404: Not Found Mein jüdisches Genf David - Jüdische Kulturzeitschrift

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Mein jüdisches Genf

Tina WALZER

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DAVID: Herr Reiss, Sie leben in Genf, aber Ihre familiären Beziehungen reichen zurück nach Wien?

Reiss: Meine Eltern, Leon und Lucie Reiss, hatten eine spezielle Beziehung zu Wien. Meine Mutter wurde in Wien geboren, mein Vater in Galizien, in Tarnopol (heute Ternopil, Ukraine), er wuchs in Zürich auf und kam auf Brautschau nach Wien. Es war ein Schidduch, in moderner Form - so lernten sich meine Eltern in den 1930er Jahren an einem jüdischen Ball in Wien kennen und blieben zunächst auch dort. Stupp & Reiss war ein Textilwarengeschäft, in der Wiener Börsegasse 7,  das die Familie betrieb. Alles ging soweit gut, bis eine Gruppe österreichischer Faschisten, im Frühjahr 1933, ins Geschäft kam und braunen Stoff orderte. Am nächsten Tag waren die Reiss weg. Die Bestellung war noch aufgenommen worden, es folgte die augenblickliche Flucht aus Wien. Lucie ging nach Zürich, dort wurde dann Verlobung gefeiert. Es gelang ihr sogar, ihre Schwester und ihre Eltern nachzuholen, die dann über Kuba nach Amerika auswanderten. Das ist also sozusagen eine glückliche Shoah-Geschichte - andere Familienmitglieder sind frühzeitig nach Palästina ausgewandert.

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Blick von der Altstadt Genfs über die Reformationsmauer hinweg, erste Frühlingsboten 2010. Foto: David Rosembaum-Katzman, mit freundlicher Genehmigung R. Reiss.

DAVID: Wie waren die Lebensbedingungen für Juden in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach aus Ihrer Erfahrung?

Reiss: Mein Grossvater Fischel und mein Vater Leon sorgten in Zürich persönlich für viele Flüchtlinge und verhalfen ihnen zu einer neuen Bleibe, doch nur wenige liessen sich langfristig in der Schweiz nieder. Aus dieser Zeit stammen viele Bekanntschaften; daneben habe ich viele Freunde, die ich später kennen gelernt habe und die mir ihre Kriegsgeschichten erzählt haben. In dieser Beziehung ist die Schweiz ein kriegsversehrtes Land. Trotzdem, die Shoah scheint hier spurlos vorüber gegangen zu sein! Alle Synagogen aus der älteren Zeit, vor dem Zweiten Weltkrieg, so jene in der Löwenstrasse und vor allem in der Freigutstrasse, wo ich meine Kindheit verbracht habe, sind noch da. In der Schweiz besteht noch alles, was in Deutschland, in Österreich unter dem Nationalsozialismus unwiederbringlich zerstört worden ist - Gebäude, Familien, gesellschaftliche Strukturen. Nehmen Sie beispielsweise die Gebetbücher, die heute noch in der grossen Genfer Synagoge in Verwendung stehen: Es sind jene von Rödel aus Frankfurt bzw. Worms, alte Bücher, wie sie sonst im Grossteil Europas verbrannt worden sind und längst nicht mehr existieren. In der Beth-Yaakov-Synagoge wird immer noch nach diesem aschkenasischen Ritus gebetet.

DAVID: Die grosse Genfer Synagoge, die Beth-Yaakov-Synagoge, beherbergt also eine aschkenasische Gemeinde?

Reiss: Der Chazan, Herr Jacob Toledano, kommt aus Marokko, die meisten Juden in Genf sind heute Sefarden und geben den Ton an. Aber in den Anfängen der Genfer Gemeinde waren es Juden aus dem Elsass, die sich ansiedelten und selbstverständlich eine aschkenasische Gemeinde gründeten. Ihre Grande Synagogue, heute unter Heimatschutz, wurde später unter Mithilfe des Staates und des Bankiers Edmond Safra umgebaut. Nach dessen  Ableben wurde die Synagoge nach Safras Vater in Beth-Yaakov-Synagoge umbenannt.

DAVID: Genf gilt als Hochburg des Calvinismus, spüren Sie als Jude etwas vom calvinistisch geprägten Geist der Stadt?

Reiss: Vor allem in der Altstadt bemerke ich das, diese ist ja sehr klein, seit dem Mittelalter von einer 10, 15 Meter hohen Mauer umgeben. Mitten drin thront die Kathedrale, sie überragt ganz Genf. Die Stadt war über Jahrhunderte rein reformiert. Erst 1849 erhielten die ausgeschlossenen Religionen überhaupt das Recht, Gotteshäuser zu errichten - Katholiken, aber auch Juden: Kirchen ohne Türme, Synagogen auf dem freien Feld, im Brachland. Auch der russisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft wurde gestattet, einen Kirchenbau zu errichten. Es war das Werk eines Genfer Magistratsbeamten, dass es diesen drei Religionsgruppen, und zwar nur ihnen, gestattet wurde, Gotteshäuser in Genf zu errichten. Bald nachdem die Synagoge erbaut worden war, siedelten sich rund um sie protestantische Privatbanken an. Keine Juden, wohlgemerkt.

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Aufnahme der Grande Synagoge kurz nach der Fertigstellung, um 1860. Peçon 1998. Aus: Ron Epstein: Die Synagogen der Schweiz. Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation. Zürich: Chronos Verlag 2008, mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

DAVID: Gab es, gibt es Privatbanken in jüdischem Besitz in Genf?

Reiss: Bis zum Zweiten Weltkrieg existierten tatsächlich keine jüdischen Banken hier, erst in den 50er Jahren kamen professionelle Bankiers, vor allem aus Syrien und dem Libanon, die sich in Genf niederliessen, und hier Banken gründeten. Heute sind das stolze, blühende Bankhäuser.

DAVID: Sie kennen das sefardische Milieu dieser Zuwanderer aus eigener Anschauung?

Reiss: Kaum bin ich im Jahr 1972 mit 28 Jahren in Genf angekommen, habe ich mich in eine Libanesin verliebt, ich bin also sehr eng mit diesem Milieu verbunden. Vom ersten Tag an musste ich meine geliebten Wienerschnitzel mit Sauerkraut und Wienerli gegen libanesische Kost tauschen.

DAVID: Genf gilt als sefardische Gemeinde, diese Einschätzung scheint Ihren Ausführungen nach aber zu kurz zu greifen?

Reiss: Wie gesagt, in Genf lebte zunächst nur eine aschkenasische Gemeinde. Die ersten Sefarden kamen um 1900 aus dem Osmanischen Reich, und erst sehr spät, in den 1950er Jahren, kamen dann hunderte Familien, aufgrund der geänderten Lebensbedingungen in Nordafrika nach der Staatsgründung Israels - erst aus Tanger, dann, über Frankreich, weitere Familien aus den Maghrebstaaten. Sie sind sehr traditionell erzogen und viele besuchten jüdische Schulen. Der sefardische Einfluss wurde im Laufe der Jahre in Genf immer dominanter. Der Rabbiner, der Chazan, der Mohel, alle Gemeindefunktionäre sind mittlerweile Sefarden.

DAVID: Wie viele jüdische Gemeinden bestehen in Genf derzeit?

Reiss: Noch einmal zurück zur Geschichte, man muss das verstehen, diese erstaunliche Entwicklung: Bis ins 19. Jahrhundert gab es nur die Elsässer Gemeinde. Dann wanderten einige kleinere Familien aus dem Osmanischen Reich zu, dies führte zur Gründung einer sefardischen Gemeinde. Im Jahre 1965 vereinigten sich diese beiden unter einer Einheitsgemeinde. Einige Jahre später sonderten sich die ‚Liberalen' ab und haben vor kurzem ihr eigenes, sehr modernes Gemeindezentrum errichtet. Schätzungsweise leben 6.000 Juden gegenwärtig in dieser Stadt und bilden, nach Zürich, die zweitgrösste jüdische Gemeinde der Schweiz.

 

DAVID: Welchen historischen Stellenwert hat im Vergleich zur jüngsten Einwanderungswelle die Beth-Yaakov-Synagoge?

Reiss: Das prachtvolle Gebäude wurde ursprünglich von 200 Familien errichtet, das heisst, eigentlich für 500 Personen geplant. Heute hat die Beth-Yaakov-Synagoge mit Ausnahme der Hohen Feiertage Mühe, tagtäglich einen Gottesdienst zu offerieren. Da die Juden nicht mehr mitten in der Stadt leben, bildeten sie in ihren Wohnbezirken mehrere Gebetshäuser, die relativ gut frequentiert sind.

DAVID: Was war der Grund für die Zuwanderung aus dem Libanon, und unterscheiden sich die libanesischen Familien von anderen in Genf?

Reiss: Nehmen Sie zum Beispiel meine Ehefrau, sie kam 1957 gemeinsam mit 300 weiteren Familien nach Genf, das waren Flüchtlinge vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen in den Konflikten zwischen prowestlichen Christen und arabischen Nationalisten im Libanon. Damals verliessen praktisch alle Juden den Libanon, viele von ihnen gingen nach Südamerika - Brasilien, Argentinien -, aber auch nach Südafrika, oder einfach nach Paris. Die Genfer Familien sind heute also sehr stark international vernetzt.

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Originalplan der Genfer Synagoge von Architekt Jean Henri Bachofen, 1857. Peçon 1998. Acm - EPFL Fonds Frédéric de Morsier Charles Weibel, dossier 164.04.032. Aus: Ron Epstein: Die Synagogen der Schweiz. Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation. Zürich: Chronos Verlag 2008, mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

DAVID: Haben sich die libanesischen Juden in die bestehende Genfer jüdische Gemeinde integriert?

Reiss: Sie gehören der Einheitsgemeinde an, welche die üblichen Dienstleistungen, wie Schule und Friedhof, allen Mitgliedern offerieren. Sie haben jedoch ihre eigene sefardische Synagoge mit syro-libanesischer Ausrichtung gegründet. Später sollte dann auch noch eine zweite sefardische Synagoge gegründet werden, und zwar im ehemaligen Postgebäude Dumas, einem Mehrzweckgebäude. Daneben gibt es auch noch eine sehr aktive Chabad-Gemeinde, die in einem Bürokomplex untergebracht ist.

DAVID: Gab es  also noch andere Zuwanderungsströme?

Reiss: Genf ist aufgrund der stark vertretenen romanischen Sprachen immer ein Anziehungspunkt gewesen. In den 1970er Jahren wanderten zusätzlich etwa 200 vor allem begüterte türkische Familien hierher zu. Davor, in den 1960er Jahren kamen einige wenige ungarische, dann auch tschechische Familien. Interessanterweise hielten sich um 1910 einige russische Studenten in Genf auf, deshalb gibt es heute hier auch einige Familien russischen Ursprungs. Insgesamt ist Genf für mich ein ganz typischer Spiegel der Diaspora: aus jeder Himmelsrichtung, selbst aus Libyen und dem Jemen kamen mindestens zwei, drei Familien hierher.

 

DAVID: Ist Antisemitismus in den jüdischen Gemeinden Genfs ein Thema? In der Stadt sind ja viele internationale Organisationen ansässig, viele von ihnen vertreten eine deutlich antizionistische Stossrichtung.

Reiss: Im Jahr 2007 ist die erste sefardische Synagoge einem Brandschlag teilweise zum Opfer gefallen, der bis heute unaufgeklärt geblieben ist. Die Situation in der Stadt ist immer stark von jener in Frankreich beeinflusst. Viele Schweizer, auch politische Parteien unterstützen im israelisch-palästinensischen Konflikt die Palästinenser. In Konflikten sieht man dann viele Schmierereien mit Beschimpfungen gegen Juden an den Wänden, in der Nähe jüdischer Gebäude. Meiner Meinung nach bewegen wir uns ständig am Rande von Übergriffen. Ähnlich wie in Paris in grossem, geschehen hier solche Dinge eben in kleinerem Rahmen.

DAVID: Wie würden Sie Ihre eigene Position in diesem Kaleidoskop unterschiedlichster Ausrichtungen definieren?

Reiss: Schauen Sie, ich bin voll integriert. Zusätzlich ging ich auch noch in eine Talmud-Schule. Ich spreche 6 Sprachen, darunter neben den drei Sprachen der Schweiz Englisch und Jiddisch, genauer: Ostjiddisch. Das Westjiddische, wie man es in den alten Schweizer Judengemeinden des Surbtales, in Endingen-Lengnau gesprochen hatte, ist ja heute praktisch ausgestorben. Der Weg meiner Familie - vom Grossvater, in dessen Lebenszentrum noch Arbeiten, Beten und der Talmud standen, bis hin zu mir, der ich den Sprung vom aschkenasischen zum sefardischen Umfeld gemacht habe, stellt für Genf wirklich eine Ausnahme dar. Wie heisst es schliesslich: „Mit der Heirat unterwirft sich der Mann der Frau."

DAVID: Herr Reiss, vielen Dank für das interessante Gespräch und alles Gute!

Veröffentlichungen:

Roger Reiss: Nicht immer leicht, a Jid zu sein - Geschichten aus dem Jüdischen Genf. Zürich: Chronos Verlag 2010.
176 Seiten, Euro 18,00.- 
ISBN: 978-3-0340-1003-0

Roger Reiss: Leon und Lucie. Erinnerungen an das Zürcher Schtetl. Zürich: Orell Füssli Verlag 2008.

128 Seiten, Euro 26,50.-

ISBN: 978-3-280-06104-6

Roger Reiss: Fischel und Chaye. Szenen aus dem Zürcher Stetl. Berlin: Philo Litera Verlag 2. Aufl. 2005

156 Seiten, Euro 18,00.-

ISBN: 978-3-86572-349-9