Ausgabe

Geteilte Stadt – geteiltes Leid

Karin KNEISSL

Inhalt

Das menschliche Miteinander lernte ich in Jerusalem. Heilig für so viele, aber auch einfach nur die Heimatstadt für andere. Das sehr persönliche Psychogramm einer gebeutelten Stadt.

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Bundesministerin Karin Kneissl. Foto: BMEIA/Mahmoud, mit freundlicher Genehmigung.

Das französische Hospiz St. Louis gegenüber dem „Neuen Tor“ wurde im Sommer 1984 zu meinem ersten Zuhause in Jerusalem. Eigentlich wollte ich in einem arabischen Kindergarten im Libanon arbeiten, um die Sprache, die ich in Wien studierte, zu üben. Die damalige politische Lage verunmöglichte meinen Beirut-Plan. Die Reise nach Jerusalem ergab sich über eine palästinensisch-österreichische Familie.  Ich hatte Geld für zwei Wochen und wollte drei Monate bleiben, so suchte ich Arbeit. Die Mutter Julie, eine rüstige Dame aus Ramallah, begleitete mich von Spital zu Spital. Die Welt war vor dreissig Jahren unkomplizierter, auch in Jerusalem. Sich zwischen den Vierteln und Landesteilen zu bewegen würde in den Folgejahren komplizierter werden.

 Das Österreichische Hospiz, damals noch medizinische Ambulanz innerhalb der Stadtmauern, wurde gerade umgebaut. Der damalige Leiter, bei dem ich fragte, ob ich als Volontärin anheuern dürfte, schickte mich zu den französischen Schwestern ausserhalb der Stadtmauern. Dort konnte ich auch tatsächlich tags darauf mit der Arbeit beginnen. Es war ein Hospiz im medizinischen Sinne: die Menschen kamen in unser Haus, um ihr Leben auszuhauchen; und dies in möglichst würdevoller Umgebung. Ich lernte damals in zwei Dutzend Sprachen Gute Nacht zu sagen, denn ich meldete mich für die Nachtdienste. Meistens verstarben die Menschen in den frühen Morgenstunden, wir Nachtschwestern versuchten dann bei ihnen zu sein, die Angehörigen zu kontaktieren und alles, was zwischen Leben und Tod erfolgt, irgendwie zu handhaben. Dazu gehörten auch das Waschen des Leichnams und die Hinterbliebenen im ersten Schmerz zu trösten.

 Die freien Tage zwischen den teils aufreibenden Nächten nutzte ich für Erkundungen und Gespräche. Ich wollte verstehen, warum die Lage im Nahen Osten so war, wie sie war. Jerusalem war für mich auch der grosse Bazar der Religionen. Am Freitag besuchte ich die Synagoge von Schalom Ben-Chorin. Mit ihm und seinem Sohn Tovia durfte ich noch wunderbare Gespräche über Martin Buber führen. Samstag und Sonntag ging ich zu den diversen christlichen G‘ttesdiensten: den Kopten, Maroniten, den US-amerikanischen Baptisten ebenso wie zu den deutschen Protestanten, deren Häuser ich am See Genezareth in Tabgha ebenso gerne aufsuchte. Genauso einfach war es damals noch, als Nichtmoslem die Moscheen zum Freitagsgebet zu besuchen. Ich erinnere mich gut der Tipps von Erwachsenen in Wien, die verständnislos auf meinen Plan, Arabisch und Hebräisch zu lernen, reagierten: „Lern lieber ordentlich Englisch, die intelligenten Araber können alle Englisch.“ Ich wollte aber mit allen Menschen mich irgendwie verständigen können und schlug diesen dämlichen Rat in den Wind. Zweifellos sorgte ich für Lacher, als ich einer Beduinin am Jaffa-Tor, wo noch Eselswagen Obst ankarrten, im klassischen Hocharabisch ein Kilo Trauben abkaufen wollte. Dank Angela Constantinides, Rezeptionistin im Hospiz, lernte ich bald viele Begriffe der Umgangssprache. Angela sprach acht Sprachen, und wir tauschten unsere Kenntnisse: Deutsch für Arabisch, Italienisch für Hebräisch.  

 Auch befolgte ich nie die Aufforderung, mich doch endlich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Als ich auf Einladung von Charlotte Teuber, der letzten grossen österreichischen Politologin, im Büro der Arabischen Liga Jahre später einen Vortrag über den beeindruckenden Campus der Hebräischen Universität vom Skopusberg halten würde, schlug mir manche Feindseligkeit entgegen. Meine Haltung war stets: Es gibt interessante und weniger interessante Menschen auf allen Seiten. Das Leben ist zu kurz, um es mit den weniger interessanten Zeitgenossen zu verbringen.  Jerusalem war für mich damals der Mikrokosmos all der menschlichen Höhen und Tiefen, die in der Geschichte stets wiederkehren. Wie es schon im Buch Kohelet heisst: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Unser altes Hospiz war Ende des 19. Jahrhunderts eines der ersten Häuser ausserhalb der mächtigen Stadtmauern; so wollte die osmanische Verwaltung die überfüllte Altstadt entlasten. Kranke können bei Einbruch der Dunkelheit nicht einfach ihre Zelte abbrechen und in die Stadt ziehen. Es war ein mächtiger Bau, auf dessen Terrasse man eine gute Sicht auf die gesamte Altstadt genoss und binnen weniger Meter in das westliche israelisch geprägte Jerusalem kam. Am 14. Juli hissten wir die französische Flagge auf dem Dach und sangen die Marseillaise. Zwei jüdische Ärzte kamen aus Frankreich, doch die Nonnen waren christliche Araberinnen und aus Irland. Wir, die Volontäre. kamen von überall her. Wir kamen miteinander aus, da wir einander schlicht als Menschen im Leid und in der Freude begegneten. In den Pausen tanzten wir in der Küche zu welcher Musik auch immer. Das war kein aufgedrücktes Multikulti, sondern es war einfach Jerusalem. Wir spielten Basketball, und keiner fragte, wer an welchen G‘tt glaubte. Das alles geschah von allein, ohne NGOs oder UNO-Programm. Mit den Angehörigen der Patienten verbanden uns oft Freundschaften. Ein väterlicher Ratgeber wurde Shilo Eisenstein aus Rumänien, dessen Lebensgeschichte eines der vielen Dramen des blutigen 20. Jahrhunderts war. Davon erzählte er kaum. Viel wichtiger war ihm der wöchentliche Leseabend mit den jungen Menschen aus Europa zum Freigeist Baruch Spinoza. In deutscher Sprache Heine und Spinoza zu studieren war das Lebenselixier des weisen alten Mannes. Ich verbrachte sechs Monate in dem Hospiz. 1988 studierte ich an der Hebräischen Universität. Nun wurde Hans Klinghoffer mein väterlicher Freund, er war noch Assistent von Hans Kelsen, dem Vater der österreichischen Verfassung, gewesen. Vergeblich hatte Klinghoffer, Likud-Mitglied der ersten Stunde, Entwürfe für eine israelische Verfassung geschrieben. 

 Dazwischen zog es mich nach Ramallah, Bethlehem und Haifa. Die palästinensischen Studenten jener Zeit strebten in die DDR, sie kannten ihren Marx, und wir diskutierten nächtelang die Politik. Jahre später war aus so manchem überzeugten Marxisten ein Islamist geworden. Wir diskutierten nicht mehr. 

 Das ich in Jerusalem im Haus meiner palästinensischen Freundin Angela erfuhr, waren Grosszügigkeit und Gastfreundschaft, wie ich sie zuvor nicht kannte. Diese Herzenswärme des Orients, eine kleine Dosis Schicksalsergebenheit und vor allem den Alltag in Würde und Eleganz zu meistern – all das verdanke ich Jerusalem und seinen Menschen.

Der Artikel ist am 17.12.2017 in der ‚Krone bunt‘ erschienen und wurde uns mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.