Die Prachtstrasse der Steppenstadt Orenburg, die Sowjetskaja, ist etwa ein Kilometer lang. Die Bauweise erinnert ein wenig an Sankt Petersburg. Gestern noch hat es stark geregnet, das kontinentale Steppenklima saugt die Feuchtigkeit auf den Strassen rasch auf. Ich bin 3800 km von zu Hause entfernt, auf dem Weg zur jüdischen Gemeinde von Orenburg.
Orenburg, 1500 Kilometer südöstlich von Moskau gelegen, ist eine multikulturelle Stadt
Dass hier am Ende Europas Juden leben, überrascht mich. Auf der anderen Seite der Stadt am Ural beginnt Asien. Die Multikulti-Stadt zeigt sich in allen Facetten, hier eine Moschee, da eine Polnisch-Katholische Kirche, die Lutheraner gleich nebenan, die Russisch-Orthodoxe Kirchenverwaltung befindet sich vis-à-vis der jüdischen Gemeinde. Die Synagoge wurde erst 1996 nach der politischen Wende den Juden von Orenburg zurückgegeben. Ein unscheinbar einstöckiges Gebäude, homogen reiht es sich ein in das alte Stadtviertel von Orenburg.
Die Synagoge zu Orenburg, gegründet 1870
Im Zarenreich war das Ansiedlungsrecht für Juden stark reglementiert. Juden sollten sich möglichst am Rande des Russischen Reiches, ausserhalb der grossen Städte ansiedeln. 1806 wurden sechs Juden aus Moskau nach Orenburg verbannt, das war der Anfang jüdischen Lebens in der Steppenstadt am südlichen Ural. Zar Alexander II. Nikolajewitsch (1818-1881) lockerte die Ansiedlungsrechte für Juden. 1870 wurde die Orenburger Synagoge errichtet.
Der Innenraum der Synagoge
Trotz alledem war das Leben für Juden nicht leicht. Bei einer statistischen Erhebung im Jahre 1897 kam heraus, dass 23 Russisch-Orthodoxe, 3 Katholiken und 7 Lutheraner als Muttersprache Jiddisch angaben. Ende des 18. Jahrhunderts fiel Orenburg einem Grossbrand zum Opfer. Fast die Hälfte des Ortes brannte nieder, dann kam die Oktoberrevolution, die ebenfalls nichts Gutes brachte.
Eingang zur Synagoge
Religion war den Bolschewiki ein Dorn im Auge und wurde systematisch behindert und verdrängt. Die Zerstörung von Gotteshäusern begann 1928 und wurde bis zur Stalinzeit weitergeführt. Von 21 Kirchen wurden 20 zerstört und damit auch das historische Bild der Stadt. 1931 wurde die jüdische Gemeinde enteignet und das Gebäude einem anderen Zweck zugeführt. In der Stalinzeit erfuhr Orenburg kurzfristig eine Namensänderung. Tschkalow sollte der Ort in Zukunft heissen, nach dem russischen Piloten, der als erster Mensch über den Nordpol von Moskau nach Vancouver flog. Heute heisst die alte Festungs-und Garnisonsstadt Stadt am Ural aber wieder Orenburg.
Im Frauenraum der Kehile von Orenburg erinnert eine Tafel an die herausragenden Persönlichkeiten der Gemeinde
Religion war den Bolschewiki ein Dorn im Auge und wurde systematisch behindert und verdrängt. Die Zerstörung von Gotteshäusern begann 1928 und wurde bis zur Stalinzeit weitergeführt. Von 21 Kirchen wurden 20 zerstört und damit auch das historische Bild der Stadt. 1931 wurde die jüdische Gemeinde enteignet und das Gebäude einem anderen Zweck zugeführt. In der Stalinzeit erfuhr Orenburg kurzfristig eine Namensänderung. Tschkalow sollte der Ort in Zukunft heissen, nach dem russischen Piloten, der als erster Mensch über den Nordpol von Moskau nach Vancouver flog. Heute heisst die alte Festungs-und Garnisonsstadt Stadt am Ural aber wieder Orenburg.
Blick über den Ural auf die asiatische Seite von Orenburg
Im Zweiten Weltkrieg wuchs die Bevölkerung dramatisch an. Denn Stalin liess 1942 alle wichtigen Industrieanlagen und Menschen aus den Westen in den Osten evakuieren. Die jüdische Gemeinde wuchs auf 5000 Menschen an. Anträge, eine Synagoge zu errichten, wurden jedoch immer wieder abgelehnt. Schabath und andere jüdische Feste wurden in privaten Räumen abgehalten, wie bei den Marranen in Spanien. Sich als Jude in Russland zu offenbaren, war mit Repressalien verbunden. Das zog sich hin von der Oktoberrevolution 1917 bis zur politischen Wende 1992.
Die Bibliothekarin Frieda Gendler in ihrem Reich
Um ihr Judentum leben zu können, wurde 1950 eigens ein Privathaus angemietet, das immerhin 70 Gläubigen Platz bot. Hier traf man sich regelmässig zum Schabbath oder jüdischen Festtagen.
Bis zur Wende 1992 war Orenburg, was kaum bekannt war, ein Ort der russischen Rüstungsindustrie. Hier wurden Raketen und Hubschrauber produziert. Das dazugehörige Personal erhielt seine Ausbildung in der renommierten Militärakademie vor Ort.
Ab 1992 begann der „Frühling des Glaubens". Muslime, Christen und Juden bekamen ihre Gotteshäuser wieder oder durften zumindest Zerstörtes wieder neu aufbauen. So übrigens auch die Moschee von Orenburg. 1993 stellte die jüdische Gemeinde bei der Verwaltung einen Antrag, sich als kultureller Verein registrieren zu lassen. 1996 erhielt sie ihr Grundstück mit dem Gebäude, der heutigen Synagoge, zurück. Im ersten Stock treffe ich Frieda Gendler. Voller Stolz zeigt sie mir ihr Reich, die Bibliothek.
Die Bibliothek wird stark von der Gemeinde genutzt. Wissenschaftliche Bücher, Belletristik und vor allem eine ganze Abteilung mit jiddischer Literatur stehen zur Ausleihe zu Verfügung. Die Hebräisch-Kurse der Gemeinde sind sehr beliebt bei den Religions-Studenten der Pädagogischen Universität.
Die Bibliothek der Stolz der Gemeinde
Das Kulturfestival „Schalom" ist das Highlight des Jahres, da kommt die ganze Gemeinde zusammen. Seit siebzehn Jahren werden interessante Künstler aus USA, Israel und natürlich aus Moskau eingeladen. Freudestrahlend überreicht mir Frieda Gendler den neuen jüdischen Jahreskalender, herausgegeben vom Zentralverband der russischen Juden in Moskau.
2000 Menschen zählt die Orenburger Kehile heute. Die Gemeinde platzt aus allen Nähten, und so weicht man bei jüdischen Festen oft ins Gebietstheater oder in die städtische Komödie aus. Rabbi Goel Maiers kam vor acht Jahren aus Israel nach Orenburg. Amerikanische Sponsoren halfen, den Wohltätigkeitsverein „Hessed Aviv" zu gründen. Mahlzeiten für arme Menschen, medizinische Hilfe und Lebensmittelspenden werden an Bedürftige verteilt. Tartaren und Kasachen kommen oft ins Haus. Die Mildtätigkeit der Juden von Orenburg hat sich schnell herumgesprochen.
Der jüdische Jahreskalender 5772
Seit dem 15. September 2011 gibt es einen wöchentlichen Nonstop Flug nach Israel, durchgeführt von der russischen Fluggesellschaft ORENAIR. Die Strecke wurde offiziell eingeweiht: Eine Delegation der jüdischen Gemeinde flog nach Tel Aviv. Der Vorsitzende der Orenburger Juden sprach anlässlich der Pressekonferenz über die Stadt am Ural und meinte augenzwinkernd ganz nebenbei: „Ich muss Ihnen ein Staatsgeheimnis verraten. Wir haben jetzt in der Oblast Orenburg (Region Orenburg) eine neue Hymne, hierin heisst es unter anderem:
„... hier preist man den Christus und Buddha
hier sind befreundet Thora und Koran ..."
„Und was meinen Sie, wer die Hymne verfasst hat? Zwei Juden! Dawid Tuchmanow und Juri Entin, bekannte Autoren der russischen Kulturszene!"
Fotos: Mit freundlicher Genehmigung von Manfred Lemm