Ausgabe

Karl Erich Grözinger Summa Theologiae Judaicae, Teil 2

Daniel Krochmalnik

Die Verhaftung des Jüdischen im Deutschen und Europäischen Denken hört mit der erwähnten geographischen Schwerpunktverlagerung nicht auf.

Inhalt

So rekurriert etwa der orthodoxe israelische Philosoph Avi Sagi (Jg. 1953), dem Grözinger ein ausführliches Porträt widmet (S. 583-631), in seiner Philosophie des Gebets auf die Existenzphilosophie Heideggers und in seinem religions- und kulturphilosophischen Pluralismus auf die Hermeneutik Gadamers. Grözinger referiert die deutschen Philosophen wieder aus erster Hand (S. 592 ff., S. 606 ff.), wobei er in Gadamers und Sagis „Horizontverschmelzung“ (Misug Ofakim) seine eigene Auffassung der Hermeneutik des jüdischen Denkens bestätigt sieht (S. 601 f.). Sodann verortet er Sagi in der theologisch-politischen Debatte des heutigen Staates Israel.

 

Auch sonst schenkt Grözinger dem theologisch-politischen Komplex viel Aufmerksamkeit. Vielleicht ist der Vergleich von Malkod 67 des in Deutschland weitgehend unbekannten Israelis Micah Goodman über die ideologischen Dilemmata nach dem Sechstagekrieg (S. 633-666) mit Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums übertrieben, aber es zeigt doch, dass die Vernunft aus den Quellen des Judentums vor den Herausforderungen der Politik nicht kapituliert. Grözinger hat schon im Band 4 von Jüdisches Denken bewiesen, dass er in Sachen Zionismus nicht leidenschaftslos ist (S. 423-433). Dafür gibt es auch in diesem Band weitere Belege, so, wenn er die „antizionistischen Reflexe“ der linksliberalen Tikkun-Olam-Bewegung geisselt (S. 256-260). Überhaupt ist Grözinger ein deutscher Judaist mit Herz für die jüdische und israelische Sache. Man möchte meinen, so eine Sympathie mit seinem Forschungsgegenstand verstünde sich von selbst. Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, braucht man nur die letzte Seite aus Johann Maiers grossartiger Geschichte der jüdischen Religion (1992) aufzuschlagen. Im allerletzten Satz meint er, noch schnell eine „unkritisch-prozionistische“ Haltung verurteilen zu müssen (S. 672 u.). Oder man höre die verbalen Entgleisungen des zurückgetretenen Direktors des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer. Gewiss, ein Geometer muss kein Sechsstern sein – um einen von Schäfers Kernsprüchen über den Unterschied von Judaisten und Juden abzuwandeln –, er braucht sich aber auch nicht als Sechssternkritiker hervorzutun. Wohlgemerkt, Grözinger ist kein Apologet, seine Metakritik der Israel-Kritik ist wohlbegründet, sie scheint nur deshalb parteiisch, weil Antiisraelismus inzwischen auf vielen Campus der westlichen Welt Konsens geworden ist. Ausserdem spart Grözinger auch gegenüber Erscheinungen des jüdischen Lebens nicht mit Kritik, wenn er es für richtig hält – so in seiner Darstellung der sukzessiven „Plattformen“ der jüdischen Reform in den U.S.A., die nach vielen Verbiegungen und Verbeugungen vor dem Zeitgeist immer mehr zur traditionellen Form zurückkehrt (S. 202-224). Es ist gerade seine Reiz- und Streitbarkeit, die die Lektüre des monumentalen Werkes von Anfang bis Ende auf- und anregend macht.

 

Dann ist es aber auch unausbleiblich, dass der Rezensent nicht immer mit dem Autor einverstanden ist, so, wenn sich ein antitheologischer Affekt zu Wort meldet. Insbesondere die systematische Jüdische Theologie hält Grözinger für ein jüdisches Imitat der christlichen Theologie (S. 35-38, S. 428 u. ö.). Er stellt nicht wie Schäfer die Existenz der jüdischen Theologie schlechthin in Frage, „Theologie“ ist immerhin das erste Wort des Untertitels, er bezweifelt nur den Singular. Als Beleg führt er gerne den Siddur an (Bd. I, S. 22-24; Bd. 5, S. 398). Es ist wahr, das jüdische Gebetbuch ist ein Repositorium höchst unterschiedlicher Stücke unterschiedlichen Alters unterschiedlicher Herkunft. Dem historischen Theologen geht es um die Sonderung der zusammengewürfelten Stücke, was Grözinger die Analyse der theologischen „Grundlinien“ nennt. Mit gleichem Recht geht es aber dem dogmatischen Theologen um die „Aussenlinien“, denn es steht zwar höchst Verschiedenes im Siddur, aber es steht doch nicht Beliebiges darin. Schliesslich geht es dem systematischen Theologen um das Gesamtbild, woher und von wann die einzelnen Steinchen des Mosaiks immer stammen mögen. Die pure Vielheit widerspräche dem Begriff des Denkens, das von sich aus nach Einheit sucht, es widerspräche dem Einheits-Bekenntnis Adonai Echad, das nicht mit unvereinbaren G'ttesbildern leben kann und – last but not least – es widerspräche der Bewusstseinseinheit des Beters, der nicht im LeSchem Jichud abwechselnd Kabbalist, im Jigdal Elohim Chaj Philosoph und im Schir HaKawod Anthropomorphist ist. Er spricht und singt diese Gebete aus der Überzeugung heraus, dass sie in verschiedenen Ausdrucksformen das Antlitz des einen G‘ttes zur Anschauung bringen. Die Theologie ist nur die Fortsetzung der Doxologie mit anderen, nämlich begrifflichen, systematischen Mitteln.

Was ist für Grözinger die Summe der Summe? Zerfällt seine grosse Sammlung in ein Sammelsurium von Einzelstücken? Eine solche Skepsis wäre einem Judaisten durchaus zuzutrauen – und sie wäre für den Leser nach 3.764 Seiten engagierter Rekonstruktion ein trauriges Ergebnis. Und so fängt auch Grözinger an, die Vielfalt der G‘ttesbilder und ihrer menschlichen Ebenbilder gegen den dogmatischen Essentialismus in Stellung zu bringen und zieht sich auf den Historismus zurück. Doch dabei bleibt er glücklicherweise nicht stehen. Grözinger hat in allen fünf Bänden von Jüdisches Denken gezeigt, dass die jüdische Anthropologie stets auf die Schlüsselstelle Gen 1,26-27 und ihre Parallelen Bezug nimmt.

 

MaimonidesFührer der Verirrten beginnt im 12. Jahrhundert mit einer Erläuterung dieser Stelle ebenso wie R. Chajim Wolozyners Nefesch HaChajim (Seele des Lebens) im 19. Jahrhundert. Die Bibel als Ort und Sprache des jüdischen Denkens, das ist nach Grözinger die Konstante, das gesuchte überzeitliche Definitionsmerkmal.

 

„Das Jüdische am jüdischen Denken ist, wenigstens solange das Judentum in den traditionellen Fussstapfen der rabbinischen Hermeneutik und im Verständnis des Judentums als Religion agierte, die Einfügung allen Denkens in die formale Struktur der Tora-Auslegung.“ (S. 873).

 

Die Frage, ob die formale Bezugnahme nicht auch materiale Denkzwänge nach sich zieht, wäre eine Aufgabe für jüdisches Weiterdenken. Denn die G‘ttebenbildlichkeit ist eine „Grenzmarkierung“, die z. B. a limine materialistische, biologistische, soziologistische Menschenbilder ausschliesst. Die vorsichtige Einschränkung, dass dies nur für die voremanzipatorische Epoche gelte, unterschätzt ein wenig das Nachleben der jüdischen Antike in der Moderne. Auch offen antireligiöse Zionisten bezogen sich bei ihren nietzscheanischen „Umwertungen der Werte“ auf die Thora, wenn sie sie auch gegen den traditionellen Strich lasen. So, als ob Jüdische Denken erst dann zufrieden mit sich ist, wenn es sich in die Thora eingeschrieben hat.

 

Die Judaisten haben Grözingers opus magnum bisher kaum zur Kenntnis genommen. Dabei hat er der deutschen Judaistik ein stolzes Monument errichtet. Wenn man dieser Fachwissenschaft den Vorwurf nicht immer ersparen kann, dass sie sich lieber mit dem jüdischen Aberglauben als mit dem jüdischen Glauben befasst und vor lauter philologischem Kleinkram oft den Überblick verliert, so hat Grözinger in einem gewaltigen Kraftakt bewiesen, dass sich kritische Werkanalyse und synthetische Gesamtschau, philologische Genauigkeit und philosophische, theologische und politische Relevanz keineswegs  ausschliessen müssen. Man wünscht diesem Werk eine auch für Studierende erschwingliche Studienausgabe.

Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 5. Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2019, 856 S. Bibliographie zu Jüdisches Denken auf der Website des Verlages https://www.campus .de/isbn/ 9783593511078, 137 S.

 

Teil I dieses Beitrags ist in DAVID, Heft 124, Pessach 5780/April 2020, S. 60-61 erschienen.