein Ort für Strafversetzungen zu sein, entstand hier eine Kultur, die beispielhaft für die Multiethnizität und Toleranz der Monarchie sein sollte: Wo anderswo der Nationalismus schon blühte, konnte hier die liberale Kultur des „homo austriacus“ diesem Gift länger standhalten. Der erste Weltkrieg und die Neuordnung Europas bedeuteten auch für Czernowitz – und für diese Art der Kultur – eine Zäsur, mit grossen Einschnitten zwar, aber nicht vernichtend. 1915 wurde die Bukowina von Russland okkupiert, 1918 jedoch im Zuge der Pariser Friedensverträge dem Königreich Rumänien angegliedert. Von Polen und der Sowjetunion angemeldete Ansprüche auf das Gebiet konnten abgewehrt werden. Die Zeit der von den Juden nicht als Unterdrückung, sondern bisweilen sogar als liberal und demokratisch empfundenen Habsburgerherrschaft war vorbei.

„Hier in der Bukowina war kein Ansiedlungsrayon. Hier erlangten die Juden wirkliche Gleichberechtigung mit anderen Völkern. Hier herrschte eine nicht nur für jene Jahre seltene Atmosphäre der Toleranz, gegenseitigem Respekt und Zusammenarbeit. Hier blühte die jüdische Kultur, wirkte sich auf andere Kulturen aus und wurde von ihnen beeinflusst. Hier gab es ein lebendiges und buntes religiöses Leben und ein nicht weniger buntes und interessantes weltliches Leben".2

 

Czernowitz 1920

Wie war die Zeit, in der Paul Celan die wichtigen Impulse seiner Bildung und Sozialisation erlebte? Der Erste Weltkrieg hatte viel zerstört, die Gesellschaft musste sich unter völlig anderen Machtverhältnissen neu orientieren, demokratische und liberalistische Bewegungen forderten ihr Recht, wirtschaftliche Schwierigkeiten mussten bewältigt werden. Was lag näher, als dem alten Regime nachzutrauern und dessen toleranten und liberalen Boden für Multiethnizität und Multikulturalität zu beschwören, zumal mit dem Übergang zu Rumänien eine nationalistische Welle zu verspüren war. Wie zu erwarten, wollten die neuen Machthaber dem Rumänischen gegenüber den anderen Sprachen und Ethnien zur Dominanz verhelfen. Dennoch ist das Ende der Habsburger Herrschaft zu bedauern nicht angebracht – die feudalen und antidemokratischen Strukturen waren mit einem modernen Staatswesen und einer fortschrittlichen Kultur nicht mehr vereinbar.

 

Man möchte meinen, dass mit dieser neuen Situation im rumänischen Königreich auch das hochentwickelte – mit der deutschen Sprache trotz der Lebendigkeit des Jiddischen eng verbundene – jüdisch geprägte kulturelle Leben in der Bukowina zu einem schnellen Niedergang verurteilt worden wäre. Das Gegenteil ist eingetreten: Nach 1918 setzte eine letzte - trügerische – Blüte ein. Deutsch blieb trotz der massiv betriebenen „Rumänisierung“ die Sprache der intellektuell Führenden; die Einführung des Rumänischen als verpflichtende Schul- und Verwaltungssprache tat dem keinen Abbruch; es entstand sogar ein lebendiges deutsches Kulturleben. Die Erklärung für dieses paradoxe Phänomen ist nicht einfach: Mag sein, dass eine Sprache nicht so leicht auszulöschen ist, zumal sich das Deutsche in der Bukowina zu einer lingua franca entwickelt hatte, zu einer Sprache, in der man sich über all die anderen Idiome hinweg verständigen konnte. So ein Werkzeug ist eben unverzichtbar. Auch gewann im rumänischen Staat, wenngleich auch nur in Ansätzen und stark zentralistisch ausgerichtet, eine parlamentarisch-demokratische Bewegung zunehmend Bedeutung. Viel eher erscheint mir aber auch die Erklärung zuzutreffen, dass nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges eine junge, kritische Generation herangewachsen ist, die nach neuen Werten suchte und sich gegen die alten Traditionen ebenso wie gegen das erstarkende, nationalistisch gefärbte, Rumänische wandte. Gerade der intellektuelle Boden war tragfähig für Neuerungen. Ja, es gab auch so etwas wie eine Revolte von meist jüdischen jungen Czernowitzern, die gegen das Bürgerliche, gegen das Establishment, auch gegen das religiöse, und gegen die soziale Ungleichheit aufbegehrten und die in einem lebendigen kosmopolitisch und humanistisch ausgerichteten Literatur-, Presse- und Theaterwesen ihren Ausdruck fand.

 

Gleichzeitig entstanden bei den deutschsprachigen Minderheiten der Bukowina, Siebenbürgens, des Banats und insbesondere im benachbarten Bessarabien auch völkische und heimatbewegte Strömungen. Gestärkt durch Antikommunismus und Widerstand gegen die aggressive Rumänisierungspolitik, formierten sich völkische Erweckungs-und Erneuerungsbewegungen zur Idealisierung des Deutschtums. Das Heraufdämmern des Deutschnationalismus, begleitet von Antisemitismus, war nicht mehr zu übersehen und wurde vor und insbesondere nach 1933 von Deutschland auch heftig gefördert. Die Tragik der jüdischen Literaten, in der deutschen Sprache, der Sprache ihrer späteren Mörder, zu leben, ja sie sogar zu lieben, zeichnete sich bereits ab. In dieser Zeit formierte sich aber auch der rumänische Faschismus. Rumänien, nach dem Ersten Weltkrieg gross geworden, brauchte nun auch so etwas wie eine „nationale Wiedergeburt“. Die Eiserne Garde, auch Legion des Heiligen Michael, unter ihrem Führer Corneliu Codreanu erhielt massenhaft Zulauf.  Feindbild waren die durch die Gebietsgewinne zahlenmässig angewachsenen ethnischen Minderheiten, allen voran die Juden. Mit einer Ideologie aus einem Sammelsurium von faschistischen Versatzstücken wie Blut, Boden, aber auch Christentum und Mystizismus organisierte die Eiserne Garde Anschläge, Massenaufmärsche und antisemitische Pogrome. Die spätere Übernahme der Macht im Staat durch den mit Hitler verbündeten grausamen rumänischen Faschismus unter General Ion Antonescu war somit gut vorbereitet. Ich kann auch die Frage nicht unterdrücken, ob es hier nicht Kontinuitäten mit anderen Vorzeichen zum Stalinismus und zur Securitate gibt. So ist die Motivation der jüdischen Intellektuellen erklärbar, die Stimme für eine fortschrittliche Kultur zu erheben. Trotzdem scheint es wie ein Wunder, dass in dieser Zeit und in diesem Umfeld nicht nur die schöpferische Kraft von Paul Celan, sondern auch der Literaten und Dichter Alfred Margul Sperber, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner, Gregor von Rezzori, David Goldfeld und Rose Ausländer sowie des Psychologen Wilhelm Reich, des Malers Oskar Laske, des Tenors Joseph Schmidt und des Regisseurs Otto Preminger ihre ersten und entscheidenden Impulse erhalten konnte.

 

In dieser Atmosphäre verbrachte Paul Celan seine Gymnasialjahre. Die Schulzeit war nicht unproblematisch, denn er verliess das rumänische Gymnasium nach der Unterstufe wegen zunehmendem Antisemitismus und wechselte in das Gymnasium einer anderen Minderheit, in das ukrainische. Schon zu dieser Zeit nahm er an literarischen Zirkeln teil und trug erste Gedichte vor. In dieser frühen Jugend mag auch Schwärmerei für Poesie und Natur eine Rolle gespielt haben; die Bewunderung von jungen Mädchen ist überliefert. Rainer Maria Rilke war der bevorzugte Dichter. Paul verabschiedete sich schon mit 14 Jahren, gleich nach der Bar Mitzwa, vom religiösen Judentum. Von da an bleibt er der Synagoge fern. Er kritisiert soziale Probleme und sein politisches Denken nimmt klarere Formen an. Er steht einer kommunistischen Jugendgruppe nahe. Frühe Gedichte entstehen. Trotz des bereits bemerkbaren Kunstgriffs der Verfremdung behält er überkommene Formen bei; viel mehr ist nicht bekannt, doch man kann sich sehr gut in dieses Umfeld einfühlen.

 

Das Ende

1938 nimmt Paul ein Medizinstudium im französischen Tours auf. Er bricht es wegen des beginnenden Krieges ab und begibt sich wieder nach Hause. In Czernowitz studiert er Romanistik. 1940 beginnt in den Stufen der Grausamkeit das Unfassbare: Im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes wird die nördliche Bukowina mit Czernowitz an die Sowjetunion abgetreten. Zwangsumsiedlung ist neben Enteignung und Verstaatlichung, begleitet von physischer Gewalt, die bittere Folge. Deutsche müssen „heim ins Reich“, Juden und Rumänen werden in den südlichen Teil vertrieben, deportiert und auch nach Sibirien verbannt. 1941, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, verbündet sich Rumänien mit Deutschland. Rumänische Truppen marschieren wieder in Czernowitz ein. Unter General Jon Antonescu, Faschistenführer, anfangs Premierminister, dann Marschall Rumäniens, nunmehr mit Unterstützung des Deutschen Reiches „Staatsführer“ mit eiserner Hand, setzt Terror, Vertreibung und Mord gegen die jüdische Bevölkerung ein. Celans Eltern und Mitglieder der weiteren Familie werden nach Zwangsarbeit in einem Steinbruch in ein Lager in Transnistrien deportiert – wie Hunderttausende von ukrainischen und rumänischen Juden.  Der Tod des Vaters – Typhus oder Erschiessen – bleibt ungeklärt, die Mutter stirbt durch Genickschuss eines SS-Mannes. Paul überlebt als Zwangsarbeiter für Strassenbau in einem Arbeitslager. Es stockt der Atem bei der Beschreibung der Grausamkeit in den transnistrischen Lagern.

Anlässlich der aktuellen erstmaligen Öffnung der Akten des vatikanischen Geheimarchivs wurde ein Brief an Pius XII., Anfang 1944, mit dem Titel: “Wir kennen unsere Todesart“ gefunden. Es sei nur – ist die Aktualität Zufall? – der Bericht des Historikerteams zu diesem Brief zitiert:

„Der Brief der Gemeinde Tulcin am Bug (heute Tultschyn) beschreibt den Holocaust im Detail. Er kommt aus einem Gebiet, das sonst in der Geschichte des Schreckens oft vergessen wird: Transnistrien. Hier gab es kein Auschwitz und kein Treblinka. Transnistrien wurde 1941 von den Rumänen mit Unterstützung der Wehrmacht erobert. Die Grenze zu Russland bildeten die Flüsse Dnister und Bug. Hierher waren vor allem Juden aus Odessa, Bessarabien und der Bukowina von der rumänischen Polizei deportiert worden. Am Bug kamen die Deportationszüge zum Stehen. Die Rumänen zogen sich zurück. Die „Endlösung“ überliessen sie den Deutschen. Das ist genau der Moment, von dem das Dokument berichtet. Ob der Vatikan reagierte bleibt zu erforschen.“

 

1945: Bukarest – Wien

Paul Celan konnte nach der Einnahme von Czernowitz durch die Rote Armee im Dezember 1944 dorthin zurückkehren. Er nahm sein Studium wieder auf, ging 1945 nach Bukarest, studierte weiter und arbeitete dort als Lektor und Übersetzer aus dem Russischen ins Rumänische. Er veröffentlichte unter dem Pseudonym „Celan“, zusammengesetzt aus den Silben seines Namens „Antschel“, erste Gedichte. 1947 floh er vor den Kommunisten über Ungarn nach Wien. Seine Bleibe war zunächst das als Transitlager dienende Rothschild-Spital am Währinger Gürtel (heute WIFI) und später die Pension Pohl in der Wiener Innenstadt. Er war schnell und gut in die Wiener Kunst- und Literatenszene integriert, er besuchte Kaffeehäuser und traf dort Hans Weigel, Milo Dor, Hilde Spiel, Ilse Aichinger, Reinhard Federmann – und auch Ingeborg Bachmann. Die Beziehung zu ihr ist intensiv, aber kurz. Der Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka bot ihm eine Stelle als Bibliothekar in der Wienbibliothek im Rathaus. Er lehnte ab, denn es zog ihn weiter. Sein Aufenthalt in Wien endete bald und auch nicht sehr glücklich. Ein Buchprojekt scheiterte am Unvermögen des Verlages.

 

1948: Wien - Paris

1948 geht Paul Celan nach Paris. Der Kampf um die wirtschaftliche Existenz ist ernüchternd, er bringt sich mit Fabriksarbeit, Übersetzungen und Dolmetschen durch. Nebenbei studiert er Literatur- und Sprachwissenschaft. Er heiratet die Malerin und Grafikerin Gisèle de Lestrange; 1955 wird der Sohn Eric geboren. Er überträgt Dichtungen aus anderen Sprachen. Dramatische Folgen auf Psyche und Lebenswillen hat die zunächst freundschaftliche Beziehung zum Schriftstellerehepaar Claire und Ivan Goll. Nach dem Tod des Ehemannes bezichtigt Claire Goll Paul Celan des Plagiats an Gedichten von Ivan Goll. Paul ist davon tief getroffen, die Verletzungen können aber auch nach der Aufdeckung des Betrugs von Claire Goll nicht mehr heilen. Der literarische Durchbruch erfolgt 1952 anlässlich einer Tagung der Gruppe 47 in Nierndorf; der Gedichtband Mohn und Gedächtnis bringt ihm Weltruhm. 1960 wird ihm der Georg Büchner Preis verliehen. Paul wird ab 1962 mehrmals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, zuletzt fast ein ganzes Jahr. Ende April 1970 begeht er Selbstmord und wird, wahrscheinlich erst Tage später, tot aus der Seine geborgen.

 

Was mag ihn wohl dazu getrieben haben? Dass es wohl das Unfassbare des Holocaust war, das Leid seiner Familie, der Tod seiner Mutter, das Unvermögen und die vermeintliche Schuld, sie nicht gerettet zu haben, seine eigene Demütigung, liegt auf der Hand. Kein Mensch mit differenziertem Einfühlunvermögen kann das ertragen. Ich will dem auch nichts hinzufügen, es wäre nur Spekulation. Paul Celan ist wohl der bedeutendste der Weltliteratur zugehörende Lyriker deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts. Seine Dichtkunst wurde in zahlreichen Werken gewürdigt, analysiert, interpretiert und kommentiert. Deren wissenschaftliches Niveau ist hoch, meist nur der Poetik, der Sprach- und Literaturwissenschaft Kundigen zugänglich. Hier ist nicht der Ort für diesbezügliche neue Erkenntnisse oder resümierende Darstellungen. Ich möchte unter den vielen auch keinen bestimmten Autor herausgreifen. Die, die Paul Celans lyrisches Werk ergründen wollen, werden aus der Fülle der Literatur schon das Richtige für sich finden! Die Worte Paul Celans aus seinem Gedicht Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt, entstanden in Wien: „Das tote Ringelspiel/ kling/ wir drehen uns weiter“, und Gedanken Erich Frieds aus dem Jahr 1972 beim Wiederlesen eines Gedichts von Paul Celan, betitelt Die Freiheit den Mund aufzumachen, über Celans Werk: „Lieder/gewiss/auch jenseits/ unseres Sterbens/Lieder der Zukunft“, mögen vorerst genügen.

 

Zur Autorin: Dr. iur. Ingrid Nowotny ist pensionierte Ministerialrätin des Sozialministeriums. Aufgrund ihrer burgenländischen Wurzeln ist ihr die Erinnerung an das Schicksal der osteuropäischen Juden und der Juden im Burgenland ein besonderes Anliegen.

 

1 Die Wiedergabe des gesamten Gedichttextes ist aus drucktechnisch-rechtlichen Gründen hier leider nicht

möglich.

2 Eintrag zum jüdischen Museum in Czernowitz.

3 DIE ZEIT, 23.4.2020, S. 15

4 Die Wiedergabe der beiden gesamten Gedichttexte ist aus drucktechnisch-rechtlichen Gründen hier leider nicht möglich.