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Die österreichischen Universitäten setzen sich erst seit den 1990er Jahren mit der Geschichte der 1938 vertriebenen und ermordeten Studierenden und Lehrenden auseinander. Die beiden Zeithistoriker Herbert Posch und Linda Erker vom Institut für Zeitgeschichte der Universität haben sich in verschiedenen Projekten mit dieser Thematik auseinandergesetzt.
Collage aus dem Gedenkbuch der Universität Wien. Mit freundlicher Genehmigung Herbert Posch.
Am Universitätscampus der Universität Wien befindet sich das Denkmal „Marpe Lanefesh", in dem sich das „Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938" befindet. Welche Geschichte verbirgt sich dahinter?
Herbert Posch: Die Mauern des Denkmals „Marpe Lanefesh" sind jene des ehemaligen Gebetshauses, das 1903 nach den Plänen des Architekten Max Fleischer auf dem Grund des Alten Allgemeinen Krankenhaus (AAKH) errichtet wurde. Fleischer hatte viele Synagogen in Wien gebaut, die alle im Zuge des Novemberpogroms 1938 von den Nationalsozialisten zerstört wurden. Dieses Gebetshaus wurde damals jedoch nicht zerstört, da es im Krankenhauskomplex lag und sehr klein war. Es ist aber ausser Funktion gesetzt und während der NS-Zeit als Abstellraum benutzt worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es bis 2003 als Transformationsstation für die Stromversorgung des nahegelegenen Narrenturms genutzt. Erst in den 1980er Jahren hat die Kunsthistorikerin Ines Müller das Gebetshaus von Max Fleischer entdeckt und eine Arbeit darüber geschrieben. Als 1998 der Universitätscampus auf dem ehemaligen Areal des AAKH errichtet wurde, stand die Universität Wien vor der Frage, wie mit dem Gebetshaus und dessen Geschichte umgegangen werden sollte. Nach einigen Diskussionen und Vorschlägen, konnte sich der Entwurf der bulgarisch-österreichischen Künstlerin Minna Antova für das Denkmal „Marpe Lanefesh" durchsetzen. In ihrer Arbeit hat sie die Zerstörung des Gebetshauses während der Nazi- und Nachkriegszeit thematisiert. Alle zerstörten Bauelemente des Bethauses wurden aus Glas nachgebaut, um die Geschichte nicht zu beschönigen. 2005 wurde das Denkmal schliesslich eröffnet und als Gedenkort öffentlich zugänglich gemacht.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden 1938 über 2700 vorwiegend jüdische Angehörige der Universität Wien vertrieben. Ihre Namen sind in dem Gedenkbuch festgehalten. Ich habe erfahren, dass Sie an dem Projekt mitgearbeitet und mit einigen vertriebenen Studierenden Interviews gemacht haben.
Herbert Posch: An der Universität Wien haben während der 1930er Jahre 70 Prozent der Universitätsstudierenden aus Österreich studiert. Fast 42 Prozent sind während des Sommersemesters 1938 und dem Wintersemester 1938/39 vertrieben worden. Die meisten von ihnen konnten ihr Studium an der Universität Wien nicht mehr abschliessen. Viele konnten später in der Emigration ihr Studium nicht mehr fortsetzen. Ich habe gemeinsam mit einem Kollegen, im Kontext der Historikerkommission, im Jahr 2000 über die 1938 vertriebenen Angehörigen der Universität Wien geforscht. Im ersten Schritt haben wir festgestellt , welche Personen betroffen waren. Anschliessend haben wir versucht die noch lebenden Betroffenen zu finden, kennenzulernen und zu befragen. Wir haben damals gehofft wenigstens noch zwei bis drei ehemalige Studierende zu finden. Doch erfreulicherweise haben wir um die 150 Personen gefunden, die bereit waren mit uns zu sprechen. Wir haben bis zum Jahr 2007 versucht so viele von ihnen als möglich zu befragen und ihre Erinnerungen auf Audio- oder Videomaterial festzuhalten. Die Interviews sind auch für Privatpersonen in der Österreichischen Mediathek öffentlich zugänglich.
Linda Eker: Ich habe damals noch als Studentin ein Seminar bei Herbert Posch besucht, in dem ich mit den Videoaufnahmen und Audioaufnahmen aus den USA gearbeitet habe. Bei den Interviews ging es aber nicht nur um die Vertreibung von der Universität Wien, sondern auch um ihr Leben nach 1945. Die Aufzeichnungen enthalten viele Dinge aus deren Alltagsgeschichte, die nicht in der grossen Geschichtsschreibung thematisiert werden. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass viele Frauen ihr Studium in der Emigration nicht fortsetzen konnten. In einer Beziehung haben diese ihre eigene akademische Karriere zugunsten des Mannes aufgegeben, um ihm aufgrund der besseren Verdienstmöglichkeiten einen akademischen Abschluss zu ermöglichen. In solchen Fällen denke ich immer, wie sehr das den intellektuellen Frauen wehgetan haben muss.
Welche Erfahrungen haben Sie mit den Betroffenen gemacht?
Herbert Posch: Ich habe es als eine tolle Bereicherung empfunden, diese Menschen kennenzulernen und zu erfahren, was ihre Vertreibung von der Universität für sie bedeutet hat. Nur in einem einzigen Fall hat mir jemand gesagt, dass er mit der Universität Wien abgeschlossen hat und das damalige Vorgehen nicht verzeihen kann. Die übrigen Betroffenen haben sich aber über das Interesse an ihrer Lebensgeschichte gefreut. Bei den Interviews bin ich auch einer Sprache begegnet, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Ich würde diese als das Prager Deutsch bezeichnen, von dem man in der Literaturgeschichte hört. Bei den Gesprächen habe ich mir gedacht, da geht ein Fenster in die Geschichte auf.
Im Jahr 2009 haben sie das Projekt vorgestellt. Wie hat die Universität Wien auf die Forschungen reagiert?
Herbert Posch: Friedrich Stadler und ich haben uns nach der Gründung des „Forum Zeitgeschichte" das Ziel gesetzt, ein Gedenken an die vertriebenen Studierenden und Mitarbeiter der Universität Wien zu etablieren. Dies wurde vom damaligen Rektor Georg Winckler sehr positiv aufgenommen und unterstützt. Das Gedenkbuch existiert in zwei Versionen: einerseits wird es in klassischer Buchform im Denkmal „Marpe Lanefesh" aufbewahrt. Andererseits ist es auch in deutsch- und englischsprachiger Version im Internet als Datenbank abrufbar. Die Internetversion hat sich als überaus hilfreich erwiesen, da wir die Menschen aufgefordert haben uns fehlende Informationen zukommen zu lassen. Die Aktualisierungen nehmen seit 2011 ständig zu und momentan bekommen wir wöchentlich Anfragen von Nachfahren. Wir haben auch viele Informationen übers Internet bekommen. In einem Fall konnten wir sogar einem ehemaligen Vertriebenen weiterhelfen, da er den Nachweis der Vertreibung für eine finanzielle Entschädigung benötigt hatte. Erst durch unsere Arbeit ist er jetzt anspruchsberechtigt. Es ist grossartig, dass unsere wissenschaftliche Arbeit auch eine persönliche Wirkung hat. Das hätte ich nicht erwartet. Doch zurück zur Universität Wien: diese geht heute ganz anders um als in ihrer Vergangenheit. Denn durch die Unterstützung von derartigen Projekten zeigt sie, dass sie zu ihrer Geschichte steht und diese heute bereut.
In den wissenschaftlichen Publikationen und Zeitzeugenberichten liest man von antisemitischen Ausschreitungen an der Universität Wien, die bereits Jahre vor dem „Anschluss" Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland stattfanden.
Herbert Posch: Die Ausschreitungen an der Universität Wien hatten seit dem 19. Jahrhundert eine Kontinuität. Während der 1920er Jahre und in den Jahren 1931 und 1933 waren diese besonders gewalttägig. Besonders die „Deutsche Studentenschaft" war an antisemitischen Ausschreitungen beteiligt, die bei den jüdischen Studierenden zu schweren Verletzungen wie Schädelbasisbrüchen und Knochenbrüchen führten. Es gibt Fotografien aus den Jahren 1929 und 1931, in denen jüdische Studierende über die Stiegen der Universität Wien auf die Ringstrasse geworfen werden. Auf den Bildern sind auch Polizisten zu sehen, die jedoch nicht eingeschritten sind. Die Universität Wien erklärte damals, dass sie mit den Ausschreitungen nichts zu tun haben würde. Erst als im Jahr 1932 Angehörige aus dem Ausland anwesend waren, wurde die Regierung über die Botschaften der Länder nach den Vorkommnissen befragt. Die Botschaften wiesen darauf hin, dass die Sicherheit für die ausländischen Studierenden auf der Universität garantiert sein müsse. Seitens der Universität Wien gab es nur Beteuerungen und das Versprechen, dass eine Hochschulwache eingerichtet werden würde. In der Realität war es dann so, dass absurderweise die deutschnationalen Rädelsführer der Ausschreitungen zur Hochschulwache der Universität Wien gemacht wurden. Erst als die deutschnationalen Studierenden damit begonnen hatten katholische Studierende zu verprügeln, löste die christlich-soziale Regierung die „Deutsche Studentenschaft" als Verein auf und entzog dieser die Vertretung an der Universität. Stattdessen wurde die Hochschülerschaft Österreichs gegründet, die aber auch eine autoritäre Vertretung der Studierenden darstellte. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen wurden während des Austrofaschismus unterbunden.
Linda Erker: Ab dem Jahr 1934 wurde mit dem Austrofaschismus die Kontrolle an den Universitäten grösser. Damals durfte auch die Polizei den Boden der Hochschule betreten. Ich habe im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands aber auch Berichte von Zeitzeugen gefunden, die während des Austrofaschismus studiert hatten. Nach deren Erzählungen waren die deutschnationalen Studierenden sehr präsent und haben während der Vorlesungen - trotz des Verbots der NSDAP während des Austrofaschismus - das Horst-Wessel-Lied gesungen. Mit derartigen Aktionen haben sie sich öffentlich zu ihrer politischen Zugehörigkeit bekannt.
Im vergangenen Mai wurde von der Österreichischen HochschülerInnenschaft der Band „Österreichische Hochschulen im 20. Jahrhundert. Austrofaschismus, Nationalsozialismus und die Folgen" präsentiert. Die Beiträge wurden von Studierenden verfasst und unter anderem auch von Ihnen beiden betreut. Wer war an dem Projekt beteiligt?
Linda Erker: Die Idee zu diesem Projekt stammte von Martin Schott und Janine Wulz, die von 2011 bis 2013 Bundesvertreter der Österreichischen HochschülerInnenschaft waren, und wurde vertraglich im Exekutivvertrag festgehalten. Im Wintersemester 2012/2013 haben sich insgesamt 8 österreichische Universitäten dazu bereiterklärt Lehrveranstaltungen zu dieser Thematik anzubieten. Die Studierenden hatten dabei auch die Möglichkeit zum ersten Mal eine wissenschaftliche Studie zu verfassen und mit der eigenen Forschung nach aussen zu treten. Am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien haben Maria Mesner, Herbert Posch und ich ein Forschungsseminar angeboten. Insgesamt haben bundesweit 40 bis 50 Studierende aus 25 verschiedenen Studienrichtungen daran teilgenommen. Die Themen haben sie selbst je nach Interesse und nach ihrem Background bzw. ihrer jeweiligen Universität gewählt. Die Mehrzahl von ihnen waren keine Studierenden der Zeitgeschichte. Für sie war die Arbeit im Archiv und das Schreiben von historischen Texten eine besonders grosse Herausforderung. Ich war über das Engagement der Studierenden positiv überrascht, denn sie haben die Deadlines eingehalten und das Projekt durchgezogen. Mit den veröffentlichten Aufsätzen haben sie eine gute Arbeit geleistet.
Hat das Projekt zu neuen Forschungsergebnissen beigetragen?
Linda Erker: In unserem Forschungsseminar gab es zwei Studentinnen, die zum Thema Austrofaschismus gearbeitet haben und zum aktuellen Forschungsstand etwas beigetragen haben. Denn niemand hatte bislang zu diesen Fragenstellungen gearbeitet. In dem einen Aufsatz hat eine Studentin anhand von Archivmaterialien die Disziplinarverfahren gegen Studierende im Jahr 1934 aufgearbeitet. Die andere Studentin hat sich mit den Disziplinarverfahren gegen Lehrende während der Jahre 1933 bis 1935 auseinandergesetzt und Fallbeispiele abseits der bekannten vertriebenen Lehrenden herausgearbeitet.
Herbert Posch: Die Studierenden haben durch das Projekt viel über die Lebenswelt der Universität und ihre Geschichte mitgenommen. Heute nehmen wir die Universität auch als einen Ort der Protestkultur wahr. Aber vor 1968 hatten die österreichische Universitäten eine eher unrühmlich Rolle, da sie ein Ort von Antisemitismus und Antidemokratie waren. Den Wandel der Universitäten mitzubekommen, war für die Studierenden wichtig und spannend.
Das Gedenkbuch der Universität Wien befindet sich auf folgender Website: http://gedenkbuch.univie.ac.at/
Österreichische HochschülerInnenschaft (Hg.): Österreichische Hochschulen im 20. Jahrhundert. Austrofaschismus, Nationalsozialismus und die Folgen. Wien: Facultas 2013.