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„Ostjuden“ – Geschichte und Mythos

Martha KEIL und Barbara STAUDINGER

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Tagungsbericht zur 21. Internationalen Sommerakademie des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs (in Kooperation mit dem Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien), vom 6. bis 8. Juli 2011 in Wien, Veranstaltungszentrum Erste Bank.

 

Um 1900 veränderte sich die jüdische Welt Mitteleuropas. Pogrome vor allem im Russischen Reich und wirtschaftliche Not hatten zur Folge, dass osteuropäische Jüdinnen und Juden in Massen in den Westen migrierten, in die europäischen Metropolen ebenso wie nach Amerika. Die in der Mehrzahl tief religiösen „Ostjuden" trafen dort auf weitgehend in die nichtjüdische Gesellschaft integrierte „Westjuden" und damit auf ein völlig neues jüdisches Umfeld. Dessen Reaktion schwankte einerseits zwischen Ablehnung der vermeintlichen „Hinterwäldler" und andererseits der Stilisierung des „wahren", weil „authentischen" Judentums, das man selbst bereits verloren hatte. Aber auch die „Ostjuden" verarbeiteten ihre neue Lebenssituation auf unterschiedliche Weise.

Anders als in der Bundesrepublik Deutschland ist die kritische Hinterfragung der häufig verwendeten  Bezeichnung „Ostjuden" in Österreich erst seit kurzem aktuell. Aus diesem Grund griff die Tagung das Thema auf und diskutierte den Begriff, der vor allem durch Joseph Roths Werk „Juden auf Wanderschaft" (Berlin 1927) in den öffentlichen Diskurs einging. Das Bild des „Ostjuden" ging auch von Zeitgenossen oft mit einer abwertenden Beschreibung und einem negativen Klischeebild einher, das als Projektion von Ängsten und Vorurteilen - sowohl von Nichtjuden als auch von Juden - erklärt werden kann. Trotzdem wurde dieser belastete oder zumindest keineswegs neutrale Begriff von der historischen Forschung aufgenommen. Insbesondere der Historiker Heiko Haumann (Prof. em. der Universität Basel) hatte mit seiner 1990 veröffentlichten, zu Recht gerühmten „Geschichte der Ostjuden"  daran entscheidenden Anteil.

Heute wird, erklärte die Professorin an der Freien Universität Berlin Gertrud Pickhan in ihrem Eröffnungsvortrag, der Begriff „Ostjuden" kritisch hinterfragt. Die Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte und eine Einbeziehung der jüdischen Selbstwahrnehmung führten zu einer differenzierten Betrachtung. Denn die „Ostjuden" sind, so Pickhan, im Wesentlichen ein Konstrukt, sowohl seitens der Zeitgenossen wie auch der Forschung und keine adäquate Bezeichnung für die Gesamtheit der jüdischen Migranten und Migrantinnen aus Osteuropa. Sie schlug vor, mit dem Ausdruck „Misrekh Yidishkeyt" eine ins Jiddische übersetzte Selbstbezeichnung zu wählen und damit die Selbstwahrnehmung der Betroffenen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen.

Orte und Menschen

Ausgehend von diesen Überlegungen führte das erste Panel der Tagung zu den jüdischen Gemeinden Galiziens, zu den Schtetln und den politischen und wirtschaftlichen Lebensgrundlagen. Dies bedeutet eine Fokusverschiebung in der Forschung, da der  Untersuchungsschwerpunkt bisher zumeist auf den osteuropäischen Juden als Migranten in den Zentren Mittel- und Westeuropas oder auch in den USA lag. Über die Gemeinden in Osteuropa selbst ist im Vergleich relativ wenig geforscht worden. Der aus Lemberg/Lv'iv stammende Historiker Svjatoslav Pacholkiv, der am Institut für jüdische Geschichte Österreichs (INJOEST) in einem FWF-Projekt zu den jüdischen Gemeinden in Galizien 1790-1848 forscht, beschäftigte sich mit  der inneren Struktur dieser Gemeinden. Er zeichnete die Entwicklung der Gemeindeverwaltung (Kahal) nach, die hauptsächlich von einer kleinen, wohlhabenden, miteinander verwandten und verschwägerten Oligarchie getragen wurde. Die mehr als 75% der übrigen Gemeindemitglieder waren aufgrund ihrer marginalen oder überhaupt nicht vorhandenen Steuerleistung von jeder politischen Teilhabe ausgeschlossen. 

Börries Kuzmany, Historiker am Doktoratskolleg Galizien des Instituts für Slawistik der Universität Wien, setzte sich mit der Geschichte und Wahrnehmung des Schtetls auseinander. Auch hier zeigte sich, dass die Verwendung des Schtetl-Begriffs zu einer Vereinheitlichung des Bildes von dieser jüdischen Ansiedlungsform geführt hat, das wenig oder gar nicht der Realität entspricht. Die zahlreichen Schtetln Zentral- und Osteuropas unterschieden sich in Grösse, jüdischem Bevölkerungsanteil, politischer Herrschaft und religiöser Ausrichtung stark voneinander. Allen gemeinsam war ihre wirtschaftliche und kulturelle Vermittlerrolle zwischen Adel und Bauern sowie Stadt und Land.

Von einem ganz anderen Blickwinkel näherte sich Andreas Vormaier, Kurator am Technischen Museum Wien mit Spezialgebiet Energie und Bergbau, dem Thema: Er stellte ein in der Forschung nur wenig beachtetes Erwerbsfeld der galizischen Juden vor, das zu einer Differenzierung des häufig beschworenen Klischees vom mittellosen und erwerbsuntüchtigen galizischen Juden führen sollte. Viele Juden waren nämlich sowohl in der Führungsebene als auch in der Arbeiterschaft wesentlich an der Erdölproduktion in Galizien beteiligt; ihre Abwanderung führte sogar zum Zusammenbruch dieses Industriezweigs. Susanne Talabardon, Professorin für Judaistik an der Universität Bamberg, beschäftigte sich mit Elimelech von Lezajsk und seiner Entwicklung vom traditionellen Rabbiner zum „Zaddik (ein vollkommen Gerechter) von Galizien". In seinen Werken versuchte er Anhängern und Nachfolgern ein Modell nahe zu bringen, das eine tadellose weltliche Gemeindeführung mit einem spirituellen und mystischen Leben verbinden sollte. Mit dem Vortrag von Luise Hirsch, Historikerin in Heidelberg, zu den ersten jüdischen Studentinnen an der Universität zu Berlin, verliess die Tagung den „Schauplatz Galizien". Der hohe Anteil an galizischen jüdischen Studentinnen an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert beförderte, so Hirschs These, auch das allgemeine Frauenstudium entscheidend.

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Migration und neue Heimat

„Ostjuden auf Wanderschaft" hiess das Panel am zweiten Tag der Tagung, in dem sich mehrere Vorträge aus unterschiedlichen Perspektiven den Migrantinnen und Migranten in den verschiedenen Orten annäherten. Tobias Brinkmann, Professor für Jewish Studies and History an der Penn State University, stellte dabei das „Niemandsland" zwischen den Grenzen als Ort vor, in dem Migranten unfreiwillig verweilen mussten. Zwischen der alten und einer erhofften neuen Heimat „gefangen", konfrontiert mit Einwanderungsquoten und anderen Bestimmungen sowie der ab 1918 bestehenden Notwendigkeit, einen Pass und damit eine eindeutige Staatsbürgerschaft zu besitzen, war Migration oft alles andere als ein einfaches Wechseln des Wohnortes, sondern ein permanenter Transit.

Mit dem Medium der Filmsatire ging Joachim Schlör, Professor am Parkes Institute for Jewish/non-Jewish Relations an der University of Southampton, an die Problemfelder der Migration heran. Ausgehend von einem satirischen Kurzfilm der israelischen Kabarettgruppe „LUL" zeigte er einerseits auf, mit welchen Vorurteilen polnisch-jüdische Zuwanderer im Israel der 1920er Jahre zu kämpfen hatten. Andererseits zeichnete er auch mögliche Bewältigungsstrategien des Heimatwechsels auf, wie die Bildung von Landsmannschaften und die - romantisierende - Nachbildung der alten Heimat. Martha Keil (INJOEST) spürte der „anderen Seite" der Migration nach, den verlassenen Frauen, deren Männer in die USA emigriert waren und sie als „Gebundene" („Agunot") entweder noch in der alten Heimat oder an ihren neuen Wohnorten unversorgt zurückgelassen hatten. Jiddische Zeitungen in Amerika wie der „Jewish Daily Forward" („forverts") veröffentlichten Suchanzeigen nach den „verschwundenen" Männern und stellten entgegen der Realität Frauen als lebensunfähige und hilflose Opfer dar.

Barbara Staudinger (INJOEST) thematisierte die Migration nach Wien, jene Stadt, in die insbesondere galizische Jüdinnen und Juden zogen und ab 1867 als Zugehörige der k.u.k. Monarchie Ansiedlungsfreiheit genossen. Trotz aller wohltätigen Massnahmen trafen sie in der Haupt- und Residenzstadt auf breite Ablehnung, nicht nur seitens der nichtjüdischen Bevölkerung, sondern auch der bereits etablierten, oft auch assimilierten Wiener Juden. Anhand der jüdischen Publizistik, z. B. der Zeitschriften „Die Wahrheit" bzw. „Dr. Bloch's Österreichische Wochenschrift", lässt sich deutlich die pejorativ-emotionale Aufgeladenheit des Begriffes „Ostjuden" - in Wien gleichgesetzt mit galizischen Juden - zeigen. Marianne Windsperger beschäftigte sich mit jüdischen Familiengeschichten zwischen New York und Galizien und zeigte anhand aktueller und sehr erfolgreicher Literatur insbesondere aus den USA, dass Migration nicht nur für die Geschichte der Einwanderergeneration, sondern auch für die nachfolgenden Generationen prägend ist. Die literarisch-künstlerische Umsetzung des Themas, wie beispielsweise in Jonathan Safran Foers Roman „Alles ist erleuchtet", spiegelt letztlich eine Suche nach der eigenen Identität als Nachfahre osteuropäischer Juden.

 

Literatur und Museum

Der dritte Tagungstag stand im Zeichen des „Mythos Ostjuden". Petra Ernst, Literaturwissenschafterin am Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz, und Gabriele Kohlbauer, Kuratorin am Jüdischen Museum Wien, widmeten ihre Beiträge der literarischen und musealen Spurensuche nach den „Ostjuden". Deren Bild wurde in Texten und Ausstellungen in ganz unterschiedlicher Weise verwendet, sagte letztlich jedoch mehr über die Literaten und Sammler aus als über die Beschriebenen selbst. So diente Galizien als Projektionsfläche höchst unterschiedlicher Interessen, wie etwa der jüdischen Nationalisten auf der einen oder der Antisemiten auf der anderen Seite - die „Ostjuden" wurden zum „Mythos". Daran anschliessend gab die US-amerikanische Kulturjournalistin Ruth Ellen Gruber einen aktuellen Einblick in die Konstruktion dieses „Mythos" in der heutigen Ukraine, die sie als Auseinandersetzung zwischen Kitsch und bemühter „authentischer" Wiederbelebung „jüdischen" Lebens beschrieb. Das Schtetl  wird dabei vor allem als touristischer Magnet neu erschaffen, in einer Umwelt, in der kaum mehr jüdische Gemeinden existieren.

Die Wiener Schriftstellerin Claudia Erdheim und Anna Lipphardt, Juniorprofessorin für Kulturwissenschaften an der Universität Freiburg, setzten sich mit der jüdischen Innenperspektive auseinander. Erdheim zeigte anhand der von den galizischen Juden rezipierten Literatur nicht nur, in welchen Themen und Genres sich die Leser selbst wiederfanden. In der Auswahl der Literatur manifestierte sich auch die kulturelle Kluft zwischen Chassidim und so genannten „Fortschrittlern". Lipphardt fokussierte in ihrem abschliessenden Vortrag schliesslich die aktuell diskutierte Selbstverortung der litvakischen, der aus Litauen stammenden Juden.

„Wo ist Osten?" betitelte Lipphardt ihren Vortrag, dessen Titel gleichsam ein Resümee der Tagung sein könnte. Die Dekonstruktion des Begriffes „Ostjuden" und die Gegenüberstellung von Fremd- und Selbstbildern führen uns zur Hinterfragung vermeintlich statischer Begriffe, zum Aufspüren überlebter Stereotype. Auch angesichts des breiten öffentlichen Interesses, das die Tagung mit ihren mehr als 100 Besucher/innen hervorrief, ist die Geschichte der „Ostjuden" - vor allem im österreichischen Kontext - mit einem interdisziplinären Ansatz neu zu schreiben. Dazu soll der Tagungsband beitragen, dessen Erscheinen für den Herbst 2012 geplant ist.