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Brody. Eine Stadt im Spannungsfeld zwischen ukrainischer Gegenwart und jüdisch-österreichischer Vergangenheit

Börries KUZMANY

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Das rund hundert Kilometer nordöstlich von Lemberg gelegene Brody ist viel mehr als eine westukrainische Kleinstadt mit 24.000 Einwohnern. Brody ist ein zentraler Erinnerungsort der österreichischen und jüdischen Geschichte.

Wir stolpern mit Andrij über die denkmalgeschützten, aber nichtsdestoweniger einsturzgefährdeten Befestigungsanlagen rund um das Brodyer Stadtschloss aus dem 17. Jahrhundert. Während des Chmelnyzkyj-Aufstands des Jahres 1648 dienten sie der lokalen polnischen, jüdischen, armenischen und ruthenischen Stadtbevölkerung als letzter Zufluchtsort vor den revoltierenden Bauern aus der Zentralukraine. Nachdem die Habsburger die Stadt gemeinsam mit dem restlichen Galizien im Zuge der Ersten Teilung Polens annektiert hatten, fungierten die Kasematten in erster Linie als Warenlager der international agierenden Brodyer Grosshändler. Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs dienten sie immer wieder als Unterbringungsort unliebsamer Gefangener - einige Juden wurden von den Nazis direkt auf dem Schlossvorplatz ermordet. In der Sowjetzeit war es Teil eines grösseren Militärkomplexes und somit absolutes Sperrgebiet. Heute verfallen die von Gras überwachsenen Gewölbe der Festungsanlage weiter und dienen Jugendlichen für ausgelassene Partys, wovon Bierflaschen, leere Chips-Packerl und wilde Graffiti, wie Hitler = Stalin = Ratte, zeugen.

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Ruine der Festungssynagoge in Brody heute. Foto: Börries Kuzmany

Andrij ist Geschichtelehrer am örtlichen Gymnasium, das eine lange Geschichte hat. Es wurde vor beinahe 200 Jahren als Israelitische Realschule gegründet, in den 1860er Jahren in ein vollwertiges Gymnasium umgewandelt und erhielt 1883 ein Schulgebäude, das so typisch für die Architektur habsburgischer Verwaltungsgebäude ist, dass es wohl an jedem beliebigen Ort Österreich-Ungarns hätte stehen können. An diesem Kronprinz-Rudolf-Gymnasium maturierte übrigens 1913 Joseph Roth mit Auszeichnung, kurz bevor es in eine polnische und schliesslich 1939 in eine ukrainischsprachige Schule umgewandelt wurde. Heute werden hier rund 500 Schüler von 60 Lehrern unterrichtet. Geschichtelehrer gibt es vier, aber eine volle Lehrverpflichtung zu bekommen ist in der heutigen Ukraine gar nicht so leicht. Zwar ist das Monatsgehalt mit 170 Euro ganz und gar nicht attraktiv - als vierköpfige Familie braucht man ungefähr dreimal so viel -, aber so viele andere Verdienstmöglichkeiten gibt es in Brody eben nicht. Nichtsdestoweniger seien gute Lehrer schwierig zu finden, die gingen lieber weg, vor allem Lehrer für Fremdsprachen wie Deutsch, auf das man an diesem Gymnasium neben dem Englischen immer noch grossen Wert legt. Andrij hält sich daher mit zusätzlichen Fächern wie Landeskunde oder der Geschichte Galiziens über Wasser. Ausserdem betreut er für ein Taschengeld von zehn Euro pro Monat das kleine Schulmuseum, das die Erinnerung an die wechselvolle Geschichte der Schule und bekannte Absolventen hochhält.

Das offizielle Gedächtnis der Stadt befindet sich im Brodyer Regionalmuseum, das zum 900-Jahrjubiläum der ersten Erwähnung der Stadt 1984 gegründet wurde. Ob die Unterbringung in einem zutiefst österreichisch-habsburgischen Gebäude, nämlich der ehemaligen k.k. Statthalterei, den sowjetischen Behörden bewusst war, sei dahingestellt. Die 150-jährige Periode der österreichischen Herrschaft ist jedenfalls sehr klassenkämpferisch und ablehnend geschildert. Der Museumsdirektor Wasyl Striltschuk versicherte zwar, dass das nicht unbedingt der heutigen Einschätzung dieser Zeit entspräche, doch habe man schlicht und einfach keine Zeit und vor allem kein Geld für eine Adaptierung der Ausstellung. Die eindeutige Priorität der Museumsleitung lag nämlich bei der raschen Umgestaltung der Schauräume zum Zweiten Weltkrieg, wo das sowjetische gegen ein nationalukrainisches, teilweise nationalistisches Narrativ ausgetauscht wurde.

Die rund 3.000 jährlichen Besucher des Museums sind überwiegend Schüler der Stadt und der Umgebung, in- und ausländische Touristen verirren sich eher selten hierher. Dabei bietet Brody durchaus einiges für Reisende, neben dem Stadtschloss mit seinen abenteuerlichen Kasematten weiters die alte griechisch-katholische Mariä-Geburts-Kirche und nicht zuletzt die beeindruckende Ruine der Brodyer Festungssynagoge mitten im Stadtzentrum, die von der einstigen Bedeutung der hiesigen jüdischen Gemeinde zeugt.

Brody - eine jüdische Grossstadt

Brody war mit über zwei Dritteln jüdischer Einwohner nicht nur Österreich-Ungarns prozentuell gesehenjüdischste Stadt, es strahlte als Zentrum der traditionellen rabbinischen Gelehrsamkeit und als Sprungbrett für die jüdische Aufklärung nach Osteuropa weit über die Grenzen Galiziens aus. Wenn Joseph Roth Brody gerne als Vorlage und Inbegriff seiner Schtetl-Beschreibungen verwendete, so passt dieses Bild eigentlich gar nicht zu dieser jüdischen „Grossstadt" mit seiner ökonomisch, politisch und gesellschaftlich bestens vernetzten jüdischen Oberschicht. Sehr früh (um 1800) befürwortete Brodys jüdische Elite eine deutschsprachige weltliche Erziehung, und erst sehr spät (um 1900) fügte man sich der Polonisierung des öffentlichen Lebens - ein Weg, den andere jüdisch geprägte Städte Galiziens bereits Jahrzehnte früher gegangen waren.

Das Ende dieser selbstbewussten jüdischen Gemeinde brachte schliesslich der Zweite Weltkrieg. Von den 1941 beim Einmarsch der Wehrmacht in Brody lebenden 9.000 Juden überlebten nur knapp 200 die Schoa in Verstecken oder bei den Partisanen in den umliegenden Wäldern. Zirka 7.000 jüdische Einwohner wurden etappenweise in die Vernichtungslager Belzec und Majdanek deportiert, die übrigen vor Ort oder am Waldrand hinter dem jüdischen Friedhof erschossen, woran ein 1994 errichtetes Mahnmal erinnert.

Die meisten Ausländer, die es heute nach Brody verschlägt, befinden sich auf Spurensuche nach dem jüdischen Erbe, das aus persönlichen Erinnerungen, aber auch von Autoren wie Joseph Roth, Scholem Alejchem oder Samuel Agnon gespeist wird. Genauso wie die zerstörte Synagoge bezeugt auch der riesige verwilderte jüdische Friedhof den Bruch, den das 20. Jahrhundert in der Geschichte dieser Stadt bedeutet. Denn nicht nur die Juden sind aus der Stadt verschwunden. Nachdem Brody 1945 endgültig an die Sowjetunion fiel, wurde die polnische Bevölkerung vertrieben und echte und vermeintliche ukrainische Kollaborateure nach Sibirien deportiert.

Brody war also bei Kriegsende eine grossteils entvölkerte Stadt, in die erst durch den Zuzug ukrainischer Bauern aus dem Umland langsam wieder Leben kam. Einige Industriebetriebe wurden in der Stadt angesiedelt, der Südstrang der Erdölleitung Druschba (Freundschaft) wurde hier verlegt, und ausserdem wurde Brody ein Luftwaffenstützpunkt der Roten Armee. In den 1970er Jahren wurden schliesslich die Sümpfe in und um die Stadt trockengelegt, weitere Wohnblöcke errichtet, und die Aufstellung eines Lenin-Denkmals machte Brody zu einer typischen sowjetischen Kleinstadt.

Die Unabhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991 veränderte Brody grundlegend. Die sowjetischen Strassennamen wurden ersetzt, Lenin demontiert und dafür ein Denkmal für die Opfer der bolschewistischen Repression errichtet. Auch die bis dahin als Lagerhallen dienenden Kirchen wurden wieder geöffnet, nur die Synagogenruine verfällt weiter, weil es in Brody keinen einzigen Juden mehr gibt. Politisch hat sich Brody gänzlich von der ehemaligen Sowjetunion abgewandt und stand bei den Präsidentenwahlen 2004 und 2010 jeweils fest im orangen Lager. Dem Trend in der gesamten Westukraine folgend kam es auch in Brody bei den Gemeinderats- und Regionalwahlen letztes Jahr zu einem massiven Rechtsruck. Zwar ist der Bürgermeister eher dem national-liberalen Lager zuzurechnen, die nationalistische Vereinigung Swoboda (Freiheit) stellt aber 16 der 36 Gemeinderäte.

Unterschiedliche Erinnerungskulturen

Wie steht es also nun mit dem Verhältnis zwischen dem historischen, belletristischen und aktuellen Brody? Man kann sich auch heute mit der Stadtbeschreibung in Joseph Roths Radetzkymarsch vom Brodyer Bahnhof ins Stadtzentrum aufmachen, die Goldgasse entlang gehen und wird einige der genannten Gebäude identifizieren können. Vieles wird eine Leerstelle bleiben - etwa der einstige Ringplatz, der im Sommer 1944 bei den schweren Gefechten zwischen der Roten Armee und der deutschen Wehrmacht und der mit Letzterer verbündeten ukrainischen Kollaborationseinheit SS-Galizien gänzlich zerstört wurde. Genauso kann man sich an die Stelle des ehemaligen Grenzübergangs zwischen Österreich und Russland begeben - ein Ort, an dem einem nolens volens Gedanken und Bilder über das zeit-räumliche Ende Kakaniens kommen. Finden wird man dort jedoch nur ein Strassenschild, das eine innerukrainische Verwaltungsgrenze markiert. Die Erinnerung an die einstige Staatsgrenze steht im kollektiven Gedächtnis der heute territorial geeinten Ukraine nicht im Vordergrund.

Erinnerung ist in Brody überhaupt eine schwierige Sache. Hier gibt es zwar nicht den Wettstreit zwischen nationalukrainischem und (post)sowjetischen Geschichtsnarrativ, der die heutige Ukraine politisch so tief spaltet. Letzteres spielt hier kaum eine Rolle. Aber es sind die unterschiedlichen Erinnerungen von Ukrainern, Polen, Österreichern und ehemals jüdischen Einwohnern der Stadt, die hier aufeinander treffen. Jede Gruppe erzählt ihre eigene Geschichte und interessiert sich für ihre eigenen Gedächtnisorte, und manchmal hat man das Gefühl, sie sprächen von ganz unterschiedlichen Städten. Habsburg-Nostalgiker werden im heutigen Brody wahrscheinlich enttäuscht werden, Spurensucher, Abenteurer und Neugierige hingegen eine spannende Reise erleben.

Der Autor, ein Historiker und Slawist, ist Verfasser von „Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert" (Böhlau-Verlag 2011).