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Halpern & Fellmann. Flucht vor den Nazis und das Leben danach.

Ilan FELLMANN

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Der Beginn des Zweiten Weltkriegs war für den Jischuw eine echte Katastrophe. Hitler siegte vorerst auf allen Linien, Paris fiel im Handumdrehen, der Russlandfeldzug war anfangs höchst erfolgreich, die Angst um die Verwandten und Bekannten in Österreich und Polen und im weiteren Mittel- und Osteuropa war gross.
Auch meine Familienangehörigen hatten Angst um liebe Verwandte in Europa. Natürlich auch meine Eltern, die sich damals noch nicht kannten - Fritz lebte 21-jährig in Haifa, arbeitete im Geschäft seiner Eltern auf der Rehov Herzl, Trude lebte als 14-Jährige in der Rehov Geula in  Tel Aviv und bereitete sich auf ein späteres Leben im Kibbutz vor - nicht aus Sehnsucht, sondern mangels sichtbarer Alternativen. Beide befürchteten Schlimmes, aber es sollte noch schlimmer werden.

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Fritz und Ilan, Haifa 1951. Mit freundlicher Genehmigung I. Fellmann.

Meine mütterlichen Grosseltern, Michael und Dora Halpern, mussten sich mit dem heissen Klima, ihrer Armut und auch angesichts der vielen Flüchtlinge und der geringen Arbeitsmöglichkeiten mit der beengenden Perspektivlosigkeit in Tel Aviv auseinander setzen. Bis Michael gegen Mitte/Ende 1939 - der genaue Termin ist mir nicht bekannt - den überraschenden Beschluss fasste, nach Paris zurück zu fahren und zu versuchen, Reste seines Warenlagers an Textilien und Lederprodukten zu verkaufen, um mit dem Erlös eine neue Existenz in Tel Aviv aufzubauen. Paris schien völlig sicher, die Maginotlinie gewaltig und die französische Armee sehr stark. Michael dürfte sich jedenfalls ein gutes dreiviertel Jahr in Paris aufgehalten haben, als die Deutsche Wehrmacht dort einfiel und Paris am 14. Juni 1940 fast im Handstreich eroberte.

Mein Opa dürfte sehr bald in den Süden Frankreichs geflüchtet sein, um der Wehrmacht und in ihrem Gefolge der SS und Gestapo zu entgehen. Vermutungen. Mein Opa und meine Oma, die alles wussten, leben nicht mehr. Warum er in Frankreich geblieben ist, ist mir schleierhaft. Die Fluchtwege waren vielen Exilanten bekannt.

Mir vorliegende Urkunden weisen aus, dass zur gleichen Zeit wie Manés Sperber mein Opa - so wie alle Juden, die als Bürger des Deutschen Reiches feindliche Ausländer waren - interniert war und jedenfalls zwischen Mai und Dezember 1941 im KZ in Les Milles inhaftiert war, davor offenbar, etwa ein Jahr lang, in Camp du Vernet in Ariége, in dem auch Arthur Koestler gefangen war. Rechtsgrundlage dafür wurde später das französische Internierungsgesetz der Vichy-Regierung vom 4. Oktober 1940. Was viele nicht wissen: Die-se Internierungslager hatten mehr mit KZs als mit normalen Auffanglagern zu tun; allerdings wurden Menschen nicht bewusst umgebracht, sie starben aber an schlechter Verpflegung und mangelnder medizinischer Betreuung. Die Überlebenden wurden bereits ab 1940, wie Manes Sperber anschaulich schilderte, ins Deutsche Reich bzw. Generalgouvernement überstellt und in den KZs Osteuropas getötet. Die Regierung Pétains wirkte als Helfer der Nazis glorreich mit. Marschall Philippe Pétain wurde nach dem Krieg zum Tod verurteilt, von de Gaulle aber wegen seiner früheren Verdienste um Frankreich teilweise begnadigt und auf eine Insel in die Verbannung geschickt. Hoch betagt verstarb er 1951. Sein Premierminister Pierre Laval wurde am 15.10.1945 in Fresnes bei Paris hingerichtet.

Zu seinem grossen Glück konnte Omas Schwester, Olga Krupnig, meinen Opa „5 nach 12" mit einem grösseren Geldbetrag von den Vichy-Franzosen freikaufen und ihm in der Folge die Flucht über die Pyrenäen nach Spanien ermöglichen. Dort fand er eine Schiffspassage nach Kuba, das er Anfang 1942 erreichte. Das war bereits Michaels vierte Flucht seit dem März 1938: er war am 12.3.1938 in die Tschechoslowakei, im November 1939 in die Schweiz und anschliessend nach Paris, im Feber 1939 von Marseille nach Palästina und nun von Südfrankreich nach Spanien geflüchtet.

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Familie Halpern, ca. 1922 in Wien. Mit freundlicher Genehmigung I. Fellmann.

Niemand wusste damals, dass am 20. Jänner 1942 in Berlin-Wannsee die geheime, später „Wannseekonferenz" genannte Begegnung von ranghohen Behördenvertretern zur „Endlösung der Judenfrage" unter Vorsitz von Reinhard Heydrich stattgefunden hatte. Protokollführer ist Adolf Eichmann gewesen. Die bis damals erfolgte faktische Vernichtung von Juden kam nun in die finale Eskalationsstufe: alle Juden im Einflussbereich des Deutschen Reiches sollten vernichtet werden. Die Ausreise aus den von den Nazis beherrschten Gebieten wurde von Heinrich Himmler bereits am 23.10.1941 verboten.

Michael verliess nachweislich nach diesem Termin Vichy - Frankreich und konnte die nächsten Jahre in Havanna überleben  - nicht allein, denn  von seiner Familie waren auch Hilda und Leo Weizenbaum, ihre Eltern Antonia und Alois Drucker, und andere vor Ort. Im Laufe der Zeit lebten auch Ernest Drucker, Olga und Julius Krupnig, Zita und Harri Lachs, ihr Sohn Georg Lachs, Omas Bruder Isidor Tausend und seine Frau Fritzi in Havanna. Michael: Nicht allein - und doch einsam, denn seine Frau und drei Kinder waren im fernen Palästina... Er hatte kaum Arbeit, keine eigene Wohnung, nur ein Untermietzimmer. Die Angst liess ihn nicht los, da seine beiden Söhne in der britischen Afrikaarmee dienten, bis nach Kriegsende. Die Kommunikation wurde über den Postweg aufrecht erhalten.

Michael versuchte in Havanna als Strassenhändler und mit Gelegenheitsjobs sein Leben selber zu verdienen, brauchte aber finanzielle Zuwendungen des Joint Distributiv Committee (einer karitativen jüdischen Organisation), der mittelose Juden unterstützte. Er hatte es sehr schwer und sein Herzleiden verschlimmerte sich zusehends. Er kam erst am Beginn des Jahres 1946 nach Tel Aviv zurück, wahrscheinlich, weil es gar nicht einfach für ihn war, die Schiffsreise zu finanzieren. Und er nicht noch einmal jemand bitten wollte, ihm zu helfen.

In der Zwischenzeit arbeitete seine Frau Dora als Verkäuferin im Geschäft Olga Krupnigs „Model" auf der Rehov Allenby 29 und wohnte bescheiden in der Rehov Geula, nahe beim Meer,  in Tel Aviv. Die beiden Söhne waren seit dem Beginn des Krieges in Afrika und später in Italien in der britischen Armee, Ernst/Aron als Sergeant, Robert/Moshe  als Soldat, wobei er die Gelegenheit nützte und in Alexandria, in einem Zelt, seine Matura auf Englisch nachholen konnte.

Die Tochter Trude lebte in den Jahren 1941-43 in den Kibbutzim in Degania Beth und Alumot. Sie konnte dort viel für ihr Leben lernen: Anpassungsfähigkeit, schwere Arbeit und Hitze ertragen, aber auch Kameradschaft und gelebten Sozialismus. Die „Internationale" wurde auf Hebräisch und Russisch gesungen. Zeit ihres Lebens bewahrte sie, auch später als wohlhabende Geschäftsfrau ihr soziales Herz, das „links schlug". Sie kehrte nach Tel Aviv zurück und konnte im damals prominenten Kaufhaus „Hefziba" arbeiten und später eine Lehre als Schneiderin/Verkäuferin im Modesalon der Lola Beer, die aus Prag stammte, beginnen. Sie lernte nähen und abstecken, Verkaufen brauchte sie nicht zu lernen, denn das hatte sie im Blut.

Die Familie Fellmann lebte in Haifa und versuchte einigen Verwandten zu helfen. Ein Bild aus dem Jahr 1944 zeigt die Familie (ohne Michael) in Tel Aviv - kriegsbedingt die beiden Burschen in britischer Uniform. Man schlug sich durch. Alle drei Kinder waren stark zionistisch eingestellt, der ältere Sohn politisch eher bei Begin, die beiden jüngeren bei David Ben-Gurion. Der jüngere Sohn hebräisierte zeitweilig seinen Namen auf Moshe Ben-Zwi.

1946 war mein Opa Michael endlich wieder bei seiner Familie, meine Mutter hatte mittlerweile meinen Vater Fritz Fellmann kennen und lieben gelernt. Am 30. Juni 1946 heirateten die beiden in Tel Aviv, in einer kleinen Synagoge auf der Rehov Ben Jehuda. Die Trauung, die ein Rabbi aus Tschechien durchführte, konnte erst im zweiten Anlauf erfolgen, denn zwei Tage zuvor wurde wegen Unruhen die Küstenstrasse von Haifa nach Tel Aviv von den Briten gesperrt. Robert hatte mittlerweile Palästina verlassen, um seine Studien in Europa fortzusetzen. Aron war Polizeibeamter bei der British Police, vermutlich in Ashkelon, verheiratet, und hatte die 5-jährige Tochter Zippora.

Das Leben in Palästina war unruhig - der Weltkrieg zwar vorbei, aber die Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit Israels noch nicht klar absehbar. Die Führer des Jischuw arbeiten politisch für die Unabhängigkeit, im Untergrund die Hagana, die Gruppe Stern und andere für das Entstehen des jüdischen Staates, auf der anderen Seite gab es zahlreiche arabische Milizen, die gewaltsam versuchten, ihren arabischen Staat zu errichten. Konflikte untereinander und mit den Briten waren vorprogrammiert und höchst zahlreich. Viele Immigranten strömten aus allen Himmelsrichtungen ins Land, auch viele Überlebende der Shoa.

Wie es weiter ging? Die weitere und ausführlichere Erzählung des Schicksals meiner Familie, die auch Onkeln, Tanten und Cousins einbindet, finden Sie in meinem Buch. Das Zusammenwirken von Testimonials, persönlichen Erlebnisberichten und objektiver Zeitgeschichte vermittelt auch Menschen, die sich bisher nicht mit der Thematik befasst haben einen raschen und wie ich hoffe, spannenden Einblick in diese Materie. Ein echtes Anliegen ist mir die Befassung der Jugend in Deutschland und Österreich, aber auch in Israel, mit dem Thema. Hinweise auf mögliche Nachfahren von Personen, die meine Verwandten getroffen haben und etwas über sie erzählen können, sind willkommen!

Das Buch: „Halpern & Fellmann, Flucht vor den Nazis und das Leben danach" soll 2011 erscheinen.

Dr. Ilan Fellmann lebt als Beamter und Publizist in Wien.

Verwendete Literatur:

Canetti, Elias Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. Band 3, Büchergilde Gutenberg, München - Wien 1985

Fellmann, Ilan Vichy-Regierung und die Juden..., in: Die Jüdische vom 7.6.2010

Fellmann, Ilan Internes Protokoll über Gespräche mit Chanan Tell, Cilla Halpern, Gideon Eckstein, Gertrude Fellmann, Helmut Katz, Norbert Lopper, Rosi und Shimon Sharon, Rudolf Gelbard und Emailinformationen von Anitta Katz Burg, Dan Litoff, Ninette Koyama Rubinstein, u.a . Wien 2010

Fellmann, Ilan Lord Benno Bordiga. Ein Wiener Junge erobert New York und die Welt, in: Die Gemeinde ,Wien September 2006, S. 76f.

Hecht, D./Lichtblau, Albert Mutterland-Vatersprache. Eine Dokumentation des Schicksals ehemaliger Österreicher in Israel. Tel Aviv - Wien 2005

Halevi, Ilan Auf der Suche nach dem gelobten Land. Die Geschichte der Juden und der Palästina-Konflikt. Verlag Junius, Hamburg 1986

Kershaw, Ian Der NS-Staat. 4. Auflage, Nikol-Verlag, Hamburg 2009

N. N. Das Internierungslager von Le Vernet in Ariége 1939-1944, in: www.campdevernet.eu

Pierce, Hilda A True Story about Terror, Tears and Triumph, iUniverse Edition, NY - Lincoln 2007

Sperber, Manes Bis man mir Scherben auf die Augen legt. Teil 3 der Trilogie All das Vergangene.., Europa Verlag, Wien-München-Zürich 1983

White, Hilda An Interview with Hilda White (Weizenbaum, born Drucker) in Long Beach, NY, June 2001 (on CD-ROM)

Wyman, David Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden. Verlag Max Hueber, Ismaning bei München 1986