Ausgabe

Mehr als eine Vorlage

Michael HALÉVY

Content

Von Izmir bis Wien wurden zahlreiche judenspanische Romane, Theaterstücke und Gedichtbände gedruckt, nicht wenige von ihnen in kurzlebigen Schriftenreihen (bibliotekas), verlegt von literarischen Zirkeln, Verlagsbuchhändlern oder im Selbstverlag. Die Mehrzahl jedoch erschien in den sefardischen Wochen- oder Monatszeitschriften, so zum Beispiel in den von Shem Tov Semo und Adolf von Zemlinszky herausgegeben Wiener Zeitschriften El Koreo de Vyenah, Ilustra Guerta de Istorya und Guerta de Istorya.1 So versprachen zum Beispiel die auch Spezialisten unbekannten Wiener Verleger Sommer & Dogin dem Wiener Publikum eine ambitionierte Biblioteka Univerzala (Bibliothek der Weltliteratur), in der alle zwei Wochen ein Titel erscheinen sollte ("aparesera kada 14 dias un livriko"). Im Anhang zu ihrem 1894 verlegten Roman Un renyegador de Israel. Istorya interesante i verdadera, traduksyonada de la lengua almana (Ein Abschwörer Israels. Eine interessante und wahre Geschichte, übersetzt aus dem Deutschen)2 kündigten die Verleger eine Vielzahl von Titeln an, von denen jedoch kein einziger erscheinen sollte.

Der Aufstieg Wiens zur jüdischen Metropole Europas, in die zahlreiche ehrgeizige junge sefardische Studenten aus Kroatien, Bosnien, Serbien, Bulgarien und der Türkei strömten, machte die Sefarden mit der aschkenasischen Welt und ihren Sprachen, dem Yidishen und dem Deutschen, bekannt. So erschien Goethes Werther 1906 in Saloniki, und 1908 in Jerusalem der sensationslüsterne Roman La mano kortada i la revolusyon en el palayso en Konstantinopoli (Die Kaiserin mit der blutigen Hand, Wien 1872) von dem auch bei den Sefarden überaus populären Wiener Feuilletonromancier Theodor Scheibe.

Es ging aber auch seriöser zu. In Sofia verlegte Jacques Cappon in der Druckerei Widdin von Joseph M. Benbasa eine Biblioteca Judio-Espaniola, von der meines Wissens jedoch nur zwei Bände erschienen sind. Diese kaum bekannte „Bibliothek", deren Bände nicht in der Rashi-Schrift, sondern in lateinischen Lettern gedruckt wurden, sollte das Publikum mit den besten klassischen und modernen Autoren, national (jüdisch?) wie international, vertraut machen:

„Ich habe die Absicht, die Werke berühmter Autoren herauszugeben und rechne dabei mit der Unterstützung der verehrten jüdischen Organisationen [...], damit in jedem Hause, in dem Spanisch (!) gesprochen wird, diese Bücher gelesen werden mögen."

 h85_019

Titelblatt der judenspanischen Übersetzung des Jedermann. Eine Kopie des Buches befindet sich heute in der Bibliothek von Yad Vashem. Abbildung: M. Halévy.

Die Sprache seiner Übersetzungen bzw. Bearbeitungen nennt Cappon castiliano-espaniol gemischt mit judio-espaniol, so wie es die Sefarden heute sprechen (que nuestro pueblo lo pratica).

Die Bekanntschaft mit den Meisterwerken der Weltliteratur sollte das jüdische Volk, das Volk des Buches (Pueblo del Libro), in die Lage versetzen, von den Völkern geachtet und geschätzt zu werden (ser preciados y respektados). Dafür müssten sich seine Leser jedoch von der antiquierten Rashi-Schrift verabschieden und eine Annäherung an die moderne spanische Sprache vollziehen.3 Und diese Annäherung sollte vor allem Übersetzungen aus den grossen Kultursprachen in das hispanisierte Judenspanische ermöglichen.

Für viele Sefarden ist ihre Sprache nur ein Jargon, der weder zur Wissenschaft noch zur Literatur taugt. Während in vielen judenspanischen Zeitschriften eine erregte Debatte über die Sprachenfrage geführt wird, die sich durch die Zionisten noch verschärft, die vehement das Hebräische als Nationalsprache propagieren, beteiligt sich ein Wiener Student an der Sprachdebatte, die in der Zeitschrift El Amigo del Puevlo leidenschaftlich geführt wird. Auch für ihn ist die Lage des Judenspanischenmuy dezesperada und en perikolo" (verzweifelt und gefährdet). Er beklagt die Armseligkeit seiner Muttersprache (akurtamyento i la provedad de palavras ke es la kavza ke oy se burlan i se riyen de muestra flaka literatura), verteidigt aber im Gegensatz zu der Mehrzahl der Diskussionsteilnehmer das Festhalten am Judezmo, ja, er fordert die sefardischen Intellektuellen geradezu auf, ihren Beitrag zur Erneuerung der judenspanischen Sprache und Literatur zu leisten.

 h85_021

Entre dos Mundos. El Dybuk. Legenda dramatica en 4 actos traducida de Jacques Cappon. Vorwort des Übersetzers und Bearbeiters Jacques Cappon. Abbildung: M. Halévy.

Das alles wurde Ende des 19. Jahrhunderts in der sefardischen Welt diskutiert. Für viele kam die Diskussion zu spät, der Untergang des ehrwürdigen Judenspanischen war nicht mehr aufzuhalten, das castiliano-espaniol gemischt mit judio-espaniol sollte die Annäherung an das Spanische beschleunigen, ohne jedoch das Judenspanische gänzlich zu verdrängen. 1930 verlegte, übersetzte und bearbeitete Jacques Cappon zwei populäre Theaterstücke: Jedermann or La vida de la persona, sus vicios, sus iluciones y sus desiluciones. Fabula muy afamada, laborada de Jacques Cappon (Abb. 1) von Hugo von Hofmannsthal und Entre dos Mundos. El Dybuk. Legenda dramatica en 4 actos traducida de Jacques Cappon (Abb. 2) von An-Ski (Salamon Rappaport). Von diesen zwei Drucken haben sich nur wenige Exemplare erhalten.

Warum der Jedermann? Für Jacques Cappon ist Hugo von Hofmannsthal ein Dichter (poeta), der das Gute in der Klassik sucht (busca), studiert (estudia) und umsetzt (forma), so dass man seine Werke mit kostbaren Gobelins vergleichen könne, wie man sie heute noch an Wänden alter Paläste fände. Und er macht seine Leser mit den Salzburger Festspielen unter Max Reinhardt vertraut, und mit den grossen Schauspielern wie Hedwig Bleibtreu, Werner Krauss, Max Pallenberg oder Oskar Homolka. Seine Übersetzung des Dybuk sollte dem sefardischen Publikum vor allem zeigen, dass die judenspanische Sprache nicht nur in der Lage sei, Weltliteratur zu übersetzen, sondern eines Tages auch Weltliteratur zu schaffen.

Der Beitrag der Sefarden zur Kultur und Wissenschaft in Österreich wird noch immer nicht gewürdigt. Und noch immer sind Studien über die Bedeutung der deutschen und yidishen Sprache bei den Sefarden ein schmerzhaftes Desiderat.

1   Halévy, Michael: Shem Tov Semo. Spuren einer Biographie. In: DAVID, Jg. 21, Heft 83 (Dezember 2009), S. 42-43.

2   Halévy, Michael: Sefarad an der Donau. Sefardische Drucke aus Wien. In: DAVID, Jg. 21, Heft 82 (September 2009), S. 44-47.

3   Studemund-Halévy, Michael: Die Wiener Sefarden und die deutschsprachige Romanistik. In: Romanistik in Geschichte und Gegenwart Jg. 15, Heft 2 (2009), S. 227-244.