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Ein vergeblicher Versuch

Michael HALÉVY

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Der junge Wiener Medizinstudent Ángel Pulido Martin berichtet 1903 seinem Vater, dem einflussreichen spanischen Senator Ángel Fernandez Pulido, von der Gründung eines neuen spanisch-orientalischen Vereins in Wien: 

 

„In Wien erscheint seit einigen Monaten die judenspanische Zeitschrift El Progresso. Junge Männer haben neulich einen spanisch-orientalischen Verein (Sociedad Española Oriental) namens Esperanza gegründet. Diese Gesellschaft hat in diesem Winter mehrere Treffen organisiert, an denen erlesene österreichische Persönlichkeiten teilgenommen haben. Dieses Zentrum hat sich in bescheidenen Räumen eingerichtet, aber Situation der Gesellschaft ist vielversprechend, so dass sie in Kürze grössere Räume beziehen wird."1,2

Die wechselvolle Geschichte der Esperanza zeigt den letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch junger Sefarden aus Wien und aus den Balkanländern, ihre Muttersprache zu modernisieren und gegebenenfalls zu standardisieren. Der Sprachenkampf wurde vor allem in den sefardischen Zeitschriften wie Amigo del Puevlo (Sofia-Belgrad), El Mundo Sefardi (Wien), El Correo Sefardi (Wien), El Progreso (Wien) und Jevrejski Glas (Zagreb) ausgetragen. Eine abschliessende Bewertung dieses Sprachenkampfes ist trotz zahlreicher neuerer Studien noch immer ein Desiderat.3 Im Mittelpunkt dieses kurzen Beitrages steht ein 1923 in kroatischer Sprache verfasster Aufsatz über das Ende der Esperanza, den H. Samokovlija in der Zeitschrift Jevrejski Glas veröffentlichte.

Zum ersten Mal erwähnt wird die Esperanza in einem Leserbrief  an die die in Sofia erscheinenden Zeitschrift El Amigo del Puevlo vom 28. November 1896. In diesem Brief schreibt der Wiener Medizinstudent und Präsident der Esperanza Rafael Bedjerano:

 

„Im vergangenen Monat wurde [in Wien] eine akademische Gesellschaft der spaniolischen Juden mit dem Namen Esperanza gegründet und zwar mit der Absicht, die judenspanische Sprache und Literatur zu bewahren. Die Mitglieder dieser Gesellschaft sind junge spaniolische Juden aus Serbien, Bulgarien und Österreich-Ungarn, die in Wien die höheren Schulen besuchen, dazu kommen noch in Wien geborene junge Menschen, unter ihnen Studenten oder Kaufleute. Sie alle opfern Zeit und Geld, um die spaniolische Sprache zu studieren und sie vom den fremden Wörtern zu säubern, die auf Grund des Einflusses ihrer Heimatländer in grosser Zahl eingedrungen sind und unsere so schöne und nützlicher Muttersprache verdorben haben [...]."4

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt in der von Mitgliedern der Esperansa verlegten Zeitschrift El Progreso eine heftige Polemik um die Zukunft des Judenspanischen.5  In höflichen Worten weisen die Autoren die Bemühungen Spaniens um das Interesse an den Sefarden zurück, weil sich in ihren Augen Spanien vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen den Sefarden anbiedert:

 

„Nicht aus Liebe zu Spanien, ganz im Gegenteil, sondern allein aus der Liebe zu unserem Volke und aus Liebe zu unserem Judentum (djudaizmo), halten wir die spanische Sprache in Ehren, die unsere Eltern sprachen und die wir als Kinder schon als Muttersprache lernten."6

 

Das Ziel der Esperanza war die Reinigung und die Vervollkommnung einer Sprache, die in ihren Augen keinen Wert besass, weder für die Wissenschaft noch für die Literatur, denn das Judenspanische war voller Fehler und Mängel, wurde es doch in der hebräischen Rashi-Schrift gedruckt und in der hebräischen Solitreo-Schrift geschrieben. Für andere hingegen, so zum Beispiel für Eliyahu de Torres aus Saloniki, war die Entsendung spanischer Lehrer und der Kontakt der Sefarden mit Spanien eine gute Möglichkeit, die Sprache und die Literatur zu retten. Weitere Teilnehmer an dieser erregt geführten Debatte waren der Marquis Isodoro de Hoyos, ehemaliger spanischer Botschafter in Wien, und der Senator Ángel Pulido Fernández, der sich nicht nur vehement für die Annäherung der Sefarden an Spanien ausgesprochen hatte, sondern auch das Judenspanische von seinen türkischen und balkanischen Elementen „befreien" wollte.

In einem Brief an den Senator bedauert der Wiener Bankier Rafael Masliah den Niedergang des Judenspanischen, für den seiner Meinung nach allein Spanien verantwortlich war, weil es die Interessen der Sefarden nicht entschieden genug verteidigt hatte:

 

„Mit grosser Traurigkeit muss ich feststellen, dass die [sefardische] Jugend in Wien und in den Balkanstaaten sich immer mehr von ihrer Muttersprache entfernen. Die Sprachen ihrer Heimatländer, Deutsch und Serbisch verdrängen das Spanische, nur  noch die Alten halten an ihrer Muttersprache fest."7

 

Der Student Moritz Levi und Ben-Tsion Alkalay, Präsident der Esperanza, setzen den Senator Ángel Pulido Fernández darüber in Kenntnis, dass die österreichischen, ungarischen, bosnischen, rumänischen, bulgarischen und griechischen Sefarden den Entschluss gefasst hätten, das Judenspanische aufzugeben, weil es ein Jargon sei, dem jede poetische Kraft fehlen würde (jargon defecto de toda expressión poetica).8 Kein Wunder also, dass die Zeitschrift El Progreso die Raschi-Schrift zu Gunsten der Lateinschrift aufgab. Für den in Wien zum Dr.phil. promovierten Philologen Kalmi Baruch jedoch bezeugte das Judenspanische die Identität der sefardischen Juden, das überdies geeignet war, als Verkehrssprache aller Sefarden im Orient und im Balkan zu dienen, auch wenn diese nicht mehr in der Lage sei, die Kultursprache einer modernen Gesellschaft zu sein.9

Ähnlich äusserte sich der bulgarische Arzt Saul Mezan, für den das Judenspanische nur noch eine tote Sprache war, ungeeignet für Wissenschaft und Literatur, aber geeignet, die Sefarden auf die Zukunft vorzubereiten.10 Kein Wunder also, dass nicht nur Zeitungen in judenspanischer Sprache erschienenen, sondern auch Lehrbücher zum Erlernen der hebräischen Sprache!

Einen guten Einblick in die  ehrgeizigen Ziele und die geringen Erfolge der Esperanza, über deren Geschichte noch immer keine grundlegende Studie existiert, verdanken wir einem kurzen Text in kroatischer Sprache,11 der hier zum ersten Mal in deutscher Sprache publiziert wird:

 

Eine wichtige Tagung des sefardischen Gesellschaft Esperanza in Wien

Am Mittwoch, den 15. Februar führte die oben genannte Gesellschaft eine ausserordentliche Tagung durch, wozu alle sich in Wien ständig oder zufällig aufhaltenden Senioren der Gesellschaft, wie auch ihre Ehrenmitglieder, eingeladen waren. Die Initiative für diese Tagung gaben Senioren der Esperanza aus dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, die vor etwa einem Monat einen Appell in Bezug auf die Schenkung oder Leihgabe der Bibliothek der Esperanza an die gleichnamige Gesellschaft in Zagreb gerichtet hatten. Dieser Appell erfolgte in Rücksicht auf die allzu kleine Mitgliederzahl der heutigen Esperanza in Wien. Da die Esperanza in Wien eine Vereinigung von sefardischen Akademikern vom Balkan und aus dem Orient, besser gesagt aus der ganzen Welt ist, und da der Verkauf der Bibliothek die vorherige Liquidation der Gesellschaft voraussetzt, so hatte die angeführte Tagung zu allererst die Frage des Weiterbestehens oder der Auflösung der Gesellschaft zu behandeln.

Vor dem Beginn der Diskussion über diese Frage hielt H. Samokovlija, Mitglied der Esperanza, der die Tagung der Versammlung einberufen hatte, ein Referat über die Krise der heutigen Esperanza und erklärte den Grund, aus welchen ihre Mitgliederzahl heute so gesunken ist. In Hauptzügen beschrieb er zuerst die Aktivitäten der Esperanza nach dem Weltkrieg, dann betonte er, dass das Jahr 1921, als die Gesellschaft ihr 25. Jubiläum feierte, auch das Jahr 1922 und, einschliesslich, das Jahr 1923, - als die Gesellschaft ihre Monatszeitschrift El Mundo Sefardi zu herausgeben und zu verlegen begann, - zum goldenen Zeitalter der Nachkriegsaktivitäten der Gesellschaft gehören. Die politische und wirtschaftliche Situation wie auch eine mehr oder weniger vorhandene Oberflächlichkeit und materialistische Orientierung der Nachkriegsgeneration der Akademiker, aus denen sich neue Mitglieder der Gesellschaft rekrutierten, hemmten immer mehr die Arbeit und die Bestrebungen von einigen Mitgliedern, die für die hohen Ziele der Gesellschaft mehr Verständnis hatten. Der letzte Versuch, die Esperanza in Wien zumindest durch die Erhöhung der Mitgliederzahl zu stärken, erfolgte im Jahre 1927, also genau vor einem Jahr, doch dieser Versuch blieb leider ohne Erfolg, da er technisch schlecht vorbereitet war.

   Im Augenblick befindet sich Esperanza also an einem Scheideweg: Soll sie weiterhin so ohne Mitglieder existieren, oder soll sie aufgelöst werden? Diese Worte des Referenten riefen eine interessante und lebhafte Debatte hervor, an der alle anwesenden Senioren und Ehrenmitglieder der Gesellschaft teilnahmen. Ohne Ausnahme erklärten sich alle gegen die Auflösung der Gesellschaft; sie argumentierten, die Krise sei vorläufig und dass eine geschichtlich ruhmreiche Gesellschaft wie Esperanza in Wien aufrechterhalten werden solle und müsse, und sie versprachen alle, sich mit Selbstaufopferung für die Reaktivierung und Erhöhung der Mitgliederzahl einzusetzen. Auf den Vorschlag des Oberrabbiners Dr. Ovadia (Wien) wurde der Ehrenvorsitzende der Esperanza, Herr  Leon Haim gebeten, Führung und Verantwortung während der Dauer der Krise zu übernehmen und eine Aktion zu leiten, die sofort mit dem Ziel zu starten war, eine möglichst grosse Zahl von sefardischen Akademikern, die es zweifelsohne noch an den Wiener Hochschulen gab, zu organisieren. Der Ehrenvorsitzende der Esperanza, Herr Leon Haim aus Wien, der auch am stärksten für das Weiterbestehen der Gesellschaft plädierte, nahm, aufs Beste vorbereitet, die ihm anvertraute Mission an, worauf ihm von Seiten der Anwesenden jede Hilfe versprochen wurde.

   Nach diesem Beschluss steht also die Wiener Esperanza vor ihrer neuen Auferstehung. Gegen diesen Beschluss wurde auf der Versammlung ein Appell von Senioren aus Jugoslawien mit einem Begleitbrief des Ehrenmitglieds und Senioren aus Sarajevo, des Herrn Dr. Vita Kajon, vorgelesen; wegen seiner edlen  und aufrichtigen Absicht stiess dieser Appell auf die Zustimmung von Anwesenden, doch der Vorschlag musste von der Tagesordnung abgesetzt werden, da er nach dem ersten Beschluss gegenstandslos geworden war. Das Resultat dieser Tagung ist der Beweis für die Aktivität der sefardischen Intellektuellen, der Senioren von Esperanza, denen der Fortschritt des sefardischen Teils des jüdischen Volkes so sehr am Herzen liegt. Alles dies ist der Erfolg der erzieherischen Arbeit der Wiener Esperanza vor dem Kriege. Alle Intellektuellen, die aus der Wiener Esperanza hervorgegangen sind, erfüllen bewusst und aufopferungsvoll in ihren Vereinen die Aufgabe, für die sie in der Esperanza erzogen worden sind. Wer kennt zum Beispiel noch nicht die eifrige Tätigkeit der jugoslawischen Senioren auf dem Gebiet der Aufklärung und Erhöhung des Volksbewusstseins der jugoslawischen Sefarden? Hier sollen wir erwähnen, dass derselbe Senior der Esperanza, Dr. Vita Kajon (Sarajevo), der in das jüdischen Leben in Bosnien und Hercegovina den Geist der Aufklärung hineingetragen hat und, zusammen mit anderen Senioren der Esperanza, Grundlage der Blüte und der Erneuerung des sefardischen Elements auf allen Gebieten im Leben des Volkes geschaffen, seinerzeit auch in der Wiener Sefardengemeinschaft als Erster den Keim des modernen jüdischen  kulturellen und nationalen Fortschritts gelegt hat. Hier wurde auf seine Initiative und Mitarbeit die zionistische Gesellschaft El Correo Sefardi usw. gegründet. Um die Aktivitäten unserer Senioren hervorzuheben, würde es reichen, einfach ihre Namen aufzuzählen, die bei uns aus den Zeitungen allen bekannt sind. Weniger sind bei uns die Senioren der Esperanza aus Bulgarien bekannt. Hier sollen wir an erster Stelle den Herrn Max Menachem (Sofia) erwähnen, der Vorstandsmitglied des Konsistoriums der bulgarischen Juden ist und den Herrn Isidor Baruch, der bereits seit zwei Jahren die kultur-gesellschaftliche Zeitschrift Die jüdische Tribüne zwei Mal im Monat in Rustschuk (in bulgarischer Sprache) herausgibt.

   Kurz und gut, da ich nicht die Absicht habe, eine geschichtliche Abhandlung über die Bedeutung der Wiener Esperanza zu schreiben, beende ich hiermit diesen Bericht. Ich hoffe, dass die Senioren der Esperanza aus unserem Königreich die Nachricht vom weiteren Bestehen der Esperanza in Wien mit Vergnügen und Überzeugung empfangen werden, dass eine Gesellschaft mit Verdiensten und der grossen Tradition, wie sie die Wiener Esperanza aufweist, aufrechterhalten werden muss, weil etwas Unterbrochenes nicht wieder leicht organisch zusammengefügt werden kann.

 

P. S. Beiträge für die Wiener Esperanza sollen an die Adresse Leon Haim, Wien II., Negerlegasse 10 geschickt werden.

 

1 Angel Pulido Martin, Cartas médicas, Madrid 1906, S. 55

2 Alle Übersetzungen aus dem Kroatischen und Judenspanischen stammen con Michael Halévy.

3 Siehe dazu Michael Studemund-Halévy & Gaelle Collin, ‹Sefarad sur les rives du Danube: Vienne et la littérature judéo-espagnole›, Miscelânea de Estudios Árabes y Hebraicos 58, 2008, 149-211; Michael Studemund-Halévy, ‹Sefarad an der Donau. Die Wiener Sefarden und die deutschsprachige Romanistik›, Romanistik in Geschichte und Gegenwart XV, 2, 2009, S. 227-244; idem, ‹Im Sprachenkampf: Die Wiener akademische Gesellschaft Esperanza› (im Druck); Ivana Vu�ina Simovi�, ‹El léxico lingüícida vs. favorecedor en el proceso de mantenimiento / dezplazamiento del judeoespañol de Oriente›, W. Busse & Michael Studemund-Halévy, ‹Lexicología y lexicografía judeoespañolas (Hrsg.), Bern 2011, S. 143-164; eadem, Los sefardíes ante su lengua: la sociedad académica Esperanza de Viena (im Druck); Aldina Quintana, ‹De timidos sefardistas a sionistas declarados: el círculo de El Amigo del Puevlo (1881-1892) y la cuestion de las lenguas›, Neue Romania 40 / Judenspanisch XIII, 2010, S. 5-20; Stephanie von Schmädel, ‹El Correo Sefaradi de Viena o el judeoespañol en letras latinas en un periódico sionista sefardí de entreguerras›, Neue Romania 40 / Judenspanisch XIII, 2010, S. 21-45.

4 El Amigo del Puevlo, Sofia, Nr. 16, 1896, S. 246-247 [246].

5 Siehe dazu Gaelle Collin & Michael Studemund-Halévy 2008.

6 El Progreso, 15. 1. 1900.

7 Ángel Pulido Fernández, Españoles sin patria y la raza sefardí, Madrid 1905, S. 308.

8 Ángel Pulido y Fernández, Madrid Españoles sin patria y la raza sefardí, Madrid 1905, S. 121-130, idem, Los israelitas españoles y el idioma sefardí, Madrid 1904, S. 51-57 und S. 117.

9 El Mundo Sefardi 1, 1, 1923, S. 25.

10 Die Zeitschrift El Mundo Sefardi. Revista para la vida sosyal i kultura hatte sich zum Ziel gesetzt, alle noch bekannten Legenden und Traditionen bei den Sefarden im Orient und im Balkan zu sammeln (1.1.1923, S. 41a).

11 H. Samokovlija,  Jedna va na skupš tina sefardskog adademskog druš tva Esperanza u Beu›, Jevreiski Glas, 2. März 1928, S. 3-4.