Ausgabe

Normsetzung im Notstand1

Kamila Staudigl-Ciechowicz

100 Jahre Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz 1917 – seine Anwendung in der Donaumonarchie und in der Republik Österreich

 

Inhalt

2017 jährt sich zum 100. Mal die Erlassung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes (KwEG). Dieser Umstand lädt ein, sich Gedanken über die Bedeutung von Demokratie und ihre Fragilität zu machen, sich daran zu erinnern, wie leicht demokratische Prozesse in der Vergangenheit umgangen worden sind, und daraus für die Zukunft zu lernen. 

 

Eine der Errungenschaften des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert war die Beteiligung von Volksvertretern an der Gesetzgebung. Die frühen österreichischen Verfassungen setzten fest, dass Gesetze vom Monarchen gemeinsam mit dem Parlament beschlossen wurden. Dabei hatte der Monarch durch ein absolutes Veto die Möglichkeit jedes Gesetz zu verhindern. 

Neben diesem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren entwickelte sich ein auf die frühere Machtvollkommenheit des Monarchen zurückgehendes ausserordentliches Gesetzgebungsrecht. So sah das Grundgesetz über die Reichsvertretung 1867 im § 14 ein Notverordnungsrecht des Kaisers vor. Demnach konnte der Monarch bei dringender Notwendigkeit, wenn das Parlament nicht versammelt war, kaiserliche Verordnungen (sog. § 14-Notverordnungen) erlassen. Diese Notverordnungen mussten von allen Ministern gegengezeichnet werden, die dadurch für diesen Akt des Kaisers die Verantwortung dem Parlament gegenüber übernahmen. § 14-Notverordnungen hatten provisorische Gesetzeskraft und mussten dem Parlament sobald wie möglich vorgelegt werden. Phasenweise griff der Kaiser auch auf sein Notverordnungsrecht zurück, wenn politische oder nationale Spannungen die parlamentarische Arbeit lähmten. Er löste das Parlament auf und regierte mittels § 14-Notverordnungen – eine Vorgehensweise, die aus juristischer Sicht bedenklich war und vom Parlament und der Presse heftig kritisiert wurde. Nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges erlebte der § 14 sogar seine „zweite Hochblüte“.2 

Während der „ersten Hochblüte“ des Notverordnungsrechts zwischen 1897 und 1904 waren 76 sog. § 14-Notverordnungen erlassen worden,3 zwischen 1914 und 1917 waren es 173.4 Kurz nach Ausbruch des 1. Weltkrieges ermächtigte der Kaiser die Regierung mittels einer kaiserlichen Notverordnung zur selbständigen Erlassung von Notverordnungen im Bereich der Kriegswirtschaft. Damit schuf man ein „sekundäres Notverordnungsrecht“. Von Oktober 1914 bis Juli 1917 ergingen 510 solcher Verordnungen. Um diese kriegswirtschaftlichen Massnahmen auf eine rechtlich sichere Basis zu stellen, beschloss der österreichische Reichsrat (Parlament), der seit 1914 nicht mehr getagt hatte, 1917 das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KwEG).5 Dieses Gesetz würde später sowohl in die Erste als auch in die Zweite Republik übergeleitet. Erst 1946 erfolgte die formale Aufhebung dieses umstrittenen Gesetzes. 

Das KwEG ermächtigte die Regierung wie auch einzelne Minister, notwendige Verfügungen im Verordnungsweg zu erlassen, die provisorische Gesetzeskraft hatten. Zeitlich war die Ermächtigung auf die Dauer der durch den Krieg verursachten ausserordentlichen Zustände beschränkt, inhaltlich auf die Nahrungsversorgung der Bevölkerung, den Wiederaufbau und die Förderung der Wirtschaft. In den ersten Jahren der jungen Republik (Deutsch-)Österreich waren Regierungsverordnungen nach dem KwEG eine Alltagserscheinung. So wurden etwa 1919 über 240 solcher Verordnungen erlassen.6 In den folgenden Jahren verebbte diese Praxis, 1927 wurde lediglich eine, 1928 drei Regierungsverordnungen nach dem KwEG erlassen. Versuche seitens der Sozialdemokraten das KwEG mangels Notwendigkeit aufzuheben, scheiterten. Als nun die politischen Spannungen 1932/33 eskalierten, griff die christlichsoziale Regierung auf Anraten des Sektionschefs Robert Hecht, zum beinahe vergessenen KwEG.7

1933 erlebte das KwEG eine Hochblüte – nach der Krise im Plenum des Nationalrates Anfang März 1933, die die Regierung als Selbstausschaltung des Parlaments darstellte, baute die Regierung auf Grundlage von KwEG-Verordnungen eine Kanzlerdiktatur auf. 

Den Anfang machten Regierungsverordnungen zur Einschränkung der Pressefreiheit und Parteiverbote. Als im Mai 1933 die Ausschaltung des einzigen Kontrollorgans, des Verfassungsgerichtshofes, mittels Regierungsverordnung erreicht wurde, war der „Staatsstreich auf Raten“ komplett. Gerade der Verfassungsgerichtshof, der 1920 nach den Plänen Hans Kelsens, eines der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts, errichtet worden war, sollte die Verfassung und die Demokratie schützen.

Mit Hilfe dieser Regierungsverordnungen wurde die christlichsoziale Herrschaft gefestigt. Dabei war die Regierung stets um die Aufrechterhaltung des Scheines der Legitimität ihres Handelns nach aussen bemüht. Den Höhepunkt der verfassungsverletzenden KwEG-Verordnungspraxis stellte die Erlassung der Maiverfassung 1934 im Verordnungsweg dar. So war aus dem wirtschaftsfördernden Instrument ein Hilfsmittel für den Staatsstreich geworden. 

In weiterer Folge verlor das KwEG gänzlich an Bedeutung, seine Funktion übernahm ein 1934 beschlossenes Ermächtigungsgesetz,8 das der österreichischen Regierung ein grenzenloses Gesetzgebungsrecht auch im Bereich der Verfassung zusprach. Ähnliche Tendenzen hatten sich bereits zuvor in Hitlerdeutschland gezeigt, wo im März 1933 der Reichsregierung das Gesetzgebungsrecht zugesprochen worden war.9 Aus diesen Ermächtigungen entwickelten sich Mechanismen der Entrechtung und Vertreibung von den Regimen unerwünschter Personen. 

Rezente Entwicklungen in der Weltpolitik machen das Thema wieder aktuell. Die Verhängung von Ausnahmezuständen, die Einschränkung von Grundrechten und die Aushebelung von gegenseitigen Kontrollrechten im Staatswesen sind besorgniserregende Entwicklungen. Angesichts dessen scheint der Einzelne machtlos, doch liegt es an uns, die demokratischen Werte aufrecht zu halten, für deren Beibehalt einzustehen. Denn – um es mit den Worten des deutschen sozialdemokratischen Politikers Friedrich Ebert zu sagen – „Demokratie braucht Demokraten“.

Mit Robert Hecht und Hans Kelsen hatten zwei namhafte österreichische Juristen jüdischer Herkunft wesentlichen Anteil an der Gestaltung Österreichs 1918–1938. Hier einige biographische Hinweise: 

Robert Hecht (* 9. März 1881 in Wien; † 30. Mai 1938 im Konzentrationslager Dachau) war ein bedeutender Jurist und Spitzenbeamter im österreichischen autoritären Ständestaat. Robert Hecht, war jüdischer Herkunft, konvertierte aber 1900 zum evangelischen Glauben. Er studierte ab 1900 Rechtswissenschaften an der Universität Wien, wurde 1905 zum Dr. jur. promoviert und begann danach den richterlichen Vorbereitungsdienst. Hecht rückte 1914 als Leutnant an die Front, wurde aber nach einigen Monaten in der Militärjustiz eingesetzt. Bei Kriegsende war Hecht im k.k. Ministerium für Landesverteidigung tätig und wurde 1925 Sektionschef im Bundesministerium für Heereswesen sowie Berater des langjährigen Heeresministers Carl Vaugoin. Ab 1932 beriet er auch Bundeskanzler Engelbert Dollfuss und war als solcher massgeblich an der „Entwicklung des legistischen Instrumentariums für den autoritären Ständestaat beteiligt“10. 1936 bis 1938 war Hecht Leiter des Postsparkassenamtes. Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurde Robert Hecht am 12. März 1938 verhaftet und mit dem ersten Transport in das Konzentrationslager Dachau deportiert, wo er bald darauf zu Tode kam.11

Hans Kelsen (* 11. Oktober 1881 in Prag, Böhmen; † 19. April 1973 in Orinda bei Berkeley, USA) gilt als Architekt der österreichischen Bundesverfassung von 1920 und als einer der bedeutendsten Vertreter des Rechtspositivismus des 20. Jahrhunderts. 

Kelsen war jüdischer Herkunft. 1905 trat er zum römisch-katholischen Glauben über und konvertierte 1912 in die evangelische Kirche A.B. In antisemitischen Kreisen wird er bis heute fälschlich und abschätzig mit dem jüdischen Namen „Kohn“ in Verbindung gebracht („Kelsen-Kohn“).

Kelsen studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien, promovierte 1906 zum Dr. jur. und habilitierte sich 1911 in Staatsrecht und Rechtsphilosophie. 1918 wurde er ausserordentlicher Professor, 1919 ordentlicher Professor an der Universität Wien. Nach Ausrufung der Republik Deutschösterreich 1918 wurde Kelsen als Experte für Verfassungsfragen herangezogen, er war massgebend an der Ausarbeitung des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920, der im Kern bis heute in Österreich geltenden Verfassung, beteiligt. Von 1919 bis 1930 war Kelsen nebenamtlich als Richter am Verfassungsgerichtshof tätig. Nach der „Umpolitisierung“ des Verfassungsgerichtshofes 1929 und Kelsens Abberufung als Verfassungsrichter nahm er 1930 eine Professur für Völkerrecht an der Universität Köln an. Dort wurde er nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 zunächst beurlaubt und mit Jahresende 1933 aus rassistischen Gründen in den Ruhestand versetzt. 1934 erschien sein Hauptwerk „Reine Rechtslehre“, worin er die von ihm entwickelte Variante des Rechtspositivismus darlegte. 1933-1940 unterrichtete Kelsen in Genf bzw. 1936-1938 in Prag. 1940 emigrierte Kelsen in die Vereinigten Staaten, wo er zunächst in Harvard, dann bis 1952 in Berkeley lehrte. Kelsen, dem 12 Ehrendoktorate verliehen worden waren, wurde 1947 in die Österreichische Akademie der Wissenschaften aufgenommen und offiziell geehrt, jedoch nicht zur Rückkehr nach Wien eingeladen. Nach seinem Tod wurde er auf eigenen Wunsch eingeäschert und seine Asche über den Pazifik verstreut.12 

 

Verwendete Literatur

Gernot D. Hasiba: Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) von 1917. In: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag. Berlin: 1981, S. 543–565.

Gernot D. Hasiba: Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848–1917). Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1985.

Peter Huemer: Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1975.

Robert Walter, Werner Ogris, Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien: Manz 2009.

Helmut Wohnout: Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien u.a.: Böhlau 1993.

 

Die Autorin

Kamila Staudigl-Ciechowicz, geb. 1984, studierte Rechtswissenschaften, Kirchenrecht und Geschichte an der Universität Wien (Mag. iur. 2008, LL.M. Kirchenrecht 2014, Dr. iur. 2017). Sie arbeitet als Rechtshistorikerin an der Forschungsstelle für Rechtsquellenerschliessung (FRQ) des Instituts für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien und publizierte jüngst eine umfangreiche Studie zum universitären Dienst-, Habilitations- und Disziplinarrecht: Das Dienst-, Habilitations- und Disziplinarrecht der Universität Wien 1848-1938. Eine rechtshistorische Untersuchung zur Stellung des wissenschaftlichen Universitätspersonals. Wien: V&R unipress 2017.

 

1 Eine gleichnamige internationale Tagung, veranstaltet von der Österr. Akademie der Wissenschaften und der Universität Wien, widmete sich am 16. und 17. Oktober 2017 ausführlich diesem Thema (http://kweg1917.univie.ac.at/). 2018 erscheint der Tagungsband in den „Beiträgen zur Rechtsgeschichte Österreichs“. 

2 Hasiba, 1985, 150–164.

3 Hasiba, 1985, 168–174. 

4 Hasiba, 1981, 547. 

5 RGBl 307/1917.

6 Hasiba, 1981, 559. 

7 Huemer, 1975, 143f.

8 BGBl I 255/1934.

9 Dt. RGBl I 1933, 141. 

10 Artikel zu Hecht auf aeiou (http://www.aeiou.at/aeiou.encyclop.h/h331958.htm).

11 Vgl zu ihm Huemer, 1975. 

12 Zu Kelsens Leben und Wirken vgl. Informationen des Hans Kelsen-Instituts (http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen). Es existieren zahlreiche biographische Publikationen zu Kelsen; siehe z. B. Walter/Ogris/Olechowski, 2009; vgl. auch Nina Horaczek: Wieso nennt die FPÖ Hans Kelsen einen „Kohn“, Herr Peham? In: Falter Nr. 29 vom 19.7.2017.