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Spuren des jüdischen Wien

Ursula PROKOP

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Mahnmal der Deportierten auf dem Servitenplatz. Foto: U. Prokop.

Bereits seit dem frühen 16. Jahrhundert war das Gebiet der Rossau, rund um die heutige Seegasse  - damals das „Obere Werd" - ein Kerngebiet der Wiener jüdischen Gemeinde. Von hier aus wuchs die so genannte „Judenstadt" allmählich bis ins „Untere Werd" (Teile des heutigen zweiten Bezirks). Es war im Oberen Werd, wo bereits in der Frühzeit ein kleiner Friedhof angelegt wurde, dessen ältester erhaltener Grabstein aus dem Jahre 1582 datiert. Immer wieder einsetzende Vertreibungen, insbesondere 1669 unter Kaiser Leopold I., unterbrachen diese Entwicklung, konnten sie allerdings nie völlig zum Erliegen bringen. Da die Wiener Juden trotz widriger Zeitläufe bis auf eine kurze Unterbrechung im Besitz des kleinen Friedhofs blieben,  liessen sich hier - insbesondere nach der Errichtung des Jüdischen Krankenhauses durch Samuel Oppenheimer 1698 -  allmählich wieder Juden nieder. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich diese Gegend dann zu einem vor allem von gutbürgerlichen jüdischen Kreisen bevorzugten Stadtviertel, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine besondere Blüte erlebte. Nicht zufällig lebten hier so prominente Persönlichkeiten wie Sigmund Freud oder Viktor Adler - beide auf der berühmten Adresse Berggasse 19: Generell bevorzugten viele Künstler und Intellektuelle diese Gegend.1

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Schule des israelitischen Mädchenunterstützungsvereines. Foto: U. Prokop. 

Auch das Krankenhaus in der Seegasse wurde durch das stetige Wachstum der jüdischen Gemeinde, insbesondere infolge des Zuzugs aus Osteuropa, bald zu klein, so dass man 1870 mit tatkräftiger finanzieller Unterstützung der Familie Rothschild ein neues Spital am Währinger Gürtel erbaute, das die längste Zeit eines der modernsten in Wien sein sollte.2  Auf dem traditionsreichen Areal in der Seegasse hingegen wurde ein Altersheim errichtet. Beide Gebäude entstanden nach Plänen des damals auf diesem Gebiet führenden Architekten Wilhelm Stiassny (1842-1910).3 Dem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung entsprechend wurde 1889 in der nahe gelegenen Müllnergasse auch ein neuer, prächtiger Tempel von Max Fleischer (1841-1905), einem der bedeutendsten Spezialisten des Synagogenbaues, errichtet. In der Formensprache der Neugotik gehalten, unterschied er sich kaum von zeitgleichen Kirchenbauten und symbolisierte in gewisser Weise den Assimilationswillen der gehobenen bürgerlichen Kreise dieses Viertels.4 Im Zuge des Aufschwunges wurden auch zahlreiche moderne Miethäuser gebaut. So entstand um 1904/5 in der Servitengasse  nach den Plänen der jüdischen Architekten Jakob Modern (1838-1912) und Julius Goldschläger (1872-1940) eine Gruppe von Jugendstilbauten, die bis heute ein bemerkenswertes Ensemble bilden.5

Nach der Vertreibung der jüdischen Bewohner in der NS- Zeit und der Zerstörung aller Einrichtungen sind nur mehr sehr vereinzelt Spuren von diesem regen jüdischen Leben in der Rossau erhalten. Das Altersheim wurde - nachdem alle Insassen deportiert worden waren -  1943 aufgelöst. In der Nachkriegszeit an die Kultusgemeinde restituiert, wurde es von dieser nochmals kurzfristig genutzt, um schliesslich an die Gemeinde Wien verkauft zu werden, die an dieser Stelle Anfang der achtziger Jahre ein modernes Seniorenheim errichtete. Einzig der kleine, uralte Friedhof an der Rückseite des Gebäudes ist noch erhalten. Auch die schöne Synagoge von Max Fleischer wurde zerstört, nur mehr eine Gedenktafel an einem unauffälligen Neubau erinnert noch an diese Stätte. Die hübschen Jugendstilhäuser in der Servitengasse sind zwar erhalten, das schreckliche Schicksal ihrer Bewohner war jedoch bis vor kurzem weitgehend vergessen. Da der Anteil der Juden in dieser Gegend besonders hoch war, wurden hier Anfang der vierziger Jahre sogenannte Sammelwohnungen eingerichtet, wo man die Menschen vor der Deportation zusammenpferchte, um sie möglichst schnell erfassen zu können. Daher war die Zahl der Opfer in dieser Gegend besonders hoch; ein Umstand, der erst in jüngster Zeit durch ein Forschungsprojekt aufgearbeitet wurde.6  Heute erinnert neben einer Gedenktafel mit den Namen der Verschleppten auch ein kleines Mahnmal an diese Geschehnisse. Bemerkenswerterweise wird hier der Versuch unternommen, der jüngeren Generation die Tragik der Ereignisse visuell zu veranschaulichen, indem, in den Strassenboden eingelassen, unter einer Glasplatte jene Wohnungsschlüssel zu sehen sind, die die Opfer vor ihrer Deportation abgeben mussten.

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Detail der Fassade des Schulgebäudes. Foto: U. Prokop. 

Neben diesen kärglichen Spuren existiert bis heute im Viertel das Gebäude einer bis dato wenig beachteten Institution: das ehemalige Vereinshaus und die Schule des sogenannten Mädchen - Unterstützungsvereines, der 1866 gegründet worden war, um „armen israelitischen Mädchen die Möglichkeit der kostenfreien Erlernung oder sonstigen Erwerbes" zu bieten.7 Die Hauptinitiatorin dieser Einrichtung, Regine Ullmann (geb. Kohn, 1847-1939), eine der ganz frühen Vertreterinnen der Frauenbewegung, die selbst aus einem gut situierten jüdischem Haus stammte, wollte mit diesem Verein insbesondere Mädchen aus ärmlichen, nicht streng orthodoxen Schichten die Möglichkeit einer beruflichen Ausbildung bieten, die damals für Frauen noch sehr eingeschränkt war. Der Verein konnte in Kürze erhebliche Erfolge verzeichnen. Neben einer einfachen Berufsaubildung zur Köchin, Schneiderin und ähnlichem wurden später auch eine Handelsschule sowie Meisterinnenprüfungen angeboten. Die Anzahl der Schülerinnen stieg im Laufe der Jahre beträchtlich an, so dass die bis dahin angemieteten Lokalitäten bald zu klein wurden und man sich um grössere und modernere Ausbildungsstätten umsehen musste. 1909 konnte der Verein auf dem Areal Seegasse 16 - genau gegenüber des jüdischen Altersheimes - schliesslich ein neues Gebäude errichten, das in einer etwas ungewöhnlichen Mischform in den unteren drei Geschossen als Schule mit angeschlossenen Werkstätten diente, währenddem die oberen Stockwerke Mietwohnungen vorbehalten waren, um eine gewisse Rentabilität zu gewährleisten.8 Der Planverfasser dieses durchaus bemerkenswerten Gebäudes war Ludwig Schmidl (1836-1924), der - wie die meisten jüdischen Architekten dieser Jahre- an der Technischen Hochschule bei Karl König studiert hatte und neben seiner Arbeit für die Nordwestbahn auch als sogenannter Privatarchitekt tätig war. Dies erklärt auch den Umstand, warum sein namentlich dokumentiertes Werk relativ klein ist.9 Ein kurz zuvor, 1907, von ihm erbautes privates Mädchenlyzeum in Wien - Döbling (Gymnasiumstrasse 77) war ebenfalls im Umfeld der damaligen Frauenbewegung entstanden und hatte möglicherweise den Ausschlag gegeben, ihm das Projekt in der Seegasse zu übertragen.10

Schmidl gelang es in der Folge dann durch eine sehr geschickte räumliche Einteilung des Vereinshauses, den unterschiedlichen Funktionen zu entsprechen. Insbesondere erzielte er mittels zwei getrennter strassenseitiger Eingänge, die jeweils zur Schule und den Vereinsräumen, beziehungsweise zu den in den oberen Stockwerken gelegenen Mietwohnungen führen, eine strikte Separierung der Bereiche. Den Ansprüchen eines „öffentlichen Gebäudes" entsprechend, wurde vor allem das Vestibül der Schule mit einem gewissen repräsentativen Anspruch ausgestaltet, wobei sowohl das Stiegengeländer, als auch Wandverfliessung und Malerei der Ästhetik der Wiener Werkstätte verpflichtet waren. Die unterschiedlichen Funktionen des Gebäudes sind bemerkenswerterweise auch an der Fassade ablesbar, wo ein breiter Blumenfries Schulbereich und Wohnungen optisch voneinander trennt. Während dekorativ gerahmte bay-windows ganz in der Art des Jugendstils die Wohngeschosse bekrönen, sind an den Wandpfeilern des Schulbereichs junge hübsche Mädchen mit diversen Lernbehelfen dargestellt. 11

Allzu lange blieb der Mädchen-Unterstützungsverein jedoch nicht im Besitz des Schulgebäudes. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Immobilie 1922 an die Schwedische Israelmission verkauft. Höchstwahrscheinlich waren die damals grassierende Inflation und die schlechte wirtschaftliche Lage Ursachen für den Verkauf. Darüber hinaus hatte sich inzwischen das öffentliche Bildungsangebot auch für Mädchen soweit gebessert, dass möglicherweise kein dringender Bedarf an den schulischen Einrichtungen mehr bestand, weshalb der Verein sich in der Folge eher auf karitative Aufgaben beschränkte. Er übersiedelte in die nahe gelegene Grünentorgasse 12, wo man bescheidenere Räumlichkeiten anmietete. Regine Ullmann blieb dem Verein jedoch weiterhin eng verbunden. Obwohl verheiratet und Mutter von sechs Kindern (zwei ihrer Töchter unterrichteten an der Vereinsschule), war sie auch journalistisch tätig und arbeitete eng mit Marianne Hainisch, eine der Pionierinnen der österreichischen Frauenbewegung, zusammen. 1929 wurde Ullmann Präsidentin des Mädchenunterstützungsvereines und erhielt für ihre Arbeit 1937 das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich. Ein Jahr später musste sie noch  die Zwangsauflösung des Vereines seitens der NS-Machthaber erleben,12 bald darauf verstarb sie hoch betagt im 92. Lebensjahr. Generell zu bemerken ist, dass insbesondere Jüdinnen aus bürgerlichem Milieu, viel früher als nichtjüdische Frauen, ins Berufsleben drängten und daher auch auf dem Gebiet der Frauenemanzipation eine bedeutende Rolle spielten.

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Maschinenfabrik Luzatto, Wien 10, Siccardsburggasse. Foto: U. Prokop.

Die Schwedische Israelmission, die in der Zwischenkriegszeit in dem Gebäude in der Seegasse ansässig war und eng mit der evangelischen Kirche in Wien zusammenarbeitete, wurde allerdings damals - insbesondere seitens der jüdischen Orthodoxie - wegen ihrer Missionstätigkeit nicht zu Unrecht als Angriff auf den Bestand der jüdischen Gemeinde gesehen. Dessen ungeachtet bewährte sich diese Institution während der Judenverfolgung in der NS-Zeit, unbürokratisch konnte sie mehr als 3.000 Juden - getauften, aber auch ungetauften - zur Auswanderung verhelfen und sie damit vor Deportation und Vernichtung retten. Die Räumlichkeiten der Mission dienten als Auswanderungsbüro, Wohnungsamt, Mittagstisch und Zufluchtstätte für Verfolgte. Ständige Auseinandersetzungen mit der Gestapo führten schliesslich 1941 zur Sperre. Nach dem Krieg waren in den Räumlichkeiten die Schwedische Mission, die nun ein Kinderhilfsprogramm organisierte, und das schwedische Rote Kreuz untergebracht. 1951 wurde das Gebäude wieder an die Schwedische Mission für Israel restituiert, die aber in der Folge vom Konzept der Judenmission endgültig Abstand nahm und schliesslich 1973 die Immobilie an die Wiener evangelische Gemeinde AB verkaufte, die bis heute im Besitz des Bauwerkes ist.13

Das Haus in der Seegasse wurde infolge seiner hohen architektonischen und ästhetischen Qualität erst vor einigen Jahren unter Denkmalschutz gestellt, ist aber nicht der einzige Bau Schmidls, dem diese Anerkennung zuteil wurde. Als Ingenieur der Nordwestbahn insbesondere auch mit der Konstruktion technischer Nutzbauten vertraut, errichtete Schmidl 1906 eine Maschinenhalle für den Industriellen Maximilian Luzzatto (Wien 10, Siccardsburggasse 36), die mit ihrem feingliedrigen Glasdach bis heute als bedeutendes Industrierelikt gilt und daher auch bei einem jüngst erfolgten Umbau erhalten werden musste.14 Interessanterweise war die Ehefrau Maximilian Luzzattos, der aus einer alten jüdisch Triestiner Familie stammte, Elisabeth (geb. Grünbaum, 1873-1941) ebenfalls in der Frauenbewegung tätig und Vorstandsmitglied und Mitbegründerin des Österreichischen Komitees für Frauenstimmrechte.15  Die  möglichen Gründe für den Umstand, dass die meisten Projekte Ludwig Schmidls, der selbst unverheiratet blieb, interessanterweise im Umfeld der Frauenbewegung entstanden, sind heute jedoch nicht mehr zu eruieren. Der Architekt, der darüber hinaus auch einige sehr repräsentative Villen in Hietzing und Währing errichtet hatte, verstarb verhältnismässig jung bereits 1924 in Wien.

1   U. a. die  Innenarchitektin Friedl Dicker, der Architekt Ernst Lindner sowie der Maler Fritz Schwarz-Waldegg.

2   Das neue Rothschild- Spital war nach neuesten medizinischen Erkenntnissen eingerichtet, und bedeutende Vertreter der Wiener Medizinischen Schule wie Leopold Oser, Otto Zuckerkandl und Viktor Frankl waren dort tätig. Siehe dazu: M. Heindl/ R. Koblizek (Hg.), 125 Jahre Rothschildspital , Donnerskirchen 1998.

3   Siehe dazu U. Prokop, Wilhelm Stiassny, In: DAVID, 21. Jg., Nr. 81 (Juni 2009) und www.architektenlexikon.at .

4   Vgl. Der Bautechniker 24.1904, S.281ff.

5   Julius Goldschläger verstarb noch kurz vor Einsetzen der Deportationen am 30. November 1940 in Wien.

6   Vgl. B. Johler (Hg.), 1938, Adresse:Servitengasse, Wien 2007.

7   Vgl. Elisabeth Malleier, Regine Ullmann und der Mädchen-Unterstützungsverein in Wien, In: Ariadne, Almanach d. Archivs der deutschen Frauenbewegung, Heft 35, Mai 1999, S.28ff.

8   Siehe dazu Die Mädchenschule 1910-1922, In : www.meka.at/history .

9    Vgl. U. Prokop, Ludwig Schmiedl, In: www.architektenlexikon.at .

10   Siehe dazu Wiener Bauindustriezeitung 27.1909, S.311ff; Die Direktorin des Cottage-Lyzeums Dr. Salka Goldmann war Mitglied des Ausschusses des Wiener Frauenclubs. Eine persönliche Bekanntschaft mit Regine Ullmann oder anderen Vertreterinnen des Mädchen-Unterstützungsvereines scheint höchst wahrscheinlich.

11  Diese Ikonographie weist deutlich auf die Schulfunktion des Hauses hin, obwohl verwirrenderweise bis heute noch die Aufschrift Schwedische Mission angebracht ist und auch in allen Anthologien das Gebäude so bezeichnet wird.

12   Siehe Anm. 7.

13   Vgl. U. Trunks, die schwedische Mission in der Seegasse, In: www.christenjuden.org .

14   Vgl. M. Wehdorn/ U. Georgeacopole, Baudenkmäler der Industrie in Österreich, Bd. 1, Wien 1984 und  A. Nussbaum, Hundert müsste man sein. Ein Industrierelikt und was man daraus machen kann. In: Die Presse 19.11.2005.

15   Siehe dazu: Frauen in Bewegung, www.onb.ac.at/ariadne .