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Auf dem Weg in die Reichshauptstadt. Der Aufbruch galizischer Juden und Jüdinnen nach Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts

Verena LORBER

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In Galizien kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu vielschichtigen Veränderungen, die sich auch auf das Leben der orthodoxen Juden und Jüdinnen auswirkten. Viele mussten ihre „Shtetln1" verlassen und in der Ferne nach neuen Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten suchen. Vor allem die Reichshauptstadt Wien bildete einen großen Anziehungspunkt für die sogenannten „Galizianer und Galizianerinnen".

In Folge werden die Auslöser der Migrationsbewegung dargestellt und die Lebensverhältnisse der galizischen Juden und Jüdinnen in Wien beschrieben. Ausserdem wird speziell auf die Situation der Galizianerinnen eingegangen und ihr Leben in Wien im Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Realität beleuchtet.

Das Einsetzen des Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesses in Galizien im 19. Jahrhundert veränderte das Leben der gesamten jüdischen Bevölkerung gravierend. Ihre bisherige wirtschaftliche Position im Bereich des Handels und der Industrie wurde entscheidend geschwächt. Parallel dazu entstand ein starker polnischer Nationalismus, der die galizischen Juden und Jüdinnen immer mehr aus dem öffentlichen Leben ausgrenzte und ihre Arbeitsbereiche einschränkte. Doch gerade zu dieser Zeit hätte die sich im raschen Wachstum befindende jüdische Bevölkerung mehr Betätigungsfelder benötigt. Dadurch verschlechterten sich die Lebensbedingungen, und eine zunehmende Verelendung der breiten Masse der orthodox lebenden Juden und Jüdinnen in den Shtetln Galiziens setzte ein. Diese Entwicklungen führten zur Öffnung der „engen Shtetlgemeinschaft". Da das eigene Überleben in den Mittelpunkt des täglichen Lebens trat, konnten religiöse Pflichten und Aufgaben nicht immer eingehalten werden. Juden und Jüdinnen mussten oftmals auch am Sabbat arbeiten, um die Existenz ihrer Familie zu sichern. Diese Tendenzen führten unweigerlich zu einer gewissen Entfremdung vom traditionellen Judentum.

Das strenge religiöse Geflecht, in das die orthodoxen Juden und Jüdinnen in der Shtetlgemeinde eingebunden waren, begann sich zu lockern. Dadurch wurde der Weg für die Migration geebnet. Die Wanderung wurde für viele zur realen Möglichkeit, um in der Ferne ein besseres Leben führen zu können. Anfänglich wanderten die orthodoxen Juden und Jüdinnen in die nächst grösseren Siedlungen ab. Da sie dort jedoch keine Anstellung fanden, waren sie gezwungen, in die Städte weiterzuwandern.2 Erst als in Galizien keine Chance auf eine wirtschaftliche Verbesserung gesehen wurde, machten sich viele der galizischen Juden und Jüdinnen auf den Weg in die Reichshauptstadt Wien.3 Wien bedeutete für viele

„die Erweiterung von Galizien, der Endpunkt jener Wandervorgänge, die bereits in Galizien begonnen hatten und über die Provinzgrenzen schwappten. In Wien waren die Ankömmlinge von ihren zurückgelassenen Verwandten leichter erreichbar, [...] und Galizien war von dieser Stadt nicht wirklich getrennt."4

Der Zuzug nach Wien kann zeitlich in zwei Gruppen unterteilt werden. Die kleinere Gruppe bildeten wohlhabende Juden und Jüdinnen, die in den 1860er und 1870er Jahren nach Wien zogen, um die besseren

„Entfaltungsmöglichkeiten" in der Reichshauptstadt zu nutzen. Die zweite, bedeutend grössere Gruppe bestand aus jenen Juden und Jüdinnen, welche gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen. Ihr Hauptmotiv für die Migration war, der Armut in Galizien zu entfliehen. Diese Gruppe war wesentlich fester in ihrer religiösen Tradition verhaftet.5

 

„Der Ostjude aus Galizien wurde zum Gespenst vergangener Zeiten. [...] Der Galizianer wurde zum Paradigma jüdischer Ghettoexistenz und Gegenbild des modernen deutsch akkulturierten Juden."6

 

Den galizischen Juden und Jüdinnen war das Leben in einer westlichen Grossstadt fremd. Sie mussten sich erst an die Werte und Normen der neuen Umgebung anpassen. In Wien stiessen die verarmten Galizianer und Galizianerinnen auf eine doppelt ablehnende Haltung. Einerseits waren sie dem zunehmenden Antisemitismus der nichtjüdischen Bevölkerung ausgesetzt. Andererseits vertrat die ansässige Wiener Judenschaft die Meinung, dass sich die galizischen Juden und Jüdinnen negativ auf ihren eigenen Assimilationsprozess auswirken und durch ihr äusseres Erscheinungsbild den Antisemitismus fördern würden.7

Auf die galizischen Juden und Jüdinnen wurde somit von mehreren Seiten Druck ausgeübt. Sie entwickelten folgende Strategien, um diesen äusseren Einflüssen standhalten zu können und um ihre religiösen Traditionen und Bräuche aufrecht zu erhalten: Die Galizianer und Galizianerinnen siedelten sich hauptsächlich in den Bezirken Leopoldstadt und Brigittenau an,  heirateten fast ausschliesslich untereinander, konvertierten kaum und gründeten ihr eigenes Netz an Organisationen. Die gegründeten Vereine stellten eine Verbindung zwischen der alten und neuen Lebenswelt dar und wirkten ihren Identitätsproblemen in der neuen Heimat entgegen. Es entstand eine Art galizisch-jüdische Subkultur innerhalb des Wiener Judentums.8 Die verschiedenen ins Leben gerufenen Vereinigungen verdeutlichen aber auch die Heterogenität der galizischer Juden und Jüdinnen in Wien. Sie unterschieden sich nicht nur in Bezug auf ihre Herkunftsregion und ihre politische Gesinnung, sondern auch im Grad ihrer Religiosität. So wurde beispielsweise der im religiösen Sinn streng orthodoxe Verein „Mahzike Hadath" oder der liberaler gesinnte „Israelitische Synagogenverein Beth Israel nach polnisch-jüdischem Ritus" ins Leben gerufen.9 Neben den sozialen, karitativen und religiösen Organisationen gründeten galizische Juden und Jüdinnen auch politische Vereinigungen, um ihre Anliegen innerhalb der Wiener jüdischen Gemeinde besser vertreten zu können.

Ab der zweiten Generation begann der Einfluss der religiösen Orthodoxie auf das Leben der galizischen Judenschaft in Wien abzunehmen. Ein Grund dafür war, dass die verarmten galizischen Juden und Jüdinnen der zweiten Einwanderungswelle stark auf Unterstützungen von Seiten der Wiener Judenschaft angewiesen waren. Westjüdische Wohltätigkeitsorganisationen knüpften ihre Hilfestellungen an die Übernahme ihrer bürgerlichen Wertvorstellungen. Sie versuchten vor allem durch Vermittlung von Bildung eine Akkulturation der Galizianer und Galizianerinnen herbeizuführen. So gründete beispielsweise Leon Kellner, ein Vertreter der zionistischen Bewegung, im Jahr 1910 die erste Toynbee-Halle in Wien. Dort wurde „Bildung und Unterhaltung, geistige Erbauung und Pflege sozialer Kontakte geboten",10 und sie avancierte zu einem beliebten Treffpunkt galizischer Juden und Jüdinnen. Die Inhalte der Veranstaltungen wurden zumeist so gewählt, um die ostjüdische Bevölkerung an die westlichen Hygienestandards und Verhaltsregeln heranzuführen.11

Somit waren die Galizianer und Galizianerinnen einem permanenten Akkulturationseinfluss ausgesetzt, wobei es grosse Unterschiede in der Anpassung an die neuen Lebensumstände in Wien zwischen galizischen Juden und Jüdinnen gab. Galizische Juden schafften die Anpassung an das neue Lebensumfeld nur schwer. Sie „verharrten", im Gegensatz zu den galizischen Jüdinnen, viel länger in ihren Traditionen.

Hoffnungen und Realität des Lebens galizischer Jüdinnen in Wien

Viele galizische Jüdinnen sahen in der Abwanderung aus den Shtetln die Möglichkeit, ihre materielle Lebenssituation zu verbessern und sich dem orthodoxen religiösen Einfluss innerhalb der jüdischen Shtetlgemeinde zu entziehen. Sie sahen die Migration als Chance, um ein befreites und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Deswegen waren galizische Jüdinnen oftmals die treibende Kraft, die ihre Familie zur Wanderung veranlasste. Doch die Hoffnungen, die viele in ihr neues Leben in Wien setzten, wurden meistens nicht erfüllt. Wie zuvor im Shtetl, sollte sie sich den Werten und Normen der Wiener Gesellschaft anpassen und die „Spielregeln" der neuen Umgebung befolgen. Damit musste die Jüdin in Wien, im Gegensatz zu den religiös motivierten Einschränkungen innerhalb des Shtetls, sich denen der bürgerlichen Gesellschaft unterwerfen. Erneut wurde ihr Rollenverhalten nicht durch sie selbst bestimmt, sondern durch die Vorgaben der Gesellschaft. Die galizischen Jüdinnen wurden dadurch erneut in ein „ideelles Korsett" gepresst. Im Rollenverständnis zwischen Mann und Frau innerhalb des galizischen Shtetls sollte die Jüdin Geld verdienen und ihr Ehemann sich seinem religiösen Studium widmen.

Die zionistische Bewegung kreierte dagegen ein neues Frauenbild. Demnach sollte die Jüdin nicht mehr arbeiten, sondern sich ausschließlich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Dieses Rollenbild entsprach dem der bürgerlichen Dame, nach dem die Frau als „Hüterin der Familie" galt und das eigene Heim zu ihrem Lebensmittelpunkt wurde. Im Gegensatz dazu sollte der Mann aktiv am Berufsleben teilnehmen und für das Auskommen der Familie sorgen. Die Jüdin sollte hierbei lediglich seine „unterstützende Ergänzung" darstellen. Die meisten der galizischen Jüdinnen konnten sich diesen Akkulturationseinflüssen nicht entziehen, da sie auf die Hilfe der verschiedenen Wiener Wohltätigkeitsvereine angewiesen waren. Dadurch erfüllte sich der Wunsch vieler galizischer Jüdinnen auf ein autonomes und gleichberechtigtes Leben in Wien nicht.12

Folglich verbesserten sich die Lebensverhältnisse nur weniger galizischer Juden und Jüdinnen durch die Migration nach Wien. Dazu zählten vor allem jene, die in den 1860er und 1870er Jahren in die Reichshauptstadt kamen. Sie stammten vorwiegend aus den galizischen Städten, waren finanziell besser gestellt und lebten wesentlich säkularer. Sie verfügten über bessere Voraussetzungen, um in Wien Fuss fassen zu können und den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg zu schaffen. Die galizischen Juden und Jüdinnen, die um die Jahrhundertwende nach Wien kamen, konnten den Wunsch nach einem besseren Leben oftmals nicht in die Realität umsetzen. Sie waren zu arm, um sich eine neue Existenz aufbauen zu können oder ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Häufig waren sie auf Unterstützungen von Wohltätigkeitsvereinen angewiesen und mussten sich wegen ihres Aussehens, ihres Verhaltens, ihrer Kleidung und ihrer Religiosität gegen die Vorurteile der in Wien bereits ansässigen Judenschaft und der nichtjüdischen Wiener Gesellschaft behaupten. Auch die galizischen Jüdinnen erreichten zumeist nicht ihre erhoffte Selbstbestimmung. Anstatt religiöser Regelungen und Verpflichtungen mussten sie sich in der Reichshauptstadt jenen der Wiener jüdischen Gesellschaft unterwerfen. Somit blieb für viele Juden und Jüdinnen aus den Shtetln Galiziens der Wunsch nach Verbesserung ihrer Lebensbedingungen in Wien ein unerfüllter Traum.13 n

1 Ein „Shtetl" ist die traditionelle Siedlungsform der Juden und Jüdinnen in Osteuropa. Es waren jüdische Zentren in einer nichtjüdischen, oftmals bäuerlichen Umgebung. Kennzeichnend für ein Shtetl war, dass es über eigenständige kulturelle und soziale Einrichtungen, wie eine Synagoge, eine Schule, ein Bad für rituelle Waschungen oder einen Friedhof, verfügte. (Vgl. Haumann Heiko, Geschichte der Ostjuden. München 1999. S. 60-62; Zborowski Mark/Herzog Elisabeth, Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. München 1991. S. 44-49.)

2 Dies unterschied die galizischen jüdischen Zuwanderer und Zuwanderinnen von den böhmischen, mährischen und ungarischen. Sie kamen eher als Wanderer und Wanderinnen und hatten Wien nicht von Anfang an als fixes Ziel vor Augen. (Vgl. Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994.  S. 17-22, 33-45, 129-131.)

3 Diejenigen die sich zur Migration entschlossen haben, waren verglichen mit der bereits in Wien ansässigen Judenschaft sehr religiös. Allerdings nicht in diesem Ausmass, wie die in den Shtetln verbliebenen Juden und Jüdinnen. Jene Ultra-Orthodoxen kamen erst durch die im Zuge des Ersten Weltkrieges einsetzende Fluchtbewegung nach Wien. (Vgl. Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 279-281.)

4 Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 128.

5 Vgl. Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. Wien 1989. S. 45-46; Meyer Almut, „...der Osten schüttet sie aus...". Zur Migration osteuropäischer Juden bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. S. 21-32. In: Kohlbauer-Fritz Gabriele, Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien. Wien 2000. S. 28-29.)

6 Meyer Almut, „...der Osten schüttet sie aus...". Zur Migration osteuropäischer Juden bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. S. 21-32. In: Kohlbauer-Fritz Gabriele, Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien. Wien 2000. S. 29.

7 Jedoch unterschied der rassische Antisemitismus nicht zwischen „West- und Ostjude". Er richtete sich gegen alle Juden und Jüdinnen, unabhängig vom Grad ihrer Assimilation. Erst als die westjüdische Bevölkerung dies erkannte, kam es zu einer Annäherung der beiden Gruppen. (Vgl. Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. 152-154; Meyer Almut, „...der Osten schüttet sie aus...". Zur Migration osteuropäischer Juden bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. S. 21-32. In: Kohlbauer-Fritz Gabriele, Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien. Wien 2000. S. 29.)

8 Beispielsweise kam es zur Gründung von Landsmannschaften. Sie setzten sich aus Mitgliedern aus derselben Stadt oder Region in Galizien zusammen. Diese Art der Zusammenschlüsse war kennzeichnend für Juden und Jüdinnen in der Emigration. Die Landsmannschaften stellten vor allem die Krankheits- und Todesfallunterstützung und bildeten das Zentrum des sozialen Lebens. (Vgl. Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. Wien 1989. S. 155; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 167-171.)

9 Vgl. Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. Wien 1989. S. 156-157; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 133-137.

10 Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 163.

11 Vgl. Raggam-Blesch Michaela, Zwischen Ost und West. Weiblich jüdische Identitätskonstruktionen in autobiographischen Erinnerungen jüdischer Frauen. Wien am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. (Dissertation) Graz 2005. S. 125-126; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 162-165; Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. Wien 1989. S. 169-170.

12 Vgl. Malleier Elisabeth, Jüdische Frauen in Wien 1816-1938. Wohlfahrt - Mädchenbildung - Frauenarbeit. Wien 2003. S. 243-245; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 210-214; Mayer Barbara, Jüdische Frauen in der österreichischen Frauenbewegung um 1900. (Diplomarbeit) Graz 2004. S. 44-50.

13 Vgl. Rozenblit Marsha, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität. Wien 1989. S.45-46; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994. S. 153-154.