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Jud Süss meldet sich nach 70 Jahren zurück

Jérôme SEGAL

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Der Regisseur Veit Harlan (1899-1964), der sich schon 1933 als Anhänger des Nationalsozialismus deklariert hatte, wurde 1937 in Venedig für den Film Der Herrscher geehrt. Er bekam von Mussolini die Copa Volpi und Joseph Goebbels wurde bei dieser Gelegenheit auf ihn aufmerksam. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda entschied sich, einen Hetzfilm zu finanzieren. Es sollte eine neue Verfilmung des Romans Jud Süss sein, die Geschichte des grossen Finanziers des 18. Jh., unter anderem von Wilhelm Hauff 1827 erzählt.1 Goebbels musste den Schauspieler Ferdinand Marian davon überzeugen, die Hauptrolle anzunehmen. Das Ergebnis wurde am 5. September 1940 in Venedig gezeigt. Es war die Weltpremiere des „erfolgreichsten" antisemitischen Films der Weltgeschichte. Die deutsche Premiere fand am 24. September im Berliner Ufa-Palast am Zoo statt. Goebbels war so zufrieden, dass er in den nächsten Wochen Kopien aus den Kinos herausnahm, um so viele Vorstellungen wie möglich an der Front zu organisieren. Das Ziel war eindeutig: Antisemitismus fördern und so weit zu stärken, dass die Demütigungen, die Deportationen und später die industrielle Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ungestört weiterlaufen konnte. Insgesamt erreichte der Film 20 Millionen Zuschauer. Nach dem Krieg wurde der Film bis 1955 verboten und die Vorstellungen sind heute immer noch nur für pädagogische oder wissenschaftliche Zwecke erlaubt, immer mit Einführungen.

Nun, genau 70 Jahre später, gibt es wieder einen Film Jud Süss, von Deutschen produziert, dieses Mal mit österreichischer Teilnahme (Novotny + Novotny Filmproduktion GmbH). Natürlich geht es nicht wieder um eine Verfilmung des Buches, sondern um ein Art making-of. Der exakte Titel lautet Jud Süss -- Film ohne Gewissen, Oskar Roehler ist der Regisseur. Im Programm des 60. Berlin Filmfestivals, wurde der Film wie folgt vorgestellt:

 „Oskar Roehler schildert in seinem neuen Film ein individuelles Drama und präsentiert zugleich eine Erzählung über die Mechanismen machtpolitischer Manipulation."

Das Making-of als Genre

Die Perspektive des Films ist in der Tat original, da alles sich um den Schauspieler Ferdinand Marian dreht. Dieser, von Tobias Moretti gespielt, soll jetzt als Opfer erscheinen. Der Film ist von einem Essay inspiriert, Ich war Jud Süss: die Geschichte des Filmstars Ferdinand Marian, im Jahre 2000 von dem Historiker Friedrich Knilli veröffentlicht. Knilli arbeitete selber an einer Adaptation seines Buches, wurde aber von Roehler überholt. Seine Arbeit wurde benutzt, aber nicht respektiert, da Roehler dramatische Ereignisse hinzugefügt hat. In der Pressekonferenz nach der Weltpremiere in Berlin am 18. Februar 2010 erklärte der Regisseur:

„Wir wollten im Grunde genommen das Drama eines Menschen zeigen, und um das zu verschärfen, um zum Beispiel seine moralischen Konflikte exemplarisch zu machen, haben wir die Ehefrau eine Halbjüdin sein lassen, weil es die Sache eben sehr gefährlich macht".2

Die Bezeichnung „Halbjüdin" ist schon an sich mehr als fragwürdig und würde eine Distanzierung vom NS-Wortschatz verlangen. Es sind ja vorwiegend Nazis, die Judentum und Genetik verbinden.

Aber worauf soll diese Geschichte hinweisen? Vielleicht soll man hier eine Art Faust sehen: Ferdinand Marian, der Schauspieler, der Jud Süss verkörpern soll, schliesst einen Pakt mit dem Teufel, Goebbels, um weiter in seiner Karriere kommen zu können. Nun, damit Marian als Held erscheinen kann, reicht es nicht, dass seine Frau jüdische Wurzeln hat (damit ist er erpressbar). Roehler und Klaus Richter (der das Drehbuch geschrieben hat) fügen noch einen jüdischen Schauspieler hinzu, den Marian in seinem Gartenhaus versteckt haben soll.

Die Freiheit des Künstlers ... und seine Begrenzungen

Warum ist im Kommentar zu diesem Film von historischen Fälschungen die Rede, wenn man Quentin Tarantino erlaubt, sich viele geschichtlichen Freiheiten zu nehmen? Ist es nicht ein Problem, wenn zum Beispiel in Inglourious Basterds Hitler ermordet wird? Eigentlich nicht, weil man schon längst verstanden hat, dass Tarantino eine Rache zeigen will, er wünscht sich, dass ein paar tapfere Amerikaner, darunter einige Juden, stark genug gewesen wären, um nicht nur Angst bei den Nazis zu verbreiten, sondern auch Hitler zu töten und damit den Krieg früher zu gewinnen. Er zögert dabei nicht, Pfeile und einfache Graphik im Film einzulegen, zum Beispiel, um Figuren zu zeigen. Damit erfindet er eine neue Version des brechtschen Verfremdungseffekts. Der Zuschauer merkt, dass er eine Erzählung sieht, eine Fiktion, die ihn auf eine Reise nimmt. Werner Krauss (1884-1959) zum Beispiel, der Schauspieler, der gleich sechs Juden in Veit Harlans Jud Süss spielte - alle jüdischen Sprechrollen ausser Joseph Süss Oppenheimer -, wurde zwar 1946 aus Österreich ausgewiesen, kam aber 1948 rehabilitiert zurück. Der Mann, der Hitler ab 1933 eifrig unterstützt hatte, durfte seine Karriere bis zu seinem Tod führen, bekam 1955 das Grosse Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich und 1959 den Ehrenring der Stadt Wien. Er liegt heute noch in einem Ehrengrab am Zentralfriedhof. Das Hauptproblem des Films von Oskar Roehler ist wahrscheinlich einfach, dass die „Bösen" zu positiv dargestellt werden.

Kunst, Ideologie und Propaganda

Roehler hat sich immer verteidigt, indem er betont hat, sein Film wäre eine Fiktion, man möge bitte die Freiheit des Künstlers respektieren. Der Film ist aber „überspielt" und ähnelt zu stark den deutschen Komödien. Moritz Bleibtreu, der Goebbels verkörpert, spielt genauso wie in Soul Kitchen (Fatih Akin, 2009). Ganz jovial, boxt er immer allen auf die Schulter. Bei der Pressekonferenz sagte er über den echten Goebbels: „Das Clowneske fand ich geil, der Versuchung, das Original nachzuspielen, konnte ich mich nicht erwehren." In der Tat gibt es Clowneskes im Film, es bringt aber nicht zum Lachen. Die Dekadenz, die Roehler zeigen will, äussert sich durch eine extreme Vulgarität, zum Beispiel in einer Sexszene zwischen Marian und der Frau eines KZ-Kommandanten, während Bomben auf Berlin fallen.

Der Filmkritiker Gunnar Decker schrieb am Tag nach der Premiere: „Wenn ein Spielfilm über die Entstehung eines der perfidesten Propagandafilme der Nazizeit einen Sinn haben soll, dann wohl den, zu fragen, warum die Propaganda auch noch Kunst sein wollte."3 Roehler ist aber weit von diesem Ziel entfernt, und seine Schauspieler auch. Bleibtreu erklärte zum Beispiel, dass es heute „die gleichen saturierten, selbstgefälligsten Manager in der Industrie" gebe, „die sich in nichts von damals unterscheide[n]." Zielt nicht diesen Vergleich voll daneben? Dass Kinoproduzenten profitorientiert sind, ist klar, es ist aber längst nicht so, dass sie Hetzfilme fördern sollten.

Der Film Jud Süss als Denkanstoss?

Kann der Film als Denkanstoss gesehen werden? Der Berlinale-Chef, Dieter Kosslick, hatte den Film extra  ausgewählt, um für Aufsehen zu sorgen. Es entspricht leider der Logik der Zeit: Ein Filmfestival ohne Skandal wäre kaum interessant. In einem Gespräch mit Christian Jungen für die NZZ am Sonntag vor dem Festival entstand folgender Austausch:

CJ: In der Geschichte des Festivals gab es mehrere Skandale, beispielsweise 1970 wegen eines Vietnamkriegsfilms. Was erregt heute Aufsehen?

DK: Mit politischen Filmen handelt man sich heute kaum mehr einen Skandal ein. Vor zwei Jahren hat ein dokumentarischer Film über die Foltermethoden in Abu Ghraib, „S.O.P. Standard Operating Procedure" von Errol Morris, den Grossen Preis der Jury gewonnen. Es ist unglaublich, was darin zu sehen war. Bloss hören die Leute heute eben jeden Tag von den unglaublichsten Dingen in der Welt. Ich kann Ihnen jedoch versichern: Wir haben auch dieses Jahr wieder einen Film mit Skandalpotenzial im Wettbewerb. Aber ich sage nicht, welcher es ist.4

War also Roehlers Film nur da, um einen Skandal zu provozieren? Zum Nachdenken hat er nicht stark angeregt, er hat das Publikum eher emotional verstört. Die Geschichte des NS-Films Jud Süss ist aber an sich interessant, wie Knilli es in seinem Buch gezeigt hat. Nach dem Motto „Wenn schon, denn schon" wurde zum Beispiel der Jud Süss von Veit Harlan 1995 im Rahmen des Jüdischen Filmfestivals in Wien gezeigt. Monika Kaczek, die Leiterin des Festivals, die für die Programmierung zuständig ist, erinnert sich, warum sie diesen Film aus dem Giftschrank nahm:

„Wir wollten damit die Manipulationsmechanismen zeigen, wie der Film als Medium an sich benutzt wurde, um Antisemitismus zu predigen oder allgemeine Hetze zu fördern, wie vielleicht heutzutage Comics in der Wiener politischen Szene."5

Die Untersuchung der NS-Propaganda, und Jud Süss steht für diese exemplarisch, hat noch viel zu bieten. Oskar Roehlers filmische Umsetzung ist aber nicht nur ein „Film ohne Gewissen", er verfolgt auch sehr dubiose Ziele.

Jérôme Segal, Assistant Professor an der Universität Paris-Sorbonne, ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdisciplinary Centre for Comparative Research in the Social Sciences (ICCR) in Wien.

1   Lion Feuchtwanger hatte auch 1925 eine Novelle mit dem Titel Jud Süss veröffentlicht, die aber gar nicht antisemitisch war. Es kam auch zu einer Verfilmung, 1934, in Großbritannien.

2    Die Pressekonferenz wurde verfilmt und online gestellt (sie ist unter www.berlinale.de abrufbar, „Archiv" wählen). Komischerweise, in seinem Gespräch für die österreichische Premiere, ist Marians Frau „Vierteljüdin" geworden (Die Presse, 23.09.2010).

3   Neues Deutschland, 19. Feb. 2010, S. 2

4   7. Februar 2010, NZZ am Sonntag.

5    Das jüdische Filmfestival findet heuer zum 18. Mal statt, vom 24. November bis zum 9. Dezember. Die zwei Schwerpunkte, „Sephardisches Kino" und „die Kosher Nostra", werden von einem allgemeinen Programm ergänzt (www.jfw.at)