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Jacob L. Talmon: Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band I-III.
Herausgegeben von Uwe Backes
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Gebunden, 3 Bände, insgesamt 1746 Seiten, Euro 175 ,-
ISBN 978-3-525-31011-3
Es ist dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht hochanzurechnen, dass er das Lebenswerk des Ideengeschichtlers Jacob L. Talmon einer breiten deutschsprachigen Leserschaft in Form einer schön gestalteten, dreibändigen Werkausgabe zugänglich gemacht hat. Kenntnisreich eingeleitet und kontextualisiert werden die Bände von Herausgeber Uwe Backes, Forscher am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Talmon, 1916 als Ya´akov Leib Fleischer (Flajszer) in Rippin in Nordwestpolen geboren, wanderte er aufgrund seiner zionistischen Sozialisation 1934 nach Tel Aviv aus. Zwar stammte er aus bescheidenen Verhältnissen, zeichnete sich jedoch schon früh durch Wissbegier aus. Nach seinem Geschichtsstudium an der Hebräischen Universität Jerusalem bei Richard Koebner erhielt er 1939 ein Stipendium der Universität Sorbonne, doch aufgrund der Besetzung Frankreichs durch Deutschland musste er bereits wenige Monate später nach England fliehen. Dort promovierte er an der London School of Economics und stand in engem Austausch mit führenden Intellektuellen wie Isaiah Berlin und Harold Laski. Nach einigen nicht-wissenschaftlichen Jobs in England kehrte er 1949 als Dozent an die Hebräische Universität Jerusalem zurück, wo er den ersten Teil seiner in London begonnene Studie über „Ursprünge der totalitären Demokratie" fertig stellte. 1952 erschienen, wurde sie breit rezipiert und begründete sein internationales Renommee, von dem eine Vielzahl an Lehr- und Forschungsaufenthalten in Europa und Nordamerika zeugen. 1960 folgte Band 2, kurz vor seinem Tod 1980 schloss er die Trilogie ab.
Schon als junger Student bewegte Talmon eine Schlüsselfrage: Wie konnten humanistisch und demokratisch ausgerichtete geistige und politische Strömungen - seien es die Jakobiner-Bewegung nach der Französischen Revolution oder der Kommunismus nach der Russischen Revolution - in relativ kurzer Zeit zu totalitären Ideologien mutieren? Besonders interessierte ihn die utopische, universelle, messianische und damit nicht zuletzt religiöse Dimension der inhärent auf Befreiung des Individuums angelegten Bewegungen. Anders als viele Philosophen setzt Talmon die Entstehung des „totalitären Typs der Demokratie" relativ spät an, nämlich im Zeitalter der Aufklärung und speziell während der Französischen Revolution. Ausführlich geht er auf die Ideen von Helvétius, Holbach, Morelly, Mably und Roussea ein, berufen sich laut ihm doch die liberale und die totalitäre Demokratie auf dieselben Prämissen.
Diese Dichotomie steht auch im Zentrum des zweiten Bandes, der dem „politischen Messianismus" im 19. Jahrhundert" nachspürt. Österreich ist dabei leider eine hervorragende Fallstudie, um die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Dominanz eines restaurativen, anti-liberalen Staates aufzuzeigen. Vor allem die enorme Sprengkraft eines sich exklusiv gebärdenden Nationalismus wird an Österreich beispielhaft deutlich: Der aus- und abgrenzende Deutsch-Nationalismus höhlte die ohnedies schwache Demokratie noch weiter aus. Hinzu kam der starke, in sämtlichen Parteien vorhandene Antisemitismus. Auf diesen und die überproportionale Rolle jüdischer Intellektueller in revolutionären Bewegungen geht Talmon im dritten Band ausführlich ein. Er betrachtet dieses Phänomen jedoch nicht nur rein ideengeschichtlich mit Verweis auf messianisches und utopisches Denken im Judentum, sondern unter dem übergeordneten Aspekt der gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und Einschränkungen von Juden in der Moderne. Den Abschluss von Band drei bilden Betrachtungen zum Kommunismus in der Sowjetunion, Faschismus in Italien und Nationalsozialismus in Deutschland.
Auch wenn es in der ideengeschichtlichen Debatte in den letzten Jahrzehnten zu Neubewertungen gekommen ist und sich das Erkenntnisinteresse der Totalitarismusforschung aufgrund des Ende des Ost-West-Konfliktes verschoben hat, so erweisen sich etliche Interpretationen Jacob L. Talmons doch als zeitlos. Damals wie heute regt Talmons Werk zum Nachdenken darüber an, inwieweit selbst scheinbar verwirklichte Utopien - die Demokratie in der westlichen Welt, der Zionismus in Israel - tatsächlich noch ihren Grundidealen entsprechen. Wie die Geschichte mehrmals gezeigt hat, ist das Umschlagen von liberalen, humanistischen und demokratischen Idealen in totalitäre Ideologien eine stets realistische Gefahr.