Ich musste an eine Szene aus dem Film Der letzte Zeuge/Witness von 1985 über einen 8-jährigen Amisch-Jungen denken, der in die moderne Welt hi- neingeworfen wird, nachdem er Zeuge eines Mordes geworden ist. In dieser Szene befindet sich der kleine Junge mit seinem Vater, der traditionelle schwarze Amisch-Kleidung trägt, auf einer öffentlichen Toilette. Während das Kind die verwirrte Menge fremder Menschen betrachtet, sieht es einen ultraorthodoxen – also charedischen – Juden in seinem schwarzen, strengen religiösen Gewand. Der kleine Junge versucht, diesen fremden Mann einzuordnen und herauszufinden, wie er in das Schema der Dinge „passt“.
Damals hiess es, die äusserliche Ähnlichkeit sei eine Illusion und es gebe einen wirklichen Unterschied in der Substanz. Die Analogie berücksichtigt jedoch nicht die inneren Erfahrungen des Amisch-Jungen und dieser religiösen Juden. Beide Gruppen – Amische und Jüdinnen/Juden – haben sehr unterschiedliche innere Welten, die reich, tief und komplex sind. Ihr unterschiedliches historisches Erbe beeinflusst die Fantasien und Emotionen, welche die bewussten Gedanken und Weltbilder – auch bei jedem Einzelnen – mit der inneren Sicht auf das sich entwickelnde individuelle Selbstbewusstsein verbinden.
Die Psychologinnen und Psychologen lehren uns, dass Kinder dazu neigen, „zwischen den Zeilen zu lesen“, wenn sie anfangen, Kontakt mit der Welt jenseits ihrer Mutter und der Familie zu haben. Wenn sie in die Häuser anderer Leute gehen, fragen sie sich: Was ist hier wirklich los? Wie ähnlich oder anders ist dieser Ort von meinem? Wie werden diese anderen Kinder behandelt – wie ich, oder anders? Es gibt eine Vielzahl von unausgesprochenen Fragen, die sich ergeben, wenn ein Kind die fremde Umgebung wie ein Schwamm aufnimmt, um die Welt zu begreifen und sich darin sicher zu fühlen.
Gerade jetzt, da wir alle die weltweite Coronavirus-Pandemie erleben, ist dieses „Lesen zwischen den Zeilen“ in den Köpfen der Kinder der Charedim in Jerusalem, insbesondere in B’nai Brak und vielen anderen Charedi-Enklaven in Israel, in Umlauf und wühlt sie auf. Diese jungen Köpfe begegnen auf tragische Weise dem Trauma des Coronavirus oder dem sogenannten „Charedi-Hurrikan Katrina“. In der Tat haben diese Kinder möglicherweise bereits ihre Eltern über Kinder ihrer jüdischen Verwandten in New York City sprechen gehört – Kinder, die um ihre Eltern trauern, wie auf ultraorthodoxen Websites berichtet wird. Viele Fachdiskussionen darüber, wie sich die Gemeinschaften der Charedim in Amerika und Israel durch diese Erfahrung verändern werden, konzentrierten sich in der Regel auf drei Bereiche: Technologie, Gehorsam gegenüber den Rabbinern und Wirtschaft bzw. Arbeitsmarkt. Die Times of Israel schreibt:
„Die wirkliche Wirkung des Virus kann stückweise im Laufe der Zeit und als Teil eines umfassenderen Wandels in der Kultur der Charedim eintreten. Es ist kein Erdbeben, aber könnte es ein Wendepunkt sein?“
Soldatinnen und Soldaten des Heimatfrontkommandos der Israelischen Streitkräfte verteilen in einem ultraorthodoxen Stadtteil Jerusalems vor dem Beginn des Pessach-Fests am 7. April 2020 Essenspakete an ältere Bewohnerinnen und Bewohner, die wegen der Corona-Pandemie zuhause bleiben mussten. Foto: Olivier Fitoussi/Flash90, mit freundlicher Genehmigung N. Hartevelt Kobrin.
Eine solche Krise ist zumindest für jedes Kind in der Tat ein psychologisches Erdbeben. Könnten sich solche Kinder als Coronavirus-Überlebende bezeichnen, ähnlich wie sich die Kinder der Holocaust-Überlebenden als Erste, Zweite und Dritte Generation bezeichnen? Dies ist sehr gut möglich. Darüber hinaus und ironischerweise gehören viele von ihnen gerade den Holocaust-Generationen an, da die Charedim während des Zweiten Weltkrieges zusammen mit ihren Jeschiwot, den Studienhäusern, fast ausgelöscht wurden. Während viele von ihnen zweifellos die psychologischen Folgen und die Re-Traumatisierung durch die Auswirkungen des Coronavirus auf ihre engmaschigen Gemeinschaften leider erleben werden, gibt es eine positive Möglichkeit für Veränderungen, die bisher nicht erwähnt wurde. Meines Wissens hat niemand die Auswirkungen der Anwesenheit von Mitgliedern der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) erwähnt, die wenigstens einen flüchtigen persönlichen Kontakt mit der Gemeinde und ihren Kindern haben. So hat die Aussenwelt unter den Bedingungen der Coronavirus-Epidemie dorthin unmittelbar Einlass gefunden. Die Schleusen scheinen sich zu öffnen.
Als Psychoanalytikerin habe ich keinen Zweifel daran, dass charedische Kinder versuchen, herauszubekommen, was vor sich geht, während sie alles, was sie sehen, hören und fühlen, verarbeiten. Ultraorthodoxe Kinder, von denen viele unterhalb der Armutsgrenze und in überfüllten Vierteln leben, haben gelernt, IDF-Soldatinnen und Soldaten Nazis zu nennen. Unwissenheit und Angst der Erwachsenen wurden an die Generation der Kinder weitergegeben. Plötzlich sehen die Jungen und Mädchen die israelischen Armeeangehörigen jedoch in einem neuen Licht, als potenzielle Helfer, die ihnen Nahrung, Vorräte und Hilfe für die Kranken in ihren Familien bringen. Ihre Weltanschauung erfährt dabei sicherlich eine tiefgreifende Veränderung.
Wenn ein Kind unterhalb der Armutsgrenze lebt und kein Recht auf ein Kern-Curriculum erhält, welches es für die moderne Welt ausbilden würde, hat es viele ungedeckte psychologische Bedürfnisse. Aus diesem Grund helfen die israelischen Soldaten diesen Kindern – wenn auch ohne spezielle Absicht –, die Ängste, die um sie herum bestehen, zu beschwichtigen und die besonderen Sorgen abzumildern, die sie durch die Augen ihrer Eltern aufnehmen und die sie auf dem unausgesprochenen emotionalen Terrain der Familie und der Nachbarschaft spüren. Naftali Moster hat im Rahmen seiner unermüdlichen Arbeit in der Organisation Yaffed in New York auf einen modernen Lehrplan für die Charedim bestanden.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Galina Hristeva
Teil II dieses Beitrags lesen Sie in der kommenden Ausgabe des DAVID, Rosch Haschanah 5781/September 2020.
Zur Autorin: Nancy Hartevelt Kobrin ist eine weltbekannte Terrorismusbekämpfungsexpertin und Autorin. Sie besitzt einen Doktortitel in islamischer Literatur und als Psychoanalytikerin, die sich auf die frühkindliche Entwicklung und die Geist- und Körpersprache des Dschihad spezialisiert hat, widmet sie sich der Terrorismusbekämpfung. Sie ist Absolventin des Chicago Institute of Psychoanalysis und Trauma-Expertin, hat in Minneapolis unterrichtet und dort in ihrer Privatpraxis Psychiatriepatientinnen und -patienten betreut. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde sie von der US-Armee wegen ihrer Untersuchungen über den Dschihadismus kontaktiert und vom Militär und den Strafverfolgungsbehörden eingeladen, Vorträge über den radikalen Islam zu halten sowie Gefängnisinterviews mit Somalis in Minnesota durchzuführen. Sie ist Absolventin des Human Terrain Program in Leavenworth, Kansas, das der US-Armee angeschlossen ist. 2010 wanderte sie nach Israel aus. Nancy Hartevelt Kobrin wurde als externe Expertin in Sachen Dschihadismus an die Universidad de Granada berufen. Sie ist ausserdem Senior Analystin am Think Tank Islamic Theology of Counter Terrorism in London. Von ihr stammen folgende Bücher: Die Banalität des Selbstmord-Terrorismus (auch auf Hebräisch), Das Eindringen in die terroristische Psyche, Das Mutterdrama des tschetschenischen Dschihad, Das Dschihad-Wörterbuch: Das wesentliche Werkzeug für Militär, Strafverfolgung, Regierung und die betroffene Öffentlichkeit (französische Übersetzung in Bearbeitung) und Kulturterrorismus: Die Auslöschung des Kulturobjekts. Sie wirkt als Autorin auch bei ACWR (America‘s Civil War Rising) mit.
1 http://www.middleisrael.net/_ultra_orthodox_katrina_10_apr_20_/
2 https://www.timesofisrael.com/more-basic-than-a-crisis-of-faith-will-the-virus-upend-ultra-orthodox-society/
3 vgl. https://en.idi.org.il/articles/31256
4 https://www.timesofisrael.com/more-basic-than-a-crisis-of-faith-will-the-virus-upend-ultra-orthodox-society/
5 https://www.yaffed.org