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Wir sind vielleicht die Letzten

Christoph KONRATH

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Am 22. Januar 2010 hat der ukrainische Staatspräsident Wiktor Juschtschenko dem Nationalistenführer Stepan Bandera posthum den Titel Held der Ukraine, die höchste Auszeichnung des Staates, verliehen. Knapp vor der Stichwahl um seine Nachfolge hat er damit noch ein deutliches geschichtspolitisches Signal gesetzt. Bandera ist hierzulande kaum jemandem ein Begriff. Wer aber durch den Westen der Ukraine fährt, begegnet ihm allerorten, und wer dort Juden trifft, muss rasch erkennen, welche Schatten dieser Politiker bis heute wirft.

Ich hatte im Oktober 2010 das Glück, Boris Dorfman zu treffen und von ihm Einblick in Geschichte und Gegenwart der Juden in Lemberg zu bekommen. Was mir zuvor auf der Fahrt durch die Gebiete der ehemaligen Bukowina und Ostgaliziens aufgefallen war, was ich in Gesprächen mit jungen Historikern, die sich um eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte mühen, erfahren hatte - in der Begegnung mit ihm gewann es an Intensität.

Boris Dorfman zählt als 86-Jähriger noch immer zu jenen, die sich rührig um das jüdische Gemeinde- und Kulturleben Lembergs kümmern. Als Freund des 2009 verstorbenen Josef Burg hält er die Tradition jiddischer Artikel in einer Zeitung der Gemeinde aufrecht. Sie beschränken sich bloss mittlerweile auf eine Seite, da sie kaum jemand versteht. Dorfman ist - wie so viele andere auch - erst nach dem 2. Weltkrieg nach Lemberg gekommen. Nur ganz wenige der jüdischen Familien lebten schon davor in dieser Stadt, deren jüdisches Leben heute allzu oft Gefahr läuft, romantisiert oder verkitscht zu werden. Aber nicht nur die Juden, auch der bei weitem überwiegende Teil der restlichen Bewohner Lembergs ist erst nach 1945 hierher gekommen. Bürgerkrieg, Hungersnot, Weltkrieg und Vertreibungen haben in der Ukraine zu ungeahnten Veränderungen innerhalb der Bevölkerung geführt. Und die Geschichte der Menschen, die heute hier leben, findet nur wenig Anknüpfungspunkte zur Geschichte der Orte, an denen sie leben. Aber dennoch und wohl gerade auch deshalb betrachten viele Ukrainer Lemberg als „ihre" Stadt, während die Juden, für sie Fremde geblieben, Vorurteilen und Vorwürfen ausgesetzt sind.

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Sukkot Lemberg. Foto: Ch. Konrath

Seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 wird das Land durch die Suche nach Selbstbestätigung, Selbstbehauptung und Abgrenzung geprägt. Das fällt am Auftreten vieler auf, die Bestätigung in Statussymbolen suchen, ebenso wie an der Erneuerung von Kirchen-, Nations- und Geschichtsbewusstsein. Die Neubewertung der Geschichte geschieht dabei in Auseinandersetzung mit den Umdeutungen und Verfälschungen, die während der Sowjetzeit stattgefunden haben. Im Vordergrund jedoch stehen die historischen Probleme des 20. Jahrhunderts: die Ukrainische Volksrepublik, die Nationalkommunisten, die Hungersnot von 1932/33 und die Säuberungen Stalins sowie die Rolle der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der aus ihr hervorgegangenen Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), in denen der eingangs genannte Stepan Bandera eine wichtige Rolle spielte.

Gerade diese Organisationen und ihre Führungspersönlichkeiten dominieren im Westen der Ukraine, wo sie vornehmlich tätig waren, auch heute die öffentliche und politische Auseinandersetzung. In ihnen, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine unabhängige Ukraine zu errichten versuchten, wollen sich jene, die heute für eine starke, selbstbewusste und unabhängige Ukraine eintreten, wiedererkennen. An vielen Orten werden Denkmäler für ihre Anführer sowie neue Gräber für die Gefallenen von damals geschaffen. Die Monumente der kommunistischen Führer werden durch ebensolche für Bandera, etwa in Lemberg oder in Iwano-Frankiwsk (ehemals Stanislau) abgelöst. In Wahlkämpfen, in den Medien und an den Universitäten werden viele Bezüge zur Zwischenkriegszeit hergestellt. Die schwierigen Fragen, die sich auf das spannungsreiche Verhältnis dieser Politiker zu Demokratie und Diktatur, zu Nationalismus und Antisemitismus ergeben, gehen dabei unter. Die Rolle der ukrainischen Nationalisten in den zahlreichen Judenpogromen der Zwischenkriegszeit bleibt kritischen historischen Debatten vorbehalten. Breitenwirkung scheinen sie nicht zu entfalten. Dabei spielt auch mit, dass sich die von Bandera erhoffte Unterstützung für eine unabhängige Ukraine ins Gegenteil kehrte und mit seiner Verbringung nach Sachsenhausen 1941 und die spätere Ermordung durch den KGB in München 1959 endete.

Vieles von dem, was die nationalistischen Bewegungen propagierten, hat sich in den seither vergangenen Jahrzehnten tatsächlich verwirklicht: Die Vernichtungs- und Vertreibungsaktionen des Nationalsozialismus und des Stalinismus haben die ethnische Heterogenität der Ukraine wesentlich reduziert. Juden und Polen sind eine kleine Minderheit, Krimtataren und Deutsche, Rumänen und Ungarn fallen insgesamt nicht mehr auf.

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Synagoge Lemberg. Foto: Ch. Konrath.

Menschen wie Boris Dorfman erinnern noch an eine ganz andere Zeit, wenn auch in erster Linie als Zeugen. Dorfman hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch die Geschichte der Juden in Lemberg zu führen, zu erzählen, wie es hier einmal war, auch wenn er das selbst gar nicht erlebt hat. Ein Rundgang mit ihm vermittelt die einstmalige Vielfalt dieser Stadt, die sich heute fast nur mehr in ihren Bauwerken zeigt. Dorfman ist durch grosses Interesse an der Stadt und ihrer Geschichte geprägt, er ist hier wohl im wahrsten Sinne des Wortes beheimatet. Wie so viele andere hätte auch er weggehen können, seine Kinder haben es getan, aber er ist hier geblieben. Vielleicht wird er, der sich auch als jiddischer Journalist vorstellt, einer der Letzten sein, die diese Stadt noch so kennen und vermitteln können.

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Boris Dorfman (links) Winterschul Lemberg. Foto: Ch. Konrath.

Denn auch wenn es im Westen der Ukraine nur mehr wenig Juden gibt, halten sich die alten Vorurteile, die den Juden die Schuld am Tod Jesu vorwerfen, sie aber auch für den Terror des Sowjetregimes verantwortlich machen. In Gesprächen mit den unterschiedlichsten Personen, in Bildern und Ikonen, in politischen Diskussionen kommen immer wieder Zeichen und Bezüge vor, die bewusst und unbewusst gegen Juden gerichtet sind, und an denen oft kein Anstoss genommen wird.

Die jüdische Gemeinde Lembergs zählt heute noch rund 2.000 Personen. Touristen werden im historischen Zentrum, das Welterbe-Status hat, auf die Ruinen der Goldene-Rosen-Synagoge aus dem 16. Jahrhundert hingewiesen, die 1942 zerstört wurde. Gleich daneben befindet sich ein Lokal, das sich in seltsamem Zynismus als „jüdisch" darstellt. Die Ausstattung folgt übelsten antisemitischen Klischees, und die Speisekarte zeichnet sich durch den „augenzwinkernden" Gag aus, dass sie keine Preise anführt. Es scheint auch niemanden zu stören, dass sich an einer Hauswand bei der Ruine Hakenkreuzschmierereien finden. Im chassidischen Stibl und bei den jüdischen Einrichtungen im Nebenhaus kann man das nur hinnehmen. Es ist eben so.

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Boris Dorfman (links) . Foto: Ch. Konrath.

Etwas weiter entfernt treffen sich einige Kulturvereine und die wenigen Jugendlichen und Studierenden in einer ehemaligen Synagoge. Wie lange sie das noch tun können, ist fraglich, denn ein mächtiger Sturm hat im Sommer das Dach abgedeckt. Der notdürftige Schutz lässt befürchten, dass über den Winter die Schäden zunehmen werden. Bei den Ruinen der Synagoge und dem Mahnmal für die Toten des Lemberger Ghettos nahe der Eisenbahn finden sich wieder Hakenkreuzschmierereien. Provokationen wie auch in anderen Teilen Europas, wird mir gesagt, aber es gibt niemanden, der sie beseitigt. Die orthodoxe Synagoge befindet sich abseits von all dem in einer Gasse neben dem Bahnhof. Sie wurde vor einigen Jahren wiederhergestellt. Als ich dort war, war gerade Sukkoth, und einige ältere Männer hatten sich zum Abendessen eingefunden. In der Synagoge sind doch noch 20 kleine Laubhütten aufgestellt, die Kinder gebastelt haben. Die jüdische Gemeinde kämpft hier um ihr Überleben, und sie ist sich bewusst, dass nicht nur ihre Sprache vergeht. Das Interesse, das andere ihr entgegenbringen, scheint nicht allzu gross zu sein.

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Enthüllung einer Gedenktafel für Joseph Roth am Haus seines Onkels in Lemberg, initiiert von der Österreich Kooperation, Oktober 2009. Foto: Ch. Konrath.

In den vergangenen Jahren hat - in Österreich fast unbemerkt - die Österreich-Kooperation einiges zu bewegen versucht. Diese Initiative wurde 1993 gegründet und unterhielt seit 1998 ein Büro in Lemberg. Zu ihren Hauptaufgaben zählte Kultur-, Wissenschafts- und Forschungsaustausch und -förderung. Die Österreich-Kooperation liess auch Bücher „altösterreichischer" und somit oft jüdischer Autoren übersetzen, die kaum mehr jemand in der Ukraine kannte. Sie hat in einem Land voll neuer Denkmäler auch Gedenksteine für jene errichtet, an die man sich nicht mehr erinnerte oder erinnern wollte, weil sie Juden waren. Und sie hat Wissenschaftler und Schriftsteller von heute, darunter auch kulturschaffende Mitglieder jüdischer Gemeinden, gefördert und einen Austausch über Grenzen ermöglicht. Ihre Tätigkeit wird aber 2010 beendet, da öffentliche österreichische Stellen ihre Unterstützung einstellen. Diese Form des Engagements ist in Österreich offenbar nicht mehr förderungswürdig. Für die Ukraine, ihre Geschichte und das Verschwinden jüdischen Lebens gibt es kein Interesse.