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Erinnerungen an das legendäre Odessa

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Vladimir Jabotinsky: Die Fünf

Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Lyrik übertragen von Jekatherina Lebedewa

Die Andere Bibliothek: Berlin 2012

277 Seiten, Euro 36,00

ISBN-978-3847703365

Es sind zwei höchst liebevolle Porträts, die Vladimir Jabotinsky in seinem 1936 in Paris erschienenen Roman zeichnet: von Odessa einer-, von der jüdischen Familie Milgrom andererseits. Wie in einer griechischen Tragödie - laut einer beliebten Interpretation geht der Stadtname Odessa auf eine antike griechische Siedlung zurück - steuert die Geschichte beider unaufhaltsam auf das bittere Ende zu: den Verfall. Doch, wie eine Romanfigur meint: „Zeiten des Verfalls sind manchmal die glanzvollsten".

„Die Fünf" ist denn auch ein mit grosser Sympathie geschriebener Abgesang auf das alte Odessa, in dem um 1900 ungefähr ein Drittel aller Einwohner jüdisch war. Am Schwarzen Meer gelegen, war Odessa multikulturell und multireligiös, weltoffen und tolerant, und es genoss ein für Russland ungewöhnlich hohes Mass an Freiheit - „damals war Odessa noch eine Königin". Dennoch mag Jabotinsky die „gute, alte Zeit" mitunter verklärt haben: Leicht war das Leben für Minderheiten im zaristischen Russland beileibe nicht. - Noch heute ist die Stadt berühmt für die prachtvolle Deribasovskaya-Strasse, die Potemkinsche Treppe mit ihren 192 zum Meer führenden Stufen und für den (gescheiterten) Aufstand der Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin 1905 gegen ihre zaristischen Offiziere, den Jabotinsky in die Rahmenhandlung einbaut. Geboren in Odessa, war Jabotinsky (1880-1940) Schriftsteller und zionistisch-revisionistischer, auch in Palästina tätiger Politiker, der die jüdische Selbstverteidigung propagierte.

So schillernd wie das Schicksal Odessas ist jenes der fiktiven Familie Milgrom Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen Antisemitismus, aufkeimenden Kommunismus und zaristischer Repression. Fünf Kinder - Marussja, Serjosha, Marko, Lika and Torik - hat das Ehepaar Milgrom, und alle haben einen einzigartigen Charakter. Dennoch gilt von den Fünf Marussja und Serjosha die ungeteilte Sympathie des Ich-Erzählers, der, mittlerweile Schriftsteller geworden, sich an seine Jugendzeit in Odessa erinnert, als er ein talentierter Feuilleton-Redakteur einer lokalen Tageszeitung war.

Die libertäre Marussja, eine strahlende junge Schönheit, sammelt um sich „Passagiere", einen Kreis junger, meist jüdischer Intellektueller und Künstler, die sich im Hause Milgrom regelmässig zu einem regen Gedankenaustausch treffen. So manchem bricht Marussja das Herz. Dass sie schliesslich eine eher unscheinbare Nebenfigur heiratet, ist jedoch schlüssig und konsequent. Ihr Bruder Serjosha ist eine ebenso einprägsame Persönlichkeit: Hochintelligent und mit zahlreichen Talenten begnadet, weiss der charmante Shlemihl doch nicht so recht, in welche konstruktiven Bahnen er seine Energien lenken soll. Seinen kleinkriminellen Machenschaften geht er nicht aus Bosheit oder Geldgier nach, sondern, so gewinnt man den Eindruck, schlicht aus Überdruss und Langeweile. Zum Verhängnis wird ihm letztlich eine für die damalige Zeit unerhörte Dreiecksaffäre mit einer verheirateten Mutter - und ihrer Tochter.

Ohne zu viel zu verraten: Das Ende von zumindest vier Milgrom-Kindern ist tragisch. Ihr Schicksal nimmt damit den weiteren Verlauf der Geschichte der Juden wie jener Odessas vorweg. Verwunderlich an „Die Fünf" ist nur, warum die Milgroms, Eltern wie Kinder, dermassen grossen Gefallen am Ich-Erzähler finden, den sich der Leser zwar als einfühlsamen Gesprächspartner, sonst aber wenig charismatisch vorzustellen vermag. Insbesondere sein asexuelles Verhalten der schönen Marussja gegenüber wirkt heute befremdlich.

Der Anderen Bibliothek ist es hoch anzurechnen, einen verschollenen literarischen und historischen Schatz erstmals auf Deutsch und in der bekannt hochwertigen bibliophilen Ausstattung (z.B. mit Odessa-Stadtkarten aus dem Jahr 1921 auf den Vor- und Nachsatzpapieren) aufgelegt zu haben.