Zuweilen bergen bislang nicht edierte Manuskripte ausser ihren eigenen Texten noch weitere ungehobene Quellenschätze: Der israelische Historiker und langjährige Leiter der Manuskriptsammlung der Hebrew National Library, Abraham David, entdeckte in der Universitätsbibliothek Leipzig in einem 1619 kopierten Manuskript des Sefer ha-Nizachon von Rabbi Jomtow Lipman Mühlhausen1 (gest. um 1450) im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis einen weiteren Text. Dieser stellte sich rasch als Vertreter einer im vormodernen aschkenasischen Judentum eher unüblichen Textgattung heraus: als Chronik eines gewissen Jizchak bar Mordechai Aberlis aus Schweinburg (Gross-Schweinbarth, im südlichen Weinviertel in Niederösterreich), die den Zeitraum vom 20. September 1618, also kurz nach Beginn des Dreissigjährigen Krieges, bis zum 10. Juli 1621 abdeckt. Abraham David edierte den Text mit kurzem Kommentar in der israelischen Fachzeitschrift Kobez al Yad.2
Da die Chronik eine seltene und bedeutende Quelle sowohl für die österreichisch-jüdische als auch für die allgemeine Geschichte des Dreissigjährigen Krieges darstellt, unternahmen meine Kollegin Barbara Staudinger und ich in Rücksprache mit Abraham David die Übersetzung ins Deutsche und ergänzten sie durch einen lokalhistorischen Kommentar, der einige Fehlinterpretationen in der Edition korrigieren konnte. Sie erschien 2009 in der Zeitschrift für Landeskunde Niederösterreichs und stiess auf grosses Interesse.3
Chronik von Jizchak Aberlis (1619-1621). Quelle: UB Leipzig B. H. 4.27, fol. 116b. Mit freundlicher Genehmigung M. Keil.
Eine jüdische Chronik ausgerechnet aus einem Ort namens Schweinburg (Gross-Schweinbarth) scheint erklärungsbedürftig. Doch dieses Städtchen mit dem „trefenen" Namen ist nicht der einzige Ort jüdischer Besiedlung im frühneuzeitlichen Niederösterreich. Wie Barbara Staudinger erforschte, gab es damals „gantze Dörffer voll Juden", so die Beobachtung eines zeitgenössischen Reisenden. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts besassen zumindest Litschau, Achau, Gobelsburg, Hohenau, Weitersfeld, Ebenfurth und Niederthal bei Waidhofen an der Thaya eine - wenn auch geringe - jüdische Bevölkerung.4 Nach 1620 stieg sie durch die Flüchtlingsströme aus Böhmen und Mähren rasch an. Anhand der noch erhaltenen Steuerbücher lässt sich feststellen, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwischen 352 und 480 jüdische Familien in mehr als 70 Orten in Niederösterreich lebten. Nur selten waren dies regelrechte Gemeinden mit der Infrastruktur von Synagoge, Friedhof, Mikwe, Schächter etc., sondern eher aus einer kleinen Anzahl von Familien bestehende Ansiedlungen (jischuwim). Über die religiöse Lebensgestaltung, etwa über die Versorgung mit koscheren Lebensmitteln und das Zustandekommen eines Minjan wissen wir nur wenig. Wie in vielen anderen niederösterreichischen Gemeinden entschlossen sich auch in Schweinburg die adeligen Grundherren ab den 1620er Jahren, Juden auf ihren Herrschaften anzusiedeln. Unter den Grafen von Abensperg-Traun wuchs die jüdische Bevölkerung stark an und umfasste schliesslich 16 und ab 1669 sogar 22 Familien, also etwa 80 bzw. 110 Personen. Eine derart große Ansiedlung benötigt entsprechende Einrichtungen: So erwähnt die Chronik 1619 einen Rabbiner, und der Autor bezeichnet Gross-Schweinbarth als „heilige Gemeinde Schweinburg" (kehilla kedoscha schweinburg).
Fakten oder Fantasie?
Der historische Wahrheitsgehalt der Chronik ist widersprüchlich: Einerseits erweist sich ihr Verfasser Jizchak bar Mordechai Aberlis als Kenner der politischen Situation und deklariert sich wie die meisten Juden seiner Zeit und Herkunft als treuer Anhänger des habsburgischen Kaiserhauses. Er nennt die gegnerischen Heere und deren Heerführer (Bethlen Gábor, die Grafen von Dampiere, Bucquoy, Thurn, Mansfeld u.a.) und auch die Schauplätze (Aspern, Ulrichskirchen, Bockfliess u.a.) mit Namen und beschreibt anschaulich den Verlauf der Kriegszüge. Auch zahlreiche inhaltliche Details aus seinem Bericht können aus anderen, christlichen historischen Quellen und späteren Forschungen bestätigt werden. An der Zeitzeugenschaft und guten Informationslage des Autors ist also nicht zu zweifeln. Andererseits gibt er durchgehend falsche Zeitangaben und Jahreszahlen an, auch von Ereignissen, die sicher auch jedem Juden deutlich im Gedächtnis waren, wie etwa der Schlacht am Weissen Berg am 8. November 1620, die er mit 1618 datiert. Diese konsequente Falschdatierung der Ereignisse jeweils um etwa zwei Jahre irritiert und lässt sich auch nicht durch die unterschiedliche Jahreszählung des jüdischen Kalenders erklären. Möglicher Weise schrieb Jizchak seine Chronik erst viele Jahre nach den Ereignissen nieder. Wie in der Vormoderne üblich verwendete er zur Datierung die gottesdienstlichen Leseabschnitte der Tora, zum Beispiel „am Montag des Abschnitts Korach" (Numeri 16, 3 = 10. Juni 1619). Für die Wiedergabe von Waffen und anderem Kriegsgerät fehlte ihm das hebräische Vokabular, so dass er sich mit deutschen Bezeichnungen in hebräischen Buchstaben behelfen musste, wie etwa bei einem „Feuerrohr, das man Büchsen nennt".
Jizchak Aberlis' Erlebnisse sind von Angst und Fluchterfahrung geprägt: Wie viele Juden und natürlich auch Christen verliess er mit einigen Familienangehörigen seinen Heimatort und suchte Schutz in einer grösseren Stadt, in diesem Fall in Wien. Elf seiner Verwandten, darunter auch Frauen und Kinder, wurden in Schweinburg von polnischen Söldnern gefangen genommen und nur gegen hohes Lösegeld wieder freigelassen. Mitglieder der jüdischen Gemeinde Nikolsburg hielten sich in Klosterneuburg auf und erlebten dort einen gefährlichen Angriff auf das Stift. Der Verfasser war Augenzeuge von Belagerungen, Plünderungen und Metzeleien, „aber mit der Gnade des Ewigen hat Er uns von allen diesen Irrungen errettet". Mit seiner Chronik gibt Jizchak Aberlis daher einerseits Kunde von historischen Ereignissen, die 30 Jahre lang das Leben in Mitteleuropa prägten und nachhaltig im kollektiven Gedächtnis blieben. Andererseits bezeugte er, ganz Kind seiner Zeit, das Wirken Gottes in der Geschichte und interpretierte die politischen und militärischen Wendungen als gerechte Bestrafung der Sünden und gnädige Errettung.
1 Universitätsbibliothek Leipzig B. H. 4.27, fol. 116b-117a
2 Abraham David, A New Document to the Beginning of the Thirty Years War. In: Kobez al Yad. Minora Manuscripta Hebraica, New Series XVIII (XXVIII) (Jerusalem 2005) 317-329, Edition 326-329 (hebr.).
3 Martha Keil, Barbara Staudinger, Abraham David, Aus der „heiligen Gemeinde Schweinburg". Eine hebräische Chronik aus dem frühneuzeitlichen Niederösterreich. In: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde Niederösterreichs 80 (2009), S. 4-16.
4 Barbara Staudinger, „Gantze Dörffer voll Juden". Juden in Niederösterreich 1496-1670. = Geschichte der Juden in Niederösterreich von den Anfängen bis 1945; Bd. 2 (Wien 2005) 49f.