Die Geschichtsthesen Walter Benjamins, geschrieben im französischen Exil etliche Monate vor seinem Freitod in den Pyrenäen (1940), sind eines der besten Zeugnisse messianischer Theologie in materialistischer Sprache.1 Sie sind auch das Spiegelbild des „janusköpfigen" Denkens von Benjamin, der vor allem im letzten Jahrzehnt seines Lebens immer intensiver an einer Verknüpfung von historischem Materialismus und mystischen Messianismus arbeitete.
Zur Niederschrift der Thesen „Über den Begriff der Geschichte" sah er sich durch die prekären Zeitumstände, den Krieg und die damit neu entstandenen politischen Konstellationen genötigt. Sie können als sein politisch-philosophisches um nicht zu sagen politisch-theologisches, Testament betrachtet werden. Hier, gegen Ende seines Lebens, kamen sich die beiden Gesichtsseiten seines Denkens immer näher, um schliesslich in einer einzigartigen Weise zusammenzuschmelzen. Ob man nun die Thesen als ein „Dokument revolutionären Denkens, das zu den radikalsten, innovativsten und visionärsten seit Marx's ´Thesen über Feuerbach´ gehört"2 einstuft, oder in ihnen die endgültige Abkehr vom existierenden Kommunismus erblickt,3 allein diese Einschätzungen sind es Wert, sich den Thesen genauer zu widmen.
Geschichte der Besiegten
Die Kernaussage der Geschichtsthesen besagt, die bisherige Geschichte wurde von den Historikern als eine „Geschichte von Siegern" geschrieben, es gilt nun, dieser eine „Geschichte der Besiegten" entgegenzusetzen. Jene, die von der Geschichte dem Vergessen preisgegeben wurden, sollten die Historie gestalten. Ein Perspektivenwechsel, der aus einer Parteinahme, die politisch zu bezeichnen ist, resultiert und, der von Benjamin mit einer ethischen Grundüberzeugung, einer Verantwortung für die Vergangenheit verbunden wird.4 Mit diesem Schritt stellt sich Benjamin bewusst gegen die gängige Geschichtsauffassung, sowohl gegen die bürgerliche wie auch gegen die marxistische. Sie beide betrachten die Geschichte als zielgerichtet und zweckerfüllt und, was nicht minder wichtig ist, die Vergangenheit als abgeschlossen. Die Geschichte sei demnach der Ort, in dem sich der Weltgeist entfaltet (Hegel), oder sie bilde eine Abfolge von Generationen, die unausweichlich auf die klassenlose Gesellschaft zusteuert (Marx).
Bereits in der ersten These führt Benjamin das Begriffspaar historischer Materialismus und Theologie ein. Er schildert zunächst das Bild eines Schachautomaten, der jeden Zug des Gegenspielers so erwidern konnte, dass ihm der Gewinn der Partie sicher war. Dieser „Meister" tritt in Form einer Puppe auf, und für den Betrachter erweckt er den Anschein zu gewinnen, in Wahrheit aber steckt ein Zwerg dahinter, der die Puppe lenkt.5 Analog dazu ist in der Philosophie das Verhältnis zwischen historischem Materialismus, dem offenbaren Teil, und der Theologie, die „klein und hässlich" sei und „sich ohnehin nicht darf blicken lassen", zu verstehen. Der historische Materialismus erwecke nur den Anschein zu gewinnen, kann dies aber nur, wenn die Theologie in seinem Dienst steht. Somit bedingen, allen oberflächlichen Gegensätzen zum trotz, historischer Materialismus und Theologie einander - der erste als der in der Geschichte wirkende Part und die zweite als Quelle für das „know-how".
Die kritische Einstellung gegenüber der Möglichkeit, aus geschichtlichen Ereignissen Erkenntnisse zu ziehen, äussert er in der fünften These. „Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte." Eine Vergangenheit, die in der Gegenwart nicht erkannt wird oder in sie hineinwirkt, verschwindet allmählich. Mit dem Erkennen meint Benjamin Vergangenes erfahren, im Gegensatz zum Erfassen, „wie etwas war". Dass Geschichte nicht abgeschlossen ist, glaubt er darin zu sehen, dass sie sogar vor den Toten nicht Halt macht, denn auch die Toten werden vor dem siegreichen Feind nicht sicher sein (These VI). Mit dieser Auffassung öffnet Benjamin die Vergangenheit für die Gegenwart und vor allem auch für die Zukunft. Seine Kritik an der herkömmlichen Geschichtsschreibung, deren Vorstellung von Zeitabfolge nicht zu halten sei, muss auch als direkte Kritik an einer der Grundüberzeugungen der marxistischen Theorie gesehen werden. Nichtsdestotrotz fliessen in den Text unentwegt Verweise auf die Zeitumstände hinein, die stark politisch und „revolutionär" zu verstehen sind.
Die zentrale These im Text ist These IX. Sie bildet wohl eine der gelungensten und treffendsten Kritiken des Fortschrittsglaubens, von dem weite Kreise bis ins zwanzigste Jahrhundert erfasst waren. Ausgangspunkt ist das Bild von Paul Klee „Angelus Novus".6 Der Engel der Geschichte wendet sein Antlitz der Vergangenheit zu, die er als stets wachsende Anhäufung von Trümmern sieht. Er möchte „die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen". Da ein Sturm vom Paradiese aus weht, ist er jedoch dazu nicht in der Lage, „dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Benjamins Engel hätte gerne den Tikkun vollzogen und die ursprüngliche Harmonie wieder hergestellt, jedoch reichten seine Kräfte dazu nicht aus.7 Der Engel der Geschichte, oder besser gesagt, die Geschichte, ist eben nicht der Messias, sie ist nicht imstande, die Trümmer zusammenzufügen. Geschichte kann nicht die Erlösung bringen!
Jetzttzeit
Wegen dieser historischen Erfahrung und des immer höher steigenden Trümmerhaufens, den Benjamin als Ergebnis des Fortschrittssturms versteht, verlangt er eine Neubewertung, einen radikalen Wandel in der Betrachtung des Historischen. Den Besiegten soll unsere Aufmerksamkeit gelten, denn ihnen war bis jetzt keine Stimme verliehen. Da Benjamin die Geschichte nicht als Fortschreiten in einer homogenen und leeren Zeit versteht, muss seine Kritik des Fortschritts auch eine Kritik des Geschichtsverständnisses umfassen. An dieser Stelle führt er einen für sein Denken charakteristischen Begriff ein - die Jetztzeit. Sie kann als schockartige Vergegenwärtigung der unfertigen Vergangenheit, des unabgeschlossenen Gewesenen, verstanden werden.8 „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet", heisst es in der These XIV.
Damit wendet sich Benjamin entschieden gegen die Linearität, von der die Geschichtsschreibung ausgeht, gegen jegliches Akkumulieren von historischen Ereignissen, und fordert vom historischen Materialismus, „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen" und jedes historische Ereignis als das zu betrachten, was es ist - eine Monade (Thesen XVI u. XVII). Dann kann er darin „das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens" erkennen, und die „unterdrückte Vergangenheit" bekommt die Möglichkeit, gehört zu werden. Benjamin versteht Geschichte nicht als kontinuierlich sich entwickelnde Zeit und daher muss dieses vermeintliche Kontinuum aufgesprengt werden. Denn nur in der Gegenwart als der „Jetztzeit" lassen sich verstreut Splitter der messianischen Epoche finden (Anhang A).
Im letzten Absatz der Thesen tritt noch ein weiterer Schlüsselbegriff Benjamins auf - das Eingedenken. Benjamin versteht darunter kein einfaches An- oder Gedenken (diese würden sich nur im Bereich des Erlebnisses und der Emotion bewegen), sondern eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich a-theologisch zu begreifen.9 Zwei Ereignisse aus der Vergangenheit rücken dabei in den Fokus des Eingedenkens - der seit der Geschichtsschreibung herrschende Kampf der Besiegten um ihren Platz in der Geschichte und die Vorstellung vom „verlorenen Paradies", der idealen Gesellschaft aus ferner Vergangenheit, von der wir uns, vom Fortschrittssturm gejagt, immer mehr und mehr entfernen. Wie viele politisch links stehende Intellektuelle richtete auch Benjamin seine Hoffnung auf ein Wiedererstehen einer „goldenen Vergangenheit" in der unmittelbaren Zukunft - jeder Augenblick trägt potenziell die Jetztzeit in sich, und so „war [in ihr] jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte."10
1 Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1977, I. 2, S. 691-704, auch in: ders.: Kairos. Schriften zur Philosophie, Frankfurt am Main 2007, S. 313-324.
2 So charakterisierte Michael Löwy Benjamins Thesen in: Erlösung und Utopie, Berlin 2002, S. 188.
3 Vgl. Gershom Scholem: „Benjamin [schrieb] nach seiner Entlassung aus dem Lager ... jene Thesen „Über den Begriff der Geschichte", in denen sein Erwachen aus dem Schock des Hitler-Stalin-Paktes sich vollzog. (in: „Walter Benjamin und sein Engel", Frankfurt am Main 1983, S. 64)
4 Vgl. Stephane Moses: Der Engel der Geschichte, Frankfurt am Main 1994, S. 139.
5 Wolfgang von Kempelen konstruierte 1769 einen Schachroboter (Kempelenscher Automat). Benjamin war für seine erste These wahrscheinlich von einer Erzählung Edgar Allan Poes „Maelzels Schachspieler" inspiriert worden.
6 Vgl. Gershom Scholem, op. cit.
7 S. Gershom Scholem, ebenda, S. 66f. Scholem war überzeugt, Benjamin schwebte der Begriff des Tikkun in diesem Bild der These IX vor.
8 S. Caroline Heinrich: Grundriss zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, Wien 2004, S. 148.
9 Vgl. Michael Löwy, op. cit. S. 173f.
10 S. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, I. 2, S. 704, bzw. in: Kairos. Schriften zur Philosophie, S. 324.