Ausgabe

»Wir alle haben verschiedene Geschichten«

Inhalt

Ágnes Heller: Eine kurze Geschichte meiner Philosophie.

Aus dem Englischen übersetzt von Georg Hauptfeld

Wien und Hamburg: Edition Konturen 2017

240 Seiten, Hardcover, Euro 28,80 

ISBN: 978-3-902968-25-8

Auch als E-Book erhältlich, Euro 15.99

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Mit freundlicher Genehmigung Edition Konturen (Wien und Hamburg)

Ágnes Heller, die zu den bedeutendsten Philosophinnen unserer Zeit zählt, wurde am 12. Mai 1929 in Budapest als Tochter jüdischer Eltern geboren. Ihr Vater und zahlreiche Verwandte wurden während der NS-Diktatur ermordet. Sie selbst und ihre Mutter überlebten im Budapester Ghetto. „Mein Vater wurde nach Auschwitz deportiert. Meine Mutter und ich schlugen uns irgendwie im Budapester Ghetto durch. 1944 und 1945 konnte ich dem Tod dreimal nur um ein Haar entrinnen. Man musste seinerzeit ständig auf der Hut sein, man wusste nämlich nie, was auf einen zukommt, die permanente Wachsamkeit bewirkte aber, dass man sich immerzu in einem erschöpften, dumpfen Zustand befand.“1 Nach der Matura studierte Ágnes Heller beim marxistischen Philosophen György Lukács2 und gehörte später zur reformmarxistischen „Budapester Schule“. Hier setzt das vorliegende Buch ein, das sich in vier Kapitel gliedert: Lehrjahre (1950 – 1964), Dialogjahre (etwa 1965 – 1980), Aufbaujahre und Jahre der Intervention (1980 – 1995) sowie Wanderjahre (1995 – 2010). Schon als junge Studentin bewahrte sei immer ihre Unabhängigkeit, auch von ihrem Lehrmeister György Lukács. Seine Schülerin zu werden, war für sie das grösste Glück in ihrem Leben und ohne ihn wäre sie nie Philosophin geworden. In der Zeit nach dem Ungarischen Volksaufstand von 1956 und dem Beginn der 1960-er Jahre war Ágnes Heller ganz auf sich allein gestellt. Ab 1963 verbesserte sich die Lage und die Autorin nennt diese Phase in ihrem Buch Dialogjahre: „Ich schrieb nun nicht mehr für mich allein, sondern für die Öffentlichkeit, für verschiedene Öffentlichkeiten. Und ich fand ein Echo, erhielt Rückmeldungen. Erstmals hatte ich das Gefühl einer sogenannten Berufung, das ich noch nie zuvor empfunden hatte, dass das, was ich schrieb oder dachte, nicht nur für mich wichtig war, sondern auch für andere, dass ich eine »Sache« hatte oder eher mehrere »Sachen«, für die ich verantwortlich war, für die ich stand.“ Nach jahrzehntelanger politischer Unterdrückung in Ungarn emigrierte Heller 1977 nach Australien, wo sie von 1978 bis 1983 eine Soziologie-Professur an der La Trobe Universität in Melbourne innehatte. 1986 wurde sie Hanna Arendts Nachfolgerin am Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. 1995, ein Jahr nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes Ferenc Fehér,3 begannen ihre Wanderjahre: „Das Reisen wurde zu meiner Lebensform. Es scheint, als hätte ich erst alt werden müssen, damit der grosse Traum meiner Kindheit wahr wird.“ Ágnes Heller liefert einen sowohl interessanten als auch persönlichen Blick auf ihr Leben und ihre Philosophie: „Wir alle haben verschiedene Geschichten. Was mich betrifft, auch ich habe einige, reich an Konflikten, Dramen, Freuden und Kummer. Ich hatte vielfach Gelegenheit, darüber in meinen Interviews mit neugierigen Journalisten zu sprechen. Doch unter den Geschichten meines Lebens gibt es eine, zu der ich selten befragt werde. [...] Eine Geschichte, die nicht mit meiner Geburt beginnt, sondern mit meinen Zwanzigern, um dann parallel zu meinen anderen Geschichten zu verlaufen. Es ist die Geschichte meiner Philosophie.“ Am 14. Juni 2018 wurde ihr in Wien der Manès-Sperber-Preis für Literatur verliehen. Bis heute ist Ágnes Heller eine wachsame und kluge Beobachterin der Welt geblieben. Nach der letzten Wahl in Ungarn bangt sie um ihr Heimatland und warnt vor Viktor Orbáns Ambitionen, die ganz Europa gefährden könnten: „Ich habe schon viel Schlechteres erlebt in meinem Leben. Ich sorge mich nicht um mich, sondern um Ungarn. Orbán lehrt die Menschen zu hassen. Er zerstört die Seele dieses Landes.“4

 

Literatur von Ágnes Heller (Auswahl)

Alltag und Geschichte – Zur sozialistischen Gesellschaftslehre (1970)

Theorie der Bedürfnisse bei Marx (1976)

Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács (1977)

Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion (1978)

Theorie der Gefühle (1980)

Philosophie des linken Radikalismus. Ein Bekenntnis zur Philosophie. Mit Ferenc Fehér (1984)

Die Linke im Osten – die Linke im Westen. Ein Beitrag zur Morphologie einer problematischen Beziehung (1986)

Ist die Moderne lebensfähig? (1995)

Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches (2014)

Von der Utopie zur Dystopie: Was können wir uns wünschen? (2016)

Was ist komisch? Kunst, Literatur, Leben und die unsterbliche Komödie (2018)

 

Monika Kaczek

 

1: Bognar, Peter: Ágnes Heller. „Philosophen stellen blöde Fragen“ (Interview), Die Presse online, 4. August 2012, https://diepresse.com/home/leben/mensch/1275712/Agnes-Heller_Philosophen-stellen-bloede-Fragen

2: György Lukács (1885 – 1971) war ein ungarischer Philosoph, der gemeinsam mit Ernst Bloch, Antonio Gramsci und Karl Korsch zu den wichtigsten Erneuerern der marxistischen Theorie zählt. 

3: Ferenc Fehér (1933 – 1994) war ein ungarischer Philosoph und einer der führenden Köpfe der „Budapester Schule“

4: Verseck, Keno: Philosophin Ágnes Heller über die Wahl „Orbán zerstört die Seele Ungarns“ (Interview), SPIEGEL Online, 12.04.2018 http://www.spiegel.de/politik/ausland/agnes-heller-viktor-orban-zerstoert-die-seele-ungarns-a-1202326.html