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Von der Gründung der Ustascha bis 1941
Der kroatische Jurist und Politiker Ante Pavelić (1889-1959) gründete in Italien 1929 die ultranationalistische Ustascha-Bewegung (kroat. Ustaša, dt. Aufständischer). Ihre organisatorische Struktur ähnelte jener anderer balkanischer Geheimbünde, und sie setzte von Anfang an auf Gewalt und Diktatur. Zu ihren Hauptfeinden erklärte die Ustascha-Bewegung „die serbische Staatsgewalt“ als „eigentlichen“ Schöpfer und Träger des 1918 entstandenen Jugoslawien, „die internationalen Freimaurer“ sowie „das Judentum“, das die nationale Selbstständigkeit Kroatiens nicht wolle, da es vom „nationalen Chaos“ profitiere Das kroatische „Bauernvolk“, so der unverrückbare Glaube der Ustascha, lehne die Idee des Jugoslawismus (das heisst, der Zusammengehörigkeit der slawischen Völker des Westbalkans) entschieden ab, zumal es gar nicht slawischer, sondern gotischer Abstammung sei.
Jugoslawien erliess im Oktober 1940 Verordnungen gegen Juden (etwa ein Verbot des Handels mit Lebensmitteln durch Juden). Doch hatte es im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit keine Massenbewegung oder legale Partei mit dezidiert antisemitischer Programmatik gegeben, und antisemitisch motivierte physische Übergriffe waren bis 1941 seltene Ausnahmen. Ivo Goldstein, der im Ausland bekannteste Historiker und Holocaust-Forscher Kroatiens, meinte, dass in der Geschichte Kroatiens vor dem Zweiten Weltkrieg nur wenig darauf hingedeutet hatte, dass es eine solche antijüdische Massengewalt wie 1941-1945 geben könnte: Der Antisemitismus habe bis dahin – im Unterschied zu Russland oder Polen – „nie extreme Formen“ wie Pogrome oder Morde angenommen. 2
Allgemeines zur Lage der Juden im „Unabhängigen Staat Kroatien“
Die Ustascha war politisch alleine immer viel zu schwach, um Kroatien in eine – wie konkret auch immer geartete – Unabhängigkeit zu führen. Es gelang ihr nur deswegen, die Macht in Zagreb an sich zu reissen, weil die Deutsche Wehrmacht zuvor den jugoslawischen Staat de facto zerschlagen hatte. Am 10. April 1941 rief der ranghohe Ustascha-Funktionär Slavko Kvaternik (1878-1947) den Unabhängigen Staat Kroatien (Nezavisna Država Hrvatska – NDH) aus, der sich unverzüglich an die praktische Umsetzung eines „Homogenisierungsprojekts“ machte. Das beinhaltete die Vertreibung und Vernichtung von Serben, Juden und Roma. Demgegenüber erklärte die Ustascha die Moslems (heute Bosniaken) kurzerhand zu einem „Teil der kroatischen Nation“, womit der Anteil der „Kroaten“ an der Gesamtbevölkerung des NDH von 55 auf 68% der Bevölkerung zunahm.
Die Ankündigung des NDH-Innenministers Andrija Artuković (1899-1988) von Anfang Mai 1941, wonach man „die jüdische Frage bald auf die gleiche Art lösen [wird] wie sie die deutsche Regierung gelöst hat“ 3, gab die Marschrichtung vor. Die Ustaschen begannen mit der Plünderung von jüdischem Eigentum (von Geld und Gold bis zu Immobilien) und bereicherten sich daran ebenso wie die Vertreter der deutschen Besatzungstruppen. Schon Mitte April 1941 verhaftete die Ustascha-Polizei rund 40 der wohlhabendsten und angesehensten Juden Zagrebs; diese mussten sich freikaufen. Von Juden betriebene Geschäfte sahen sich beraubt, sie wurden, ebenso wie viele andere ihrer Unternehmen, nach deutschem Vorbild „arisiert“. Den Juden wurde die Anwesenheit in bestimmten Bezirken Zagrebs verboten. Sie mussten einen Judenstern mit dem Buchstaben „Ž“ (für „Židov“ – Jude) tragen. Daran hielten sich aber viele nicht (was den Ustascha-Behörden und den Deutschen nicht verborgen blieb). Die (1867 fertiggestellte) Zagreber Synagoge wurde 1941/42 abgerissen.
Die Ustascha erliess ab 30. April 1941 in offensichtlicher Anlehnung an die deutschen Nürnberger Gesetze (1935) normative Akte, die zumindest zum Teil von Pavelić selbst verfasst waren. Sie entzogen den Juden als „Nichtariern“ die staatsbürgerlichen Rechte (für sie wurde die Kategorie Staatsangehörige eingeführt) und machte sie so praktisch vogelfrei. Es handelte sich dabei insbesondere um die Gesetzesverordnung über die Rassenzugehörigkeit und die Gesetzesverordnung über den Schutz des kroatischen Blutes und der kroatischen Ehre, beide vom 30. April, sowie die Gesetzesverordnung über den Schutz der Volks- und arischen Kultur des kroatischen Volkes vom 4. Juni 1941.
Pavelić behielt sich aber das Recht vor, Juden, die sich für die „Interessen des kroatischen Volkes“ (in seinem eigenen spezifischen Verständnis) eingesetzt hatten, und ihre Familien zu sogenannten Ehrenariern zu ernennen und so von der antisemitischen Gesetzgebung auszunehmen. Rund 4.300 Juden bewarben sich um einen solchen Status, wovon ihn 500 bis 600 erhalten haben dürften. Das hatte aber kaum (wenn überhaupt) altruistische oder humanitäre Gründe, herrschte doch (auch) im NDH Vetternwirtschaft: Persönliche Verbindungen und Bestechung waren oft entscheidend, um bei hohen Funktionären (darunter Pavelić selbst) erfolgreich zu intervenieren.
Tabelle 1: Tote in Jasenovac
Ethnie |
Kinder / Jugendliche |
Männer |
Frauen |
Summe |
Serben |
12.683 |
21.738 |
13.206 |
47.627 |
Roma |
5.608 |
5.688 |
4.877 |
16.173 |
Juden |
1.601 |
7.762 |
3.753 |
13.116 |
Kroaten |
140 |
2.866 |
1.249 |
4.255 |
Moslems (Bosniaken) |
52 |
897 |
179 |
1.128 |
Quelle: Jasenovac Memorial Site,
http://www.jusp-jasenovac.hr/Default.aspx?sid=6711 (13.04.2020).
Der Vernichtung entgegen
Auf der Wannsee-Konferenz am 20. Jänner 1942 unter dem Vorsitz des berüchtigten Leiters des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, wurde der NDH kurz erwähnt. Im Protokoll heisst es unter dem Punkt „Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht, die sich wie folgt auf die einzelnen Länder verteilen: […] Kroatien 40.000 […]“. Und dann:
„Der Beginn der einzelnen grösseren Evakuierungsaktionen [der Juden, M.M.] wird weitgehend von der militärischen Entwicklung abhängig sein. […] In der Slowakei und Kroatien ist die Angelegenheit nicht mehr allzu schwer, da die wesentlichsten Kernfragen in dieser Hinsicht dort bereits einer Lösung zugeführt wurden.“ 4
Am 13. August 1942 verliess ein erster Deportationszug Zagreb und traf zwei Tage später im Vernichtungslager Au- schwitz ein. Von diesen 1.200 Juden wurden über 1.000 sofort ermordet. Bis zum 24. August gingen noch weitere drei Grosstransporte mit Juden aus Zagreb, Osijek und Bosnien-Herzegowina in die Vernichtungslager im deutsch besetzten Polen ab. 5 Insgesamt wurden in diesem August 1942 viertausendneunhundertsiebenundzwanzig kroatische Juden nach Auschwitz deportiert. 6
Im September 1942 brüstete sich Pavelić gegenüber Hitler damit, dass die „Judenfrage in einem grossen Teil Kroatiens gelöst“ sei. 7 Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt jener Teil des NDH-Territoriums, das sich unter Kontrolle der Ustascha und der Deutschen befand, abgesehen von Zagreb weitgehend „judenfrei“. Anlässlich seines Besuches in der kroatischen Hauptstadt am 5. Mai 1943 drängte der Reichsführer SS Heinrich Himmler, einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust, Pavelić einmal mehr zur Umsetzung der Endlösung auch in Kroatien. Die meisten der in Zagreb verbliebenen Juden wurden im Mai 1943 deportiert. Die Verschleppungen überwiegend nach Auschwitz in diesem Monat betrafen 2.500 bis 3.000 Juden.
Das KZ Jasenovac
Sofort nach der Gründung des NDH ermutigten die Deutschen die Ustascha zur Schaffung „eigener“ KZs. Das rund 100 Kilometer südlich von Zagreb am Fluss Save angelegte Lager Jasenovac war das mit Abstand grösste KZ im NDH und existierte zwischen August 1941 und April 1945. Die dortigen Häftlinge erhielten nur minimale (und mitunter überhaupt keine) Verpflegung, und die Wächter folterten, terrorisierten und mordeten nach ihrem Gutdünken. Gaskammern gab es in Jasenovac nicht, weshalb der bis heute anzutreffende Begriff „Auschwitz des Balkans“ missverständlich ist. Dennoch war Jasenovac zweifellos ein Vernichtungslager: alleine dort kam mehr als die Hälfte der Juden um, die während des ganzen Krieges im gesamten NDH ermordet wurden.
Die Gesamtzahl der Opfer von Jasenovac ist schwierig zu bestimmen, da es bis heute keine „allgemein anerkannten“ Daten gibt. Die Angaben insbesondere in Serbien wuchsen mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen zwischen 1941 und 1945: War 1946 von 46.000 Toten die Rede gewesen, sollen es dann 600.000 bis 700.000 und schliesslich, im Serbien von Slobodan Milošević (1941-2006, ab 1986 in Spitzenfunktionen), über 1,1 Millionen gewesen sein. 8 Demgegenüber verlauteten manche kroatische Stimmen offenkundig mehr oder weniger stark reduzierte Zahlen. Schon daraus ergibt sich, dass die entsprechenden Untersuchungen oft von der „politischen Konjunktur“ (und konkret dem kroatisch-serbischen Verhältnis) beeinflusst, wenn nicht dominiert waren.
Die höchste Zahl, die (soweit dem Verfasser bekannt) für die jüdischen Todesopfer in Jasenovac genannt wurde, beträgt 22.000. 9 Es finden sich aber auch (unter anderem bei Ivo Goldstein, etwa in seinem Buch Der Holocaust in Zagreb) 17.000 und weniger. Yad Vashem trug Daten zu 16.196 Menschen zusammen. 10 Der kroatische Ökonom und Demograph Vladimir Žerjavić (1912-2001) sprach von 13.000 Juden sowie von mindestens 45.000 und höchstens 52.000 Serben, 12.000 Kroaten und Moslems sowie 10.000 Roma. In einem im Jahr 2000 in Banja Luka, der Hauptstadt der Serbischen Republik in Bosnien-Herzegowina, aufgelegten Werk war von insgesamt 78.163 Toten die Rede, davon 47.123 Serben, 10.521 Juden, 6.281 Kroaten, 5.836 Roma, 919 Moslems und 7.483 „Übrigen“. 11 Das United States Holocaust Memorial Museum spricht von insgesamt mindestens 77.000 und höchstens 99.000 Todesopfern in Jasenovac, davon zwischen 45.000 und 52.000 Serben, zwischen 12.000 und 20.000 Juden, zwischen 15.000 und 20.000 Roma sowie zwischen 5.000 und 12.000 Kroaten und Moslems (Bosniaken). 12
In den 2000er Jahren begann das Projekt Jasenovac Memorial Site unter Heranziehung aller erreichbaren Dokumente mit der Erstellung einer Liste jener Personen, die in Jasenovac umgekommen sind. Bis März 2013 wurden die Namen von 83.145 Opfern (davon 39.570 Männer, 23.474 Frauen sowie 20.101 Kinder und Jugendliche) erfasst, doch könnte die Gesamtzahl der Todesopfer, vermutet die Memorial Site, bis zu 100.000 erreicht haben.
Ein Blick nach Serbien
Im postjugoslawischen Serbien waren bzw. sind Tendenzen, Antisemitismus ausschliesslich „den Kroaten“ zuzuschreiben und sich selbst davon völlig oder weitgehend freizusprechen, unverkennbar. Allerdings sollte sich Serbien angesichts seiner eigenen – in Mittel- und Westeuropa kaum bekannten – „antisemitischen Geschichte“ nicht in eine selbstgerechte Pose werfen. Dazu kommt, dass in Serbien mit seiner starken Neigung zur Selbst-Viktimisierung das Interesse an den Opfern des Holocaust im Land selbst und in anderen Teilen Jugoslawiens sowie an der Aufarbeitung der entsprechenden Geschichte immer „endenwollend“ war.
Im ab 1941 besetzten Serbien herrschte eine deutsche Militärverwaltung mittels einer Marionettenregierung. Serbien war noch vor dem NDH, und zwar im Mai 1942, weitgehend „judenfrei“. Nur 6% der Juden Serbiens überlebten den Krieg. Die meisten Juden waren in Serbien selbst ermordet worden, und zwar von der deutschen SS zusammen mit der Polizei des mit den Deutschen kollaborierenden Ministerpräsidenten Milan Nedić (1878-1946) und Leuten aus dem Serbischen Freiwilligenkorps, dem bewaffneten Arm der serbisch-faschistischen Organisation Vereinigte Kampforganisation der Arbeit. In diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben darf Dragoljub „Draža“ Mihailović (1893-1946), entschieden antisemitischer Kriegsminister der (klar von Serben dominierten) jugoslawischen Exilregierung in London zwischen 1941 und 1943. Er war auch Anführer der königstreuen serbischen Tschetniks. Diese ermordeten Juden (oder übergaben sie den Deutschen), kämpften für „Grossserbien“ sowie gegen die kommunistischen und „übernationalen“ Partisanen unter der Führung von Josip Broz Tito (1892-1980). Der Ustascha standen die Tschetniks „an Barbarismus in nichts nach.“ 13
Opfer des Holocaust in Jugoslawien und Kroatien im Spiegel der Demographie
Die meisten Schätzungen zur Anzahl der Juden in Jugoslawien zu Beginn des Jahres 1941 liegen zwischen 70.000 und 78.000. Im NDH, der nicht nur den Grossteil des heutigen Kroatien (Dalmatien war fast zur Gänze von Benito Mussolinis Italien annektiert worden), sondern auch ganz Bosnien-Herzegowina beanspruchte, lebten zum Zeitpunkt seiner formalen Entstehung rund 6,5 Millionen Menschen, davon nach differierenden Annahmen zwischen 35.000 und 40.000 Juden (davon wiederum rund 25.000 im „eigentlichen“ Kroatien und 14.000 in Bosnien-Herzegowina). 14 Auch die Angaben und Vermutungen zur Zahl der Überlebenden schwanken. Ivo Goldstein zufolge überlebten auf dem Gebiet des NDH rund 9.000 Juden den Krieg; davon kehrten weniger als 1.000 aus KZs zurück. Mindestens 7.000 Juden gingen zu den Partisanen, in die italienische Besatzungszone im NDH oder nach Italien selbst. 15 Die Kroatische Enzyklopädie des Miroslav Krleža-Instituts für Lexikographie in Zagreb bringt folgende Angaben: Von den Juden des NDH wurden in den Lagern und anderen „killing fields“ etwa 24.000 getötet, weitere fast 7.000 transportierte man im Sommer 1942 und im Frühjahr 1943 in deutsche Vernichtungslager (meist nach Auschwitz). Ungefähr 8.000 bis 9.000 Juden überlebten den Krieg, die meisten in von Italien oder von den Partisanen kontrollierten Gebieten. 16
Teil III dieser Serie lesen Sie in der kommenden Ausgabe des DAVID, Jg. 33, Rosch Haschanah 5781/ September 2020.
1 Zitate nach: Holm Sundhaussen: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt. Wien / Köln / Weimar 2014, S. 268.
2 Zitiert nach: Alexander Korb: Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941-1945. Hamburg 2013, S. 196.
3Zitiert nach: Ivo Goldstein / Slavko Goldstein: The Holocaust in Croatia. Pittsburgh 2016, S. 107.
4 Besprechungsprotokoll der Wannseekonferenz]. https://www.ghwk.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Konferenz/protokoll-januar1942_barrierefrei.pdf, S. 6, 9.
5 Slavko Goldstein: 1941. Das Jahr, das nicht vergeht. Frankfurt a.M. 2018, S. 488f.
6 Korb a.a.O., S. 418f.
7 Zitiert nach: Goldstein / Goldstein, a.a.O., S. 369.
8 Goldstein / Goldstein, a.a.O., S. 523f.
9 Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 2: Co – Ha. Stuttgart / Weimar 2012, S. 163.
10 Sven Milekic: Croatia’s Jasenovac Death Toll: A Political Numbers Game. Balkan Transitional Justice, 31.01.2018, <https://balkaninsight.com/2018/01/31/croatia-s-jasenovac-death-toll-a-political-numbers-game-01-31-2018/> (13.04.2020).
11 Nach: Nataša Mataušić: Jasenovac 1941.-1945. Logor smrti i radni logor. Jasenovac / Zagreb 2003, S. 122f.
12Jasenovac. United States Holocaust Memorial Museum, <https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/jasenovac> (18.04.2020).
13 Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens. München 2010/2018, S. 161.
14 Goldstein, Die Juden in Kroatien, a.a.O., S. 155.
15 Ivo Goldstein: Croatia. A History. London 1999/2011, S. 136.
16 Židovi. Hrvatska Enciklopedija. Leksikografski zavod Zavod Miroslav Krleza. <http://www.enciklopedija.hr/Natuknica.aspx?ID=67720> (18.04.2020).