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Die Rekonstruktion der Synagoge Atzgersdorf1

Franziska GRABER

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Die dreidimensionale Rekonstruktion der 1938 zerstörten Synagoge Atzgersdorf im heutigen 23. Wiener Gemeindebezirk stellt den Beginn weiterer Rekonstruktionen von Synagogen in Niederösterreich dar.2 Die bisherigen Rekonstruktionen ehemaliger Wiener Synagogen wurden in dem Stadtführer: Die zerstörten Synagogen Wiens. Virtuelle Stadtspaziergänge veröffentlicht.3 Diese Publikation umfasst einundzwanzig von den Nationalsozialisten zerstörte Wiener Synagogen, darunter auch die Synagoge Atzgersdorf.

Die Geschichte der Synagoge Atzgersdorf beginnt mit der Gründung eines Minjan-Vereines in Liesing, die auf das Jahr 1863 zurückgeführt wird.4 Zur Zeit der Gründung des Vereines waren Atzgersdorf und Liesing noch Vororte Wiens. Von 1867 bis 1876 hatte der jüdische Verein einen Betsaal im Haus Liesing in der Liesinger Gasse 11 (heute Fröhlichgasse 12) gemietet.5 Nach 1876 befand sich ein Betsaal in der Carlsgasse 4 (heute Dirmhirngasse). Als das Haus, in dem der Betsaal untergebracht war, 1899 verkauft wurde, war der Verein, welcher der Israelitischen Kultusgemeinde Mödling angehörte, gezwungen, die nächstgelegenen Synagogen in Mödling respektive Meidling aufzusuchen. Dies führte zum Beschluss, eine eigene Synagoge zu bauen. Um den Bau zu finanzieren, wurden Spenden gesammelt. Im Auftrag des Bethausvereines kaufte schliesslich Johann Jacob Papanek am 18. Mai 1899 das an der Südbahn gelegene Grundstück mit der Einlagezahl 484/3 der Katastralgemeinde Atzgersdorf. Am 23. August 1900 erhielt die Liesing Atzgersdorfer Bethausgenossenschaft von der k. k. niederösterreichischen Statthalterei die Baubewilligung für den Bau einer Synagoge in der Karlsgasse 390 (heutige Dirmhirngasse 112 im 23. Wiener Gemeindebezirk). Die früheren Vereinsvorstände Jacob Papanek, Adolf Fuchs, Josef Grün und Leonhard Weiss sassen damals im Baukomitee. Der Stadtbaumeister Leonhard Bauer wurde mit  der Errichtung der Synagoge beauftragt.6 Die Pläne für den Bau stammen vom kaum bekannten Wiener Architekten Richard Esriel (geb. 29.04.1875 - gest. 02.06.1938).7 Die Synagoge Atzgersdorf war das einzige öffentliche Bauwerk, das nach seinen Entwürfen realisiert wurde. Noch heute erhalten sind einige von ihm geplante Wohnhäuser in Wien, darunter ein Wohnhaus im Cottageviertel und ein weiteres in der Strudelhofgasse Nr. 13, oberhalb der Strudelhofstiege gelegen. Die aus der Gründerzeit stammenden Gebäude Richard Esriels wurden, wie die Synagoge Atzgersdorf, im Stil des Historismus errichtet.

Die historistische Hauptfassade der Synagoge war mit klassizistischem Dekor versehen und auf die Karlsgasse ausgerichtet. Über einen Vorgarten wurde die Synagoge betreten, wobei es zwei Eingänge, getrennt nach Geschlechtern, gab. Der an der rechten Seite der Hauptfassade gelegene Eingang war für Frauen vorgesehen und der linke für Männer. Markant waren die beiden Eckrisalite, von zwei Türmen mit Kuppeldächern bekrönt. In den einachsigen Eckrisaliten befanden sich die Haupteingänge der Synagoge. Die Gliederung der Fassade zwischen den Eckrisaliten gestaltete sich durch fünf über zwei Stockwerke gehende Rundbogenfenster und dazwischen liegende Pilaster. Das mittlere Fenster war nur halbkreisförmig, da an dieser Stelle eine Widmungstafel angebracht war:

„Zur Ehren Gottes erbaut im Jahre 1900 zur Feier des 70. Geburtsfestes unseres Allergnädigsten Kaiser Franz Joseph I."8

Die drei mittigen Fenster bildeten zusammen mit einem darüber liegenden Dreiecksgiebel den Mittelrisalit. Nach aussen hin war das Gebäude kaum als Synagoge erkennbar. Lediglich die beiden Davidsterne auf den Kuppelspitzen sowie jener in der Mitte des Giebelfeldes des Mittelrisalits gaben Aufschluss über die Nutzung des Gebäudes. 

Die beiden Eingänge führten die Gläubigen über einen Vorraum in den Hauptraum der Synagoge, beziehungsweise zur Frauengalerie im Obergeschoss. Über eine Treppe gelangten die Frauen vom rechten Eingangsbereich in den ersten Stock, wo sich ihre Sitzplätze befanden. Die Frauengalerie umschloss den im Erdgeschoss gelegenen Hauptraum von drei Seiten. Der über zwei Geschosse gehende Hauptraum war für 120 Männer bestimmt. Die Sitzplätze im Erdgeschoss waren nach Osten ausgerichtet. Belichtet wurde der Innenraum durch grosse Rundbogenfenster und ein halbkreisförmiges Fenster an der Vorderfront sowie ost- und westseitige Fenster auf der Frauengalerie. Der Almemor sowie der eingebaute Thora-Schrein lagen an der Rückseite der Hauptfassade an der Stelle hinter der Widmungstafel. Im Erdgeschoss befanden sich ausser dem Hauptraum ein kleiner Bet- bzw. Sitzungssaal für den Religionsunterricht sowie eine Wohnung, bestehend aus Küche, Zimmer und Kabinett, für den Religionslehrer. All diese Räume waren in Richtung Westen ausgerichtet. Im nach Süden orientierten rückwärtigen, ebenerdigen Anbau befanden sich Toiletten sowie eine Wohnung mit Küche und Zimmer für den Hausmeister der Synagoge. Sowohl Wohnung als auch Toiletten konnten durch separate Eingänge von der Hinterseite der Synagoge her betreten werden.  Im Jahr 1922 erfolgte ein Umbau der Synagoge. An der Ostseite (Hauptfassade) wurde das Gebäude durch einen apsiden-ähnlichen Anbau vergrössert. Es ist wahrscheinlich, dass sich nun im Anbau der Thora-Schrein sowie der Almemor befanden. Die Gründe für den Anbau konnten nicht eindeutig geklärt werden.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, um vier Uhr früh, wurde die Synagoge von acht bis zehn Personen, die von der NSDAP geschickt worden waren, überfallen. In dieser Nacht wurde das Inventar sämtlicher Räume zerstört. Am darauffolgenden Tag gab es zwei Versuche, die Synagoge zu sprengen. Da an das Grundstück eine Fabrik anschloss, wurden nur geringe Sprengstoffmengen eingesetzt. Nach der ersten Sprengung, bei der zusätzlich Brandbeschleuniger verwendet wurde, ging die Synagoge in Flammen auf. Der Brand wurde zum Schutz der angrenzenden Fabrik von der Feuerwehr gelöscht. Vor den Sprengungen wurden sämtliche Fenster- und Türflügel ausgebaut; sie wurden später entwendet. Nach den Sprengungen wurden auch Ziegelsteine, Holz des Dachstuhles, Traversen und Eisenteile entwendet, die  für die Fertigstellung eines Hauses in der Karlsgasse verwendet wurden.9

Am 11. November wurde nach einer Begutachtung der Überreste durch eine Baukommission der Abriss der Baulichkeit beschlossen. Der Stadtmaurermeister Rudolf Heidrich wurde mit dem Abriss beauftragt. Die Kosten sollten durch den Verkauf der noch verwendbaren Baumaterialien gedeckt werden. Die Abbrucharbeiten der Synagoge liefen bis zum 21. Juni 1939.

Am 11. Februar 1949 wurde ein öffentlicher Verwalter mit dem arisierten Grundstück betraut. Nach einem Rückstellungsverfahren ging die Liegenschaft am 8. März 1952 zuerst an eine  Rückstellungskommission, und am 6. August 1952 an die Israelitische Kultusgemeinde Wien. 1972 wurde das Grundstück verkauft. Heute steht ein Firmengebäude auf dem ehemaligen Grundstück der Synagoge Atzgersdorf.

Zur Rekonstruktion ist zu sagen, dass sie sich auf die Einreichpläne von Richard Esriel aus dem Jahr 1900, eine Postkarte von vor 1922 sowie eine Fotografie, die nach 1922 entstanden ist, stützt. Trotz ausführlicher Recherchen zur Synagoge Atzgersdorf konnten keine weiteren Quellen ausfindig gemacht werden. Da die vorhandenen Quellen nicht alle Informationen, die für eine vollständige Rekonstruktion nötig sind, lieferten, wurden zeitgleiche Bauten von Richard Esriel für offene Fragen herangezogen. Vor allem fehlen Quellen, die das Aussehen des Innenraumes beschreiben. Ergebnis der Rekonstruktion sind fotorealistische Abbildungen des virtuellen Gebäudemodells.

1   Vgl. auch die Artikel Heide Liebhart, Die Synagoge Atzgersdorf/Liesing, In: DAVID, Jg. 12, Heft 46 (September 2000), sowie Gerald Netzl, Verfolgt - vertrieben - ermordet: Gedenktafel Synagoge Atzgersdorf, In: DAVID, Jg. 17, Heft 65 (Pessach 2005).

2   Franziska Graber: Die virtuelle Rekonstruktion der Synagoge Atzgersdorf. Wien: Diplomarbeit TU-Wien 2010.

3   Bob Martens/ Herbert Peter: Die zerstörten Synagogen Wiens. Virtuelle Stadtspaziergänge. Wien: Mandelbaum Verlag 2009.

4   Christoph Lind: „Der letzte Jude hat den Tempel verlassen". Juden in Niederösterreich 1938 - 1945. Wien: Mandelbaum Verlag 2004.

5    Heide Liebhart: Die Synagoge Atzgersdorf-Liesing. In: Der 9. November 1938 in Liesing. Eine lokalhistorische Rekonstruktion. Wien: Bezirksvorstehung Liesing 2005.

6   Niederösterreichisches Landesarchiv, Bestand NÖ Statthalterei, Karton 1763, Zl. G61363, 1900: Einreichpläne der Synagoge Atzgersdorf 1900.

7   www.azw.at  - Architektenlexikon Wien 1880 - 1945, Richard Esriel

8   wie Anm. 3.

9   Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, 20.008/2, Niederschrift der Zeugenaussage Martin Buchhart vor der Polizeidirektion Wien, Staatspolizei, 15.01.1946.