Senarclens de Grancy, Antje / Zettelbauer, Heidrun (Hg.): Architektur. Vergessen. Jüdische Architekten in Graz. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2011
300 S., Euro 29,90
ISBN-13: 978-3-205-78472-2
Vordergründig scheint dieses Buch regional begrenzt - auf vier jüdische Architekten im steirischen Graz. Doch der differenzierte Umgang mit dem Thema setzt Massstäbe für den gesamten deutschsprachigen Raum.
9. November 1963: Die Israelitische Kultusgemeinde enthüllt in Graz eine Gedenktafel. Ein Viertel Jahrhundert ist es her, dass der Novemberpogrom hier wütete, die Synagoge brannte. Trauern muss die Gruppe alleine. Vertreter der Stadt sind nicht gekommen. Zehn Jahre später: Die Festschrift zum 850-jährigen Bestehen von Graz geht in Druck. Jüdische Facetten? Erneut Fehlanzeige. - 9. November 1988: Endlich gedenkt die Stadt Graz der Zerstörung „ihrer" Synagoge. Doch geladen hatte nicht die Kriegsgeneration. Es waren ihre Enkel.
Jede Gesellschaft pickt sich aus der Geschichte, „was ihren gegenwärtigen Erinnerungsbedürfnissen" entspricht, schreibt die Historikerin Heidemarie Uhl im Band „Architektur. Vergessen. Jüdische Architekten in Graz". Wie schnell eine Gesellschaft vergisst, verdrängt, zerstört und dass historische Katastrophen in der Regel erst Dekaden später aufgearbeitet werden - und zwar von Unbeteiligten - bestätigt das Buch eindringlich: Es nimmt fünf imposante Grazer Bauwerke der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts unter die Lupe - das alte Arbeitsamt, das Margaretenbad, die Stadtrandsiedlung Amselgasse, die jüdische Zeremonienhalle und das Kinderheim Lend. Ihr eigentliches Bindeglied erschliesst sich erst auf den zweiten Blick: Alle Bauten wurden von Architekten jüdischer Herkunft errichtet. Und alle Bauten sind inzwischen zerstört, partiell oder komplett, die Namen ihrer Erbauer längst verdrängt: Eugen Székely (*1894, gest. 1962 in Haifa), Alexander Zerkowitz (*1860, gest. 1927 in Graz), Bruno Zerkowitz (*1889, gest. 1942 im KZ Jasenovac/heute Kroatien) und Franz Schacherl (*1895, gest. 1943 in Luanda/Angola). Dieser fatalen Doppeltilgung kontern die 15 AutorInnen des Bandes mit einer, nicht bloss seitens der Nachkriegswissenschaft ungern gestellten Frage: Wieso vernichtet eine Gesellschaft ihre Bauwerke, warum löscht sie die Namen ihrer Erbauer aus dem Gedächtnis? Und weshalb überlässt sie das Erinnern, das Gedenken, bestenfalls ihren NachfahrInnen?
Schmerzlich deutlich stellen die in Graz beheimateten Herausgeberinnen des Bandes, die Kunsthistorikerin Antje Senarclens de Grancy (*1964) und die Historikerin Heidrun Zettelbauer (*1972) heraus, dass viele NachkriegsgrazerInnen zunächst überhaupt nicht gedenken wollten. Und wenn, dann eher der NS-TäterInnen: Die „fassungslose Trauer" der wenigen Überlebenden, schreibt der Historiker Dieter A. Binder in dem 300-Seiten-Band, sei unter dem Panzer der „lautstarke(n) Wehleidigkeit" steirischer NS-Delinquenten begraben worden. Der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zusehends brutaler geratende Antisemitismus habe blessurenlos fortbestanden. In der Steiermark hatte das Jahr 1945 „keine Stunde Null" schliesst Binder.
„Wissen heisst Verantwortung übernehmen", zitiert der Band den Künstler Jochen Gerz. Und natürlich gaben sich nach Kriegsende nicht bloss GrazerInnen hanebüchen unwissend, möchte man ergänzen. Bekanntlich wollte das Gros der ÖsterreicherInnen und der Deutschen damals möglichst wenig hören. Von Millionen Toten. Von Schuld. Vom Wegsehen. Vom Mitlaufen. Auch die deutsche Kunstwissenschaft blies überwiegend ins gleiche Horn, gerierte sich quälend lange ähnlich täterfixiert. Wenngleich unter anderen Vorzeichen, produzierte sie gern Texte zu Hitlers Lieblingskünstlern, zu Albert Speer, zu Arno Breker. Zu dem einst vielgerühmten deutsch-jüdischen Architekten Erich Mendelsohn aber schwieg sie. Kein Wort über den frühen KZ-Tod der gefeierten Starfotografin Yva, zu Mark Rothkos Schoa-Reflexionen.
Im 21. Jahrhundert scheint alles anders: Die sog. Tätergeneration ist nahezu ausgestorben. Das Gedächtnis hat Konjunktur (Pierre Nora). Längst strahlt in Graz eine nagelneue Synagoge und schuf die Kunstwissenschaft dicke Wälzer zu jüdischen KünstlerInnen beinahe jeder Sparte. Allerdings findet sich der unglückliche Stempel „jüdische KünstlerInnen" noch immer selten so differenziert konturiert wie bei „Architektur. Vergessen". Obendrein überzeugt der Band, weil er seine LeserInnen der wohlfeilen Illusion beraubt, sie seien in puncto Vergangenheitsbewältigung der sog. Tätergeneration überlegen. Denn noch immer zerstören wir, was wir nicht wissen wollen, wollen wir nicht wissen, was wir zerstören. Das von Heidemarie Uhl zitierte, beinahe sang- und klanglose Verschwinden des Berliner Palastes der Republik bildet dafür lediglich das prominenteste Beispiel.