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Die syrisch-orthodoxe Gemeinde in Österreich und der Konflikt in Syrien

Alfred GERSTL

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Kaum jemand kann die aktuelle Situation in Syrien so gut beurteilen wie Chorepiskopos Prof.Dr. Emanuel Aydin, der Erzpriester und Gründer der syrisch-orthodoxen Kirche in Österreich. DAVID nutzte die Gelegenheit eines ausführlichen Interviews, um mit ihm über weitere, viel erfreulichere Themen zu sprechen: über das rege Alltagsleben der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Österreich, ihre erfolgreiche gesellschaftliche Integration und ihr Verhältnis zum Judentum.

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Chorepiskopos Prof. Dr. Emanuel Aydin, der Gründer der syrisch-orthodoxen Kirche in Österreich. Foto: Alfred Gerstl

Die altorientalische syrisch-orthodoxe Kirche pflegt eine traditionelle Liturgie und eine alte Sprache - aramäisch, die Sprache Jesus Christus´. Seit 1974 steht Chorepiskopos (Chorbischof) Emanuel Aydin der von ihm aufgebauten syrisch-orthodoxen Gemeinde in Österreich - der ersten in Mitteleuropa - vor. Sein religiöses Bewusstsein wurde dem am 16. Mai 1947 in Midiat in der Südosttürkei geborenen Aydin in die Wiege gelegt: Bereits sein Vater war Chorepiskopos und insgesamt 60 Jahre lang als Seelsorger aktiv, vor allem in Skandinavien, wo er als Patriarchsvikar für Skandinavien und England für insgesamt 40 Pfarreien verantwortlich war. Allein in Skandinavien leben heute knapp 100.000 syrisch-orthodoxe Christen.

Emanuel Aydin wuchs in der Türkei auf und studierte ab 1969 auf Empfehlung des ökumenischen Patriarchen Athenagoras in Wien, wo er Deutsch lernte, Theologie, Religionsgeschichte, Kirchen- und Zivilrecht. Seine Studien vertiefte er in Rom an der Lateran-Universität. Neben einem Magistertitel in Theologie hat er einen Doktortitel in Recht. Aydin wurde im Dezember 1973 in Libanon geweiht und 1974 nach Österreich entsandt, um hier die erste syrisch-orthodoxe Gemeinde in Mitteleuropa aufzubauen. Gleichzeitig wirkte Aydin als Gesandter des Patriarchats von Antiochien in Österreich und der Schweiz und beteiligte sich am Aufbau der Diözese in Mitteleuropa.

Speziell die Gemeinde in Wien - die Pfarrgemeinde St. Ephrem ist in der Lainzer Strasse 154 im 13. Gemeindebezirk beheimatet - ist seit den 1970er Jahren durch natürliche Bevölkerungszunahme wie Zuwanderung, sowohl von Flüchtlingen und Studenten als auch durch Familienzusammenführung, kontinuierlich angewachsen. Die römisch-katholische Kirche unterstützte die Syrisch-Orthodoxen stark, beispielsweise stellte sie ihnen die alte Lainzer Kirche zur Heiligen Dreifaltigkeit zur Verfügung, die heutige St. Ephrem-Kirche.

Von Anfang an bestach Chorepiskopos Aydin durch sein seelsorgerisches und soziales Engagement. Peter Mallat hebt unter seinen vielfältigen Tätigkeiten hervor: das Abhalten von Taufen, Konversionen und Begräbnissen, die Betreuung von Alten, Alleinstehenden und Kranken, von Flüchtlingen sowie von neu in Österreich Studierenden, Telefonseelsorge, Beratung von Ehepaaren und Eltern, von Arbeits- und Wohnungssuchenden und die Übernahme der Rechtsvertretung in verschiedenen Angelegenheiten. Aydin übt seine Tätigkeit in ganz Österreich aus, er reist jedes Jahr also viele tausende Kilometer, auch weil es in orientalischen Kirchen Brauch ist, jedes Gemeindemitglied zwei Mal im Jahr daheim zu besuchen.

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„Unsere jüdischen Brüder"

Die syrisch-orthodoxen Christen nahmen im ersten nachchristlichen Jahrhundert in Antiochien ihre Religion an. Die Region zeichnete sich schon damals durch ein buntes Völkergemisch aus - seien es Juden, Aramäer oder Griechen, die mit Alexander dem Grossen gekommen waren. Entsprechend wurzeln viele religiöse und soziale Traditionen der syrisch-orthodoxen Gemeinde im Judentum. Noch heute werden, wie Chorepiskopos Aydin betont, im Gottesdienst das Alte Testament und Psalmen prominent aufgegriffen. Juden tituliert er als Brüder. In Jerusalem (Sankt Markus Kirche) und in Bethlehem gibt es eine syrisch-orthodoxe Gemeinde mit je eigenem Bischof, genauso in Jordanien und Libanon.

Seit den 1970er Jahren engagiert sich der erste Seelsorger der syrisch-orthodoxen Kirche in Österreich und Sprecher der orientalisch-orthodoxen Kirchengemeinschaft - er repräsentiert die syrisch-orthodoxe, koptisch-orthodoxe, armenisch-apostolische, indische und äthiopisch-orthodoxe Gemeinschaft - stark in der Ökumene. Er unterhielt eine herzliche Beziehung mit Franz Kardinal König. Auch mit Kardinal Schönborn, den er sehr schätze, und anderen Mitbrüdern der staatlich anerkannten Kirchen hat er gute Kontakte. Sehr herzliche Begegnungen hat er auch mit jüdischen Vertretern. Beispielsweise hielt bereits Mitte der 1970er Jahre der damalige IKG-Präsident Dr. Anton Pick eine Rede in der Wiener syrisch-orthodoxen Kirche. Beim Dialog mit Muslimen sieht er in deren Absolutheitsanspruch ein grosses Gesprächshindernis. Dennoch hat er in den kulturellen und sozialen Belangen eine starke Dialogbasis geschaffen.

Aydin ist nicht nur Chorepiskopos und Religionsgelehrter, sondern auch Schriftsteller, Jurist - und Chauffeur, wenn es darum geht, Mitglieder seiner Gemeinde bei Behördengängen zu unterstützen. Er gibt eine Schriftenreihe, betitelt „Suryoye" („Syrer"), heraus, die über syrisch-orthodoxe Gemeinde und Religion informiert. Zudem spricht er mehrere Sprachen perfekt, darunter Aramäisch, die seine Eltern sprachen und in der er sich heute mit seiner Familie unterhält. In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Grossen Goldenen Ehrenzeichens der Republik Österreich fand der katholische Theologe Dr. Johann Grossruck eine treffende Beschreibung von Chorepiskopos Aydin: „(N)icht die Weihe alleine, sondern Ihre Persönlichkeit prädestiniert Sie als Theologen, Kirchenrechtler, Jurist, Pädagogen, Schriftsteller und Diplomat."

Interview mit Chorepiskopos Aydin

 

DAVID: Herr Chorepiskopos Aydin, Sie kamen 1974 nach Wien. In den letzten 40 Jahren hat Ihre Gemeinde stark zugenommen. Wie hat sich das Gemeindeleben in dieser Zeitspanne entwickelt?

Chorepiskopos Aydin: In den 1960er Jahren lebten ungefähr 30 syrisch-orthodoxe Familien in Österreich, die als Gastarbeiter gekommen waren. In den 1970er und 1980er Jahren wuchs die Gemeinde stark an, es kamen Asylanten, zuerst aus der Türkei und dem Libanon, dann dem Irak, aber auch die Familienzusammenführungen und Zuwanderung von Studenten waren bedeutsame Faktoren. Heute zählt die Wiener syrisch-orthodoxe Gemeinde circa 600 Familien, von denen viele bereits der dritten Generation angehören und 70% aramäisch-sprachig sind. Österreichweit haben wir ungefähr 5000 Mitglieder, die in drei Gemeinden organisiert sind. Weitere besonders rege Zentren sind Linz, Steyr, St. Pölten, Tulln und Ebreichsdorf. Wir feiern unsere kirchlichen Festtage, haben monatliche Musik- und Folkloreabende, viele speziell für die Jugend, sowie kulturelle Veranstaltungen und Vorträge.

 

Wie gut sind die Mitglieder Ihrer Gemeinschaft in die österreichische Gesellschaft integriert?

Sehr, sehr gut. 99 Prozent haben die österreichische Staatsbürgerschaft. Wir lieben Österreich nicht weniger als die Österreicher. Die Gemeindemitglieder sind auch beruflich gut integriert: Viele sind Handwerker, Schneider, Goldschmiede, Tischler oder in der Gastronomie tätig. Die meisten üben also angestammte Berufe aus, die sie oder ihre Vorfahren bereits im Nahen Osten hatten. Unsere Mitglieder sind sehr fleissig, dank ihren Ersparnissen haben sich viele eigene Häuser gebaut; derzeit zählen wir 250 Familienhäuser. Dank ihres Wohlstandes und ihrer Hilfsbereitschaft unterstützen sie auch ihre Eltern und Arme in den Heimatländern. Die Kinder bringen sehr gute Noten aus der Schule nach Hause, und wir haben über 200 Studenten und Akademiker.

 

Wie wichtig sind der Religions- und Aramäisch-Unterricht für Ihre Gemeinde?

Die Mitglieder der syrisch-orthodoxen Gemeinde sind bestens integriert, leben aber bewusst ihre Religion und Traditionen. Mit der staatlichen Anerkennung der syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft im Jahr 1988 erhielten wir unter anderem das Recht, unseren Kindern Religionsunterricht zu erteilen.

Derzeit besuchen 350 Kinder unseren eigenen Religionsunterricht, den ich selbst sowie fünf andere Lehrer erteile. Von den 150 syrisch-orthodoxen Religionsschülern in der AHS maturieren derzeit zehn in Religion. Wir erteilen auch Unterricht in Aramäisch an unserer Samstags- und Sonntagsschule, damit diese heute nur noch von knapp über einer halben Million Menschen gesprochene Sprache nicht ausstirbt. Deshalb habe ich auch in den 1970er Jahren die weltweit erste Kirchenzeitung „NUHRO" in aramäischer Sprache gegründet.

Bis 1. Oktober 2012 war ich auch als Fachinspektor für alle orientalisch-orthodoxen Religionen tätig. Heute noch bin ich, unter Rektor Exzellenz Bischof Gabriel, Vizerektor des Papst Schenuda Colleges der koptisch-orthodoxen Kirchen in Wien, in dem Priester und Lehrer ausgebildet werden. Ich halte Vorlesungen in Kirchenrecht, Religionsgeschichte sowie über das Leben und die Lehre der syrisch-orthodoxen Kirchenväter.

 

Für Ihr seelsorgerisches und soziales Engagement erhielten Sie vom Staat Österreich mehrere bedeutsame Auszeichnungen, zuletzt das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Wie bedeutsam sind diese Auszeichnungen für Sie?

Diese Auszeichnungen bedeuten eine Wertschätzung für mich und für meine Gemeinde, sie sind ein Ansporn für mich, meine Aufgaben und Aktivitäten noch stärker fortzusetzen. Aber andererseits erinnern sie mich daran, meine Verantwortung immer wieder auf das letzte Ziel meines Lebens auszurichten.

 

Herr Chorepiskopus, die ganze Welt schaut gebannt auf den furchtbaren Konflikt in Syrien. Weltweit diskutieren Diplomaten, aber eine friedliche Lösung zeichnet sich nicht ab. Die Sorge über das Schicksal der in Syrien lebenden Verwandten muss in Ihrer Gemeinde besonders gross sein. Wie sieht die aktuelle Situation der syrisch-orthodoxen Christen aus?

Mit grosser Besorgnis verfolgen wir seit vielen Monaten das Leid der Zivilbevölkerung im Zuge der mittlerweile alltäglich gewordenen Gewaltmanifestationen. In Syrien leben ungefähr zwei Millionen Christen verschiedener Konfessionen, davon sind etwa 400.000 Syrisch-Orthodoxe. Die meisten von ihnen siedeln in Damaskus, Homs, Hama, Sadat (dort gibt es sieben Kirchen), Aleppo, Malula (eine aramäische Siedlung) oder im Wadi al Nassara, dem sogenannten Tal der Christen.

Christen werden Opfer gezielter Anschläge auf Kirchen, Wohnhäuser und Geschäftslokale. Tausende stehen vor dem wirtschaftlichen Nichts, sind bereits ausgewandert oder müssen die schwerwiegende Entscheidung treffen, in eines der benachbarten Länder fliehen zu müssen. Niemand schützt uns syrisch-orthodoxe Christen.

 

Wie eng sind Ihre Gemeindemitglieder mit Verwandten oder Freunden in der alten Heimat vernetzt?

Der Kontakt unserer Gemeindemitglieder zur alten Heimat ist noch sehr eng und wird durch moderne Technologien stark erleichtert. So sind viele Gemeindemitglieder dank Facebook gut über die aktuelle Situation informiert. Ich selbst stehe in engem Austausch mit dem Oberhaupt der syrisch-orthodoxen Kirchen in Syrien, seine Heiligkeit Ignatios Zakka Iwas, und den anderen Bischöfen in Syrien und generell im Nahen Osten.

 

Der „arabische Frühling" hat anfänglich grosse Erwartungen geweckt, vor allem in der westlichen Welt. Waren diese gerechtfertigt oder einfach nur naiv?

Als syrisch-orthodoxe Christen waren wir bereits zu Beginn des „arabischen Frühlings" etwas skeptischer, denn die Informationen, die wir aus erster Hand aus einem der Länder bekamen, die wir als unsere angestammte Heimat betrachten, waren alles andere als ermutigend: Im Februar 2011 ging eine kleinere Gruppe radikaler sunnitischer Muslime auf die Strassen von Damaskus und skandierte, was sie vom „arabischen Frühling" erwarteten: „Schiiten in die Kiste (also den Sarg), Christen, Drusen und Alewiten ab in den Libanon oder ebenfalls in die Kiste!" Die Wirkung blieb nicht aus: Regelmässige Protestierer in den traditionellen sunnitischen Hochburgen Homs und Hama begannen, die örtliche Bevölkerung auf die Strasse zu bringen. Radikale - und leider auch gewalttätige - Muslime wurden zunehmend erfolgreicher, die Region zu destabilisieren. Es gelang ihnen, die paramilitärische Organisation Free Syrian Army (FSA) einerseits zu Propagandaaktivitäten im westlichen Ausland und andererseits zur Mobilisation und Vernetzung verschiedener oppositioneller Kräfte zu nutzen, von denen einige nicht davor zurückschreckten, einen regelrechten Guerilla-Krieg zu entfachen, der in der westlichen Berichterstattung - völlig irrig - meist als Bürgerkrieg bezeichnet wird.

 

Sie sehen den Konflikt also nicht als Bürgerkrieg?

Die Darstellung der jetzigen Situation als „Bürgerkrieg", „Freiheitskampf" oder „Krieg der Assad-Milizen gegen die eigenen Bürger" geht völlig an der Wirklichkeit vorbei. Die sogenannten Freiheitskämpfer der FSA hatten es zwar zeitweilig verstanden, verschiedenste oppositionelle Kräfte und anerkannte „Reformer" für sich zu instrumentalisieren. Letztlich verfolgen sie aber das Ziel eines islamischen Gottesstaates. Jihadisten aus der gesamten Region des Nahen Ostens werden u.a. von verschiedenen reichen Golfstaaten finanziert. 

 

Wie sah das Leben ihrer Gemeinde unter Hafez al-Assad und Bashar al-Assad bis zum Ausbruch des Konflikts aus?

Vorausschicken möchte ich, dass der Staat Syrien 1915/16 Tausenden christlichen und armenischen Flüchtlingen, die von blutrünstigen Mordbanden aus der Südost- und Osttürkei vertrieben wurden, gütig Zuflucht gewährt hatte. Unter Hafez Assad ging es der syrisch-orthodoxen Gemeinde sehr gut, wir genossen - wie auch die anderen Religionsgemeinschaften - volle Religionsfreiheit, auch sein Nachfolger Bashar Assad änderte nichts an dieser Situation. Der Grund ist, dass die Assads als Alewiten selbst einer ethnisch-religiösen Minderheit angehören und die Alewiten noch dazu dem christlichen Glauben nahe stehen. Ursprünglich waren sie zu 80 Prozent christlich, wurden zum Teil aber zur Konversion gezwungen. Auch sagen sie nicht, dass sie Mohammedaner sind.

 

Glauben Sie, dass der syrische Staat nach einer wie auch immer gearteten Lösung des Konflikts in den bestehenden Grenzen erhalten werden kann? Oder wäre das gar nicht wünschenswert?

Wir dürfen uns nicht scheuen, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue geopolitische Modelle anzudenken. Wir dürfen dabei nicht zurückschrecken, dabei auch visionäre Ideen zur Gestaltung einer neuen Ordnung der gesamten Region zu artikulieren.

Ein Zerfall des Staates Syrien ist nicht auszuschliessen. Diese Situation sollte für die Etablierung eines neuen Staates genutzt werden, der folgende territoriale Umrisse haben könnte: den südlichen Teil des Libanons, einen östlichen Streifen des heutigen Syrien sowie einen Streifen Jordaniens bis zur Höhe der unteren Linie der Westbank. Der Westen sollte mit Amman verhandeln, diesen Streifen territorial abzugelten. Dieser neue Staat könnten die Palästinenser, die bis heute in jordanischen Flüchtlingslagern und Armenviertel leben, übernehmen. All jenen Palästinensern, die heute auf israelischem Territorium leben, sollte es frei gestellt werden, entweder in dieses neue Land zu übersiedeln oder in Israel zu bleiben, allerdings unter Verzicht auf einen Teil der politischen Partizipation und mit explizitem Ausschluss eines dort lozierten Palästinenserstaates. Das neue Land sollte im Norden von Christen unter Aufrechterhaltung von Schutz- und Kontrollrechten der Palästinenser regiert werden, im Süden genau umgekehrt von Palästinensern, wobei die Christen Schutz- und Kontrollrechte geniessen.

Dieses Land hätte eine Pufferfunktion für die Sicherheit Israels. Es würde den im Orient autochthonen Christen eine dauerhafte Heimat bieten und ebenso das Palästinenser-Problem lösen.

 

Der „arabische Frühling" hat zwar zahlreiche optimistische Erwartungen enttäuscht. Israel war von Anfang an zurückhaltend in seiner Einschätzung. Wie beurteilen Sie die neue Situation für den jüdischen Staat?

Auch für Israel ist die Situation in der Region in der Zwischenzeit mehr als bedrohlich geworden. In Ägypten herrscht mittlerweile ein Präsident, der sich nicht scheute, die Juden - ganz korangemäss - als „Affen und Schweine" zu bezeichnen. In Libyen streiten bzw. kämpfen verschiedene Clangemeinschaften um die Vorherrschaft, gegen die Ghadhafi noch harmlos zu sein schien. Und in Syrien bekommen Kräfte zusehends Oberwasser, die einem Lager entstammen, das das Existenzrecht Israels seit jeher in Abrede stellt. Juden wie Christen sind mittlerweile beide Opfer des „arabischen Frühlings" geworden.

 

Halten Sie einen Frieden im Nahen Osten trotz allem für möglich?

Für einen Frieden sind drei Punkte zentral: Zum ersten müssen alle muslimischen Staaten Israel anerkennen und mit dem jüdischen Staat in Frieden leben. Dies wäre ein eindeutiges Signal an Islamisten, Salafisten und Terroristen, dass in der arabischen Welt der Wille zum Gemeinsamen besteht.

Zweitens müssten zur Etablierung eines multireligiösen Gleichgewichts in der Region die Bestrebungen des kurdischen Volkes auf Durchsetzung einer dauerhaften Autonomie und mittelfristig auf Etablierung eines eigenen Staates unbedingt gefördert werden. Den Kurden war die Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg versprochen worden, doch anschliessend wurde darauf „vergessen". Ein kurdischer Staat würde ein ethnisches Gleichgewicht im Nahen Osten herstellen. Ein neues Kurdistan hätte einen bevorzugten Status für Muslime aus der Türkei, dem Iran und dem arabischen Raum zu definieren. Es könnte eine Drehscheibe zwischen West und Ost werden, wobei der Aufbau besonders herzlicher Beziehungen zu Israel stabilisierende Wirkung für den gesamten Orient hätte.

Und drittens müssten auch die christlichen Minderheiten im Nahen Osten Land erhalten, entweder für eine Staatsgründung oder zumindest, um dort, wie bereits ausgeführt, in einem gemeinsamen, neu zu errichtenden Staat gemeinsam mit den Palästinensern in Autonomie leben zu können. Damit könnte der Zustand von Diskriminierung und Marginalisierung der Christen im Nahen Osten beendet werden.

Herr Chorepiskopos Aydin, herzlichen Dank für das Gespräch!