Ausgabe

„Wer schreibt, provoziert“ Zum 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki

Monika KACZEK

Am 2. Juni wäre der Publizist und „Büchermensch“ Marcel Reich-Ranicki 100 Jahre alt geworden. Unvergesslich bleiben seine Auftritte im Literarischen Quartett, und man hat immer noch seine markante Stimme im Ohr.

Inhalt

Eine Geschichte von Leben und Überleben

Marceli Reich wurde als drittes Kind von Helene (geb. Auerbach) und David Reich am 2. Juni 1920 in der polnischen Stadt Włocławek geboren, wo er in einer assimilierten jüdischen Mittelstandsfamilie aufwuchs. Marceli Reich, der in seiner Heimatstadt die deutsche Schule besuchen durfte, wurde von seinen Eltern zu wohlhabenden Verwandten nach Berlin geschickt, wo er am Gymnasium mit Werken von Klassikern der Literatur in Berührung kam. Nach dem Ablegen des Abiturs wollte er an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin immatrikulieren, wurde aber am 23. April 1938 aufgrund seiner jüdischen Abstammung abgelehnt. Ende Oktober 1938 wurde er nach Polen ausgewiesen, wo er in Warschau seine spätere Frau Teofila „Tosia“ Langnas (12. März 1920 - 29. April 2011) kennenlernte.

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Marcel Reich-Ranicki bei der Ludwig-Börne-Preis-Verleihung in Frankfurt am Main, 2007. Foto: dontworry. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Boerne-preis-2007-ffm006.jpg, abgerufen am 03.60.2020.

Als am 22. Juli 1942 die „Umsiedlung“ des Warschauer Ghettos starten sollte, heiratete das junge Paar. Im Jänner 1943 konnte das Ehepaar noch rechtzeitig vor einer Deportation vom Versammlungsplatz fliehen. Marceli Reich unterstützte die Jüdische Kampforganisation (poln. Żydowska Organizacja Bojowa, kurz:: ŻOB). Das Paar überlebte in verschiedenen Verstecken, unter anderem beim Schriftsetzer Bolek Gawin und dessen Ehefrau Genia. Die Familie Gawin wurde 2005 von Yad Va-shem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet.

Helene und David Reich wurden in Treblinka ermordet. Marcelis Bruder Ale- xander wurde am 4. November 1943 im Kriegsgefangenen- und Arbeitslager im Poniatowa erschossen. Seine Schwester Gerda konnte 1939 nach London fliehen, wo sie 2006 starb.

 

Nachkriegszeit und Wirken

Gleich nach dem Krieg änderte Marceli Reich seinen Namen in Marcel Ranicki. Die ersten Jahre lebte das Ehepaar Ranicki in Polen und Grossbritannien, wo am 30. Dezember 1948 das einzige Kind Andrew Alexander Ranicki als Andrzej Aleksander Ranicki geboren wurde. Andrew, der am 21. Februar 2018 an Leukämie verstarb, über seine Kindheit:

„Ich bin noch geboren in London, aber 1949 gingen meine Eltern mit mir zurück nach Warschau, und wir blieben da bis ’58. Ich bin sicher, dass die Eltern meiner Mitschüler wussten, dass meine Familie jüdisch war. Aber sie schwiegen. Ich habe deshalb keine schlechten Erfahrungen gemacht in Polen. (...) Meine Eltern haben die Verfolgung zusammen durchlebt. Mein Vater hat mir mehrmals gesagt, dass meine Mutter fast daran zugrunde ging – seelisch, physisch. Er hatte sowieso von Natur aus einen starken Willen, aber diese enorme Durchsetzungskraft, die er hatte, die ist bestimmt auch im Kriegsleben geprägt worden. Wenn die beiden über diese Zeit erzählten, war es immer sehr ernst. Selbst die heiteren Episoden waren ernst. Es war schon klar, dass es nicht lustig war. Überhaupt nicht lustig.“

 

Während einer Studienfahrt blieb Marcel Ranicki am 21. Juli 1958 in Frankfurt am Main und seine Frau konnte ihm mitsamt dem Söhnchen nachfolgen. Ab August 1958 war er als Literaturkritiker der FAZ tätig, wo er seinen neunen Doppelnamen Reich-Ranicki benutzte. Von 1960 bis 1973 war er Literaturkritiker für die Wochenzeitung Die Zeit. Seine Reihe Frankfurter Anthologie präsentiert bis heute Gedichte deutschsprachiger AutorInnen. Er gehörte 1977 zu den Initiatoren des Ingeborg-Bachmann-Preises.

 

Ende und Vermächtnis

Am 4. März 2013 gab Marcel Reich-Ranicki bekannt, dass er an Krebs erkrankt war.

Im selben Jahr starb er am 18. September im Alter von 93 Jahren. Als Verteidiger der Literatur wird er unvergessen blieben: „Wer schreibt, provoziert.“

 

1  https://www.yadvashem.org/righteous.html

2 https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=23112

3 https://www.sueddeutsche.de/kultur/marcel-reich-ranicki-ich-kaempfe-gegen-den-krebs-1.1614975

4 https://m-reich-ranicki.de