Der Mord auf dem Schafott ist die ärgste Form des Mordes, weil er dort mit der Zustimmung der Gesellschaft vollbracht wird.
Dieser Satz von George Bernhard Shaw, der in demselben Jahr den Nobelpreis für Literatur erhält, in dem Claude Lanzmann geboren wird, liesse sich auch an den Anfang der Autobiografie Lanzmanns stellen, denn diese beginnt gleichfalls mit dem Bild der Guillotine und deren fataler Wirkung auf den Autor. Die Angst vor einer willkürlichen, staatlichen Gewalt brennt sich dem Kind derart ins Gedächtnis, dass sie die berufliche Laufbahn des Mannes in den folgenden Jahrzehnten bestimmen wird. Lanzmanns ganzes Schaffen, sein politisches Engagement stehen von Anfang an im Dienste eines Kampfs gegen die Todesstrafe, gegen jegliche Art von Gewalt gegenüber dem Individuum von Seiten des Staates.
Claude Lanzmann kommt am 27. November 1925 in Paris als ältestes von drei Kindern zur Welt. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beginnt für die Familie ein gefährliches Versteckspiel. Claude Lanzmann folgt dem Beispiel seines Stiefvaters und tritt mit 18 Jahren der Résistance bei. Erst nach dem Krieg kann er ein Philosophiestudium aufnehmen, geht 1947 ausgerechnet nach Tübingen, ein Jahr später wechselt er an die Freie Universität Berlin, wird dort Lektor. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich erscheint eine Artikelserie Lanzmanns über Deutschland in Le Monde. Jean-Paul Sarte engagiert ihn daraufhin für seine Zeitschrift Les Temps Modernes, deren fester Mitarbeiter Lanzmann wird und der er heute noch als Herausgeber verbunden ist. 1952 beginnt Claude Lanzmann eine Liebesaffäre mit Simone de Beauvoir, der Lebensgefährtin Sartes, der die Affäre billigt. 1958 geht Lanzmann nach Nordkorea, die Beziehung zu de Beauvoir zerbricht. Später engagiert er sich politisch für die Dekolonisation Algeriens und sieht sich dadurch staatlichen Repressalien ausgesetzt.
1973 kommt sein erster Film heraus, Warum Israel, in dem Lanzmann der jüdischen Identität und einem neu erwachten Zionismus nachspürt. Ein Jahr später beginnt er mit den Dreharbeiten zu Shoah (1985), einer Dokumentation über den Holocaust, die, wie fast alle Filme Lanzmanns, ausschliesslich aus Zeitzeugeninterviews besteht und an der er ganze elf Jahre arbeitet. Es wird sein filmisches Meisterwerk. Eine erste Ehe zerbricht und auch die langjährige Beziehung zu Angelika Schrobsdorff geht Mitte der 1980er Jahre zu Ende; eine zweite Scheidung folgt. 1994 erscheint sein Film Tsahal über das israelische Militär, 1997 seine Filmografie Ein Lebender geht vorbei über Maurice Rossel. 2001 bringt Lanzmann den Film Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr heraus, der filmische Dokumente enthält, die er für Shoah nicht hatte verwenden können. Heute lebt Claude Lanzmann in Paris und hat einen siebzehnjährigen Sohn.
Im September 2010 erscheint seine bereits ein Jahr zuvor im französischen Original bei Éditions Gallimard herausgekommene Autobiografie, Der patagonische Hase, im Rowohlt Verlag und löst in Deutschlands Feuilletons eine kurze, heftige Kontroverse aus. Der Redslob-Biograf Christian Welzmanns wirft Lanzmann in einem Artikel, der Anfang 2010 in der Wochenzeitung Die Zeit erscheint, vor, sich als Initiator des Widerstands gegen den vermeintlich ideologisch vorbelasteten ehemaligen Rektor der Freien Universität Berlin, Edwin Redslob, zu stilisieren, der 1950 aus seinem Amt geschieden ist, was Lanzmann als persönlichen Erfolg für sich gewertet habe. Dabei übersieht Welzmannn jedoch einen ganz wesentlichen Punkt: Eine Autobiografie folgt immer und ausschliesslich der subjektiven Wahrheit ihres Autors und es ist ja gerade diese Illustration subjektiver Erlebniswelten, die Claude Lanzmann in seinen Filmen zur Kunst erhebt. So scheint es angesichts von Claude Lanzmanns filmischem Werk nur allzu verständlich, dass er seine Autobiografie nicht selbst von Hand schreibt, sondern vielmehr diktiert. Damit wird Der patagonische Hase zum grandiosen Selbstinterview Lanzmanns.
Darin berichtet er immer wieder über die Entstehung seiner Filme, über die damit zusammenhängenden Probleme und Erfolge, angefangen von der Finanzierung über die Durchführung bis zum Verleih. Wenn die Arbeit an Tsahal einerseits einem Abenteuer gleich beschrieben wird, in dem man Lanzmann u.a. in das Cockpit von Kampfjets folgen darf, so geben die Interviews in dieser Doku andererseits sensible Einblicke in die Psyche von Menschen, die in der israelischen Armee Dienst getan haben oder noch tun und die in einem oder mehreren Kriegen gekämpft haben.
Besondere Probleme erwarteten den Regisseur bei der Realisierung von Shoah, ein Projekt von aussergewöhnlicher Grössenordnung; auf der einen Seite mit so vielen Interviewpartnern, die unter grosser psychischer Anstrengung gefilmt wurden, um das Erlebte für die Nachwelt zu vergegenwärtigen, auf der anderen Seite die Nazis, die er zuerst unter seinem Namen kontaktierte und später, als keine Rückmeldungen kamen, unter Angabe eines falschen Namens, um sie mit versteckter Kamera filmen zu können. Besonders aber die Beschreibung seiner Zweifel über die ideale Vorgehensweise, über die essenziellen Inhalte von Shoah schildert Lanzmann immer wieder. Er ist in der Lage, aus einer Eingebung, einer Erkenntnis, dem Projekt jene Grösse zu geben, die es später so bekannt machen wird: z.B. der Entschluss, auf filmisches Archivmaterial zu verzichten oder jener, in Polen mit Bauern in den Dörfern um die ehemaligen Konzentrationslager Interviews zu machen. Denn dort war die Zeit anders verlaufen als im Westen:
Dort existierte das neunzehnte Jahrhundert noch, man konnte es förmlich greifen. Beständigkeit und Verunstaltung der Orte lagen dicht beieinander, bekämpften, befruchteten sich, ließen die Gegenwart dessen, was von gestern fortbestand, womöglich noch schärfer und schmerzhafter hervortreten. Die Dringlichkeit wurde plötzlich unglaublich stark.
Er handelte sofort und suchte nach Zeitzeugen. Und genau jene Authentizität sollte dazu führen, dass sich das damalige offizielle Polen gegen Shoah zur Wehr setzte, ungeachtet der Tatsache, dass der Film nicht darauf angelegt war, das Polen der 1970er Jahre anzuprangern.
Bei den vielen Interviews, die er führt, sticht eine persönliche Stärke Lanzmanns besonders hervor, nämlich das Gespür für den richtigen Augenblick. Lanzmann wartet. Er wartet auf den einen Moment, in dem sein Gegenüber das Schweigen im Gespräch nicht mehr erträgt und zu reden beginnt. Manchmal sind es nur kurze Sätze, manchmal ein ganzer Schwall von Erinnerungen, der an die Oberfläche drängt, aber immer ist es das Gegenüber, das die Stille bricht. Lanzmanns Kunst ist es, diese Stille vor dem Wort in seinen Interviews auszuhalten. Für den Zuschauer sind diese Einstellungen nicht selten von einer fast unerträglichen Spannung gekennzeichnet, denn er ist dazu verdammt, mit dem Interviewer Lanzmann gemeinsam auszuharren und auf diesen einen Augenblick zu warten, in dem der Mensch vor der Kamera Zeugnis ablegt. Und dieser Augenblick kommt, immer, unausweichlich, selbst wenn bei den Überlebenden die Sprache scheinbar ausbleibt. Lanzmann lässt, fast unerbittlich, die Kamera auf ihre Gesichter halten, und vor den Augen der Zuschauer spiegelt sich das Innere der Zeitzeugen deutlich lesbar darauf wieder. Während in Shoah die Erinnerung den Zeugen nicht selten fast physische Schmerzen zu bereiten scheinen, begegnet man in Warum Israel den hoffnungsvollen und von gespannter Erwartung gezeichneten Gesichtern jüdischer Einwanderer, die sich im Staate Israel eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder wünschen.
Diese Gesichter brennen sich ein, sie begleiten den Zuschauer noch lange, nachdem der Film vorbei ist und führen das Leid, die Grausamkeit, aber auch die Hoffnung blitzlichtartig vor Augen, ganz ähnlich wie der patagonische Hase, der Lanzmann ins Scheinwerferlicht seines Wagens springt, um dann in Bruchteilen von Sekunden wieder im Dunkeln zu verschwinden und der durch seine plötzliche Gegenwart in seinem Betrachter das Gefühl des gemeinsamen Vorhandenseins auslöst. Lanzmann findet für diese Begegnungen den Begriff der Vergegenwärtigung und legt in seiner Autobiografie den Scheinwerfer auch auf das Zusammentreffen mit Grössen aus Politik, Philosophie und Literatur wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Gilles Deleuze, Frantz Fanon und sogar Kim Il Sung. So zieht er den Bogen von seiner Kindheit bis in die Gegenwart und streift dabei ein Thema immer wieder: die Liebe.
Mit Respekt und Humor schreibt Lanzmann über die Frauen, die er geliebt hat, wobei die, wie er selbst findet, verfilmenswerte Begebenheit mit einer nordkoreanischen Krankenschwester herausragt, denn einerseits handelte es sich um eine tragische, unerfüllte Liebe und andererseits wird in jedem Satz die menschenverachtende Art des nordkoreanischen Regimes vorgeführt, die diese Liebe unmöglich machte.
Von welcher Seite man sich Claude Lanzmann auch nähert, man kommt stets in den Genuss einer Lektion in Sachen Mut, vor allem Mut zum Leben:
Ich bin von der Welt weder übersättigt noch ermattet, und hundert Leben, das weiss ich nur zu gut, würden mich nicht müde machen.
Literatur und Filme:
Claude Lanzmann: Der patagonische Hase, Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 688 Seiten,
ISBN-97834980393904, Preis 24,95 € (D); 25,70 € (A); 44,90 CHF (CH)
Die Filme Shoah, Warum Israel und Tsahal sind in der Arte Edition auf Einzel-DVDs, Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr und Ein Lebender geht vorbei auf einer Doppel-DVD bei absolut Medien GmbH erschienen und im guten Fachhandel sowie bei allen Buch- und Medienversandhäusern im Internet erhältlich.