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Welche Bedeutung hat 1945?

Frank JÖDICKE

Inhalt

Ferenc Töröks Film »1945«1 handelt von einem ungarischen Dorf im Sommer des Jahres 1945. Die Bewohner bereiten sich auf die Hochzeit von Árpád und der hübschen Hirtin Kisrózsi vor. Árpád ist der Sohn des reichen Ortsvorstehers István, der verzweifelt versucht, die Stadt unter seinem Kommando zu halten, während sich gerade die neue Sowjetregierung in Ungarn installiert. Plötzlich kommen zwei Fremde am Bahnhof an: ein alter orthodoxer Jude und sein Sohn. Das Dorf gerät in Aufregung und spekuliert sorgenvoll über die Gründe dieses Besuchs. Wir sprachen mit dem Regisseur Fernec Török über die unterschiedlichen Perspektiven in seinem Film und darüber, dass alte Kameraleute zuweilen g-ttlich erscheinen können.

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Zwei unbekannte jüdische Männer erscheinen am Bahnhof. Aus dem Film „1945“ von Ferenc Török. Mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Filmfestivals

 

JÖDICKE: Zunächst einmal: Herzlichen Glückwunsch zu diesem Film. Nach beträchtlichen 12 Jahren Produktionsdauer wirkt er wie aus einem glatten Guss. Wie ist der Film aus Ihrer Sicht zu charakterisieren? Kann er als eine Parabel bezeichnet werden? 

Ferenc Török: Meiner Meinung nach ist es eher ein Drama. Ein antikes Drama, gebaut wie ein Theaterstück, mit den klassischen Einheiten von Zeit und Ort. Die ganze Filmhandlung dreht sich um Ereignisse, die innerhalb von drei Stunden stattfinden. Und er ist wie ein Thriller gebaut, weil die Spannung sehr wichtig ist. Am Anfang steht ein Geheimnis. Dann haben wir auch bestimmte Elemente des Western eingebaut, in bewusster Anlehnung an High Noon. Es gibt also eine Mischung von Genres, aber im Grunde ist es ein antikes Drama. Natürlich gibt es wichtige Elemente, die an eine Parabel erinnern, aber wir haben sie nicht Symbole genannt, wir sprachen lieber von Icons oder ikonischen Bilder.

 

JÖDICKE: Während des Films baut sich somit eine Spannung auf, die eng mit der Idee einer Rache verbunden zu sein scheint und dann diese schöne Pointe: Diese Fremden sind nicht da, um sich zu rächen. Aber wir werden jetzt nicht verraten, was ihr Ziel ist.

Ferenc Török: Nein, das wäre ein Spoiler. Es ist vollkommen richtig, das ist die Grundidee des Drehbuchs gewesen. Es ist kein wirkliches Geheimnis, aber eine gewisse parallele Entwicklung ist wichtig. Die beiden orthodoxen Juden sind in einer völlig anderen Logik als der Rest des Dorfes. Nach den Lagern sind sie nicht gebrochen. Sie machen einen Neuanfang und sie glauben immer noch an G-tt. Das ist wirklich wichtig: Nach dem Holocaust sagen sie nicht, wir vergessen jetzt G-tt. Sie haben einen würdigen Stolz bewahrt. Aber die Menschen im Dorf empfinden grundlegend anders. Die ungarische Gesellschaft denkt an das Vergangene und die Menschen haben Angst vor den Juden, weil sie sich nichts anderes als Rache vorstellen können. Sie haben den Juden die Häuser und allen Besitz weggenommen und jetzt haben sie Angst. So beginnt das Gerede. Ein falsches und unbegründetes Geschwätz, das das Produkt einer Paranoia ist. Einer dummen Paranoia!

 

JÖDICKE: Die Juden sind in der Lage, an ihrer Tradition festzuhalten. Sie beten das Kaddisch, während die Ungarn auch gerne eine traditionelle Hochzeit abhalten wollen, aber das ist unmöglich.

Ferenc Török: Ja, ihre Fähigkeit dazu ist weg. (lacht) Es wäre ja eine symbolische Hochzeit, denn nach dem Krieg wäre es das erste Ereignis eines Neuanfangs. Wie in dem Film von Andrzej Wajda, in dem die Hochzeit eine symbolische Aussage ist. 

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Misstrauisch werden die Neuankömmlinge im Dorf beäugt. Aus dem Film „1945“ von Ferenc Török.

Mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Filmfestivals.

JÖDICKE: Der Film vermittelt eine neue Perspektive. Während herkömmlicherweise Filme über die Shoah sich auf die Ermordungen konzentrieren, rückt 1945 die unrechtmässigen Erwerbungen und die mögliche Restitution ins Zentrum. Der Diebstahl hatte ja in der Entstehung der Shoah eine grosse Bedeutung. Warum haben Sie und der Drehbuchautor Gábor T. Szántó diese Herangehensweise gewählt?

Ferenc Török: Die literarische Vorlage für das Drehbuch war eine Kurzgeschichte von Gábor T. Szántó und die Filmhandlung ist ihr sehr ähnlich. Abgesehen von der Hochzeit, die gibt es in der Kurzgeschichte nicht. Szántó hat 15 sehr konzentrierte Seiten geschrieben. Eine geradlinige und einfache Geschichte über einen langen Weg, über eine Reise. Ohne Dialoge. Es geht bei dieser Erzählung um die Möglichkeit eines Pogroms oder die Möglichkeit der Rache. Die Beschreibungen waren bereits sehr visuell: Grossartige Bilder von den Bäumen, den Menschen mit den schwarzen Hüten in der Sonne, die mir sogleich ein Gefühl von Spannung und Gefahr gaben. Noch während ich die Geschichte las, sah ich den Film bereits in Schwarz und Weiss. 

 

JÖDICKE: Ich vermute, der Kameramann Elemér Ragályi war eine grosse Hilfe.

Ferenc Török: Er ist fast 80 Jahre alt und er ist ein grosser Meister. 1945, zum Zeitpunkt an dem diese Geschichte spielt, war er sechs Jahre alt und er lebte auch in einem Dorf. Die Perspektive des Films ist manchmal die eines kleinen Jungen. Wir benutzten lange Objektive, damit der Eindruck entsteht, den ein Kind hat, das die Szene aus einem anderen Raum betrachtet.

 

JÖDICKE: Seltsamerweise scheint der Film recht optimistisch zu sein. Letztlich tun die Menschen in diesem kleinen ungarischen Dorf das Richtige. Offensichtlich nicht István, nicht der Geistliche und nicht der Polizist. Die anderen aber, zum Beispiel Istváns Sohn Árpád und seine Mutter Anna, sie scheinen Busse zu tun. 

Ferenc Török: Ich denke auch. Es stimmt, im Film ist etwas Optimistisches. Sehen wir es einmal so: Siebzig Jahre lang haben wir es geschafft keinen Krieg zu führen. Es war keine besonders schöne Zeit im Kommunismus und (lacht) der heutige Kapitalismus ist auch schlecht. Aber es ist kein Krieg. Wir töten uns nicht gegenseitig. Auch konnten wir zum Beispiel Israel aufbauen. Ein paar Dinge gelingen. Wir konnten etwas aufbauen und wir sind am Leben. Ich denke, das sind gute Gründe für Optimismus und wir sollten optimistisch sein. Ungarn ist heute weit davon entfernt, ein Paradies zu sein, aber wir akzeptieren einander und wir arbeiten zusammen. 

 

JÖDICKE: Offensichtlich handelt es sich um eine Zeit des Übergangs. Die alte Ordnung ist weg und die neue ist noch nicht angekommen. Dinge, die gestern rechtmässig waren, sind heute ein Verbrechen. Der Film gibt einen interessanten Einblick, wie Menschen auf diese Art von Übergang reagieren. 

Ferenc Török: Natürlich. Wir haben parallele Realitäten aufgebaut. Die grossen Dinge, jene die Geschichte schreiben, wie Hiroshima oder der Holocaust sind in Geschichtsbüchern notiert. Aber der normale Alltag mit all diesen kleinen Details, mit Hochzeiten und Beerdigungen, mit Liebe und Hass, der kommt darin nicht vor. Auch in der Politik gibt es verschiedene Ebenen. Die Welt der grossen Politik unterscheidet sich von jener der lokalen Mafia. In diesem ungarischen Dorf herrscht noch ein Feudalsystem mit einem kleinen König. Der König István nutzt die Polizei und kontrolliert die technischen Einrichtungen, wie etwa den Bahnhof, wo er die Warenlieferung regelt. Aber es gibt grosse Neuigkeiten im Radio: Eine Wahl kommt und die lokalen Könige wissen, dass dies Ärger bedeutet. 

Da ist etwas sehr Interessantes an dieser Übergangssituation des Jahres 1945. Während der kommunistischen Zeit, als ich ein Kind war, erfuhren wir, dass 1945 ein Datum der Freiheit und der Befreiung ist. 4. April bedeutete „Ungarn ist frei“. Allerdings nur bis 1990. Plötzlich verlor das Datum diese Bedeutung. Deshalb haben wir diese Nummer im Titel verwendet. Die Nummer ist problematisch, sie ist längst zu einer Frage geworden. Was bedeutet 1945?

 

JÖDICKE: Die damalige Entwicklung der Medien spielt im Film eine gewisse Rolle. Der Ortsvorsteher schaltet das Radio im Restaurant aus, weil er nicht will, dass die Leute von den Entwicklungen der „grossen Welt“ hören.

Ferenc Török: Natürlich, das will er nicht! Er möchte seine eigene Regel aufrechterhalten. Es ist ein Staat im Staat. Die Russen und ihre Wahl sind eindeutig nicht gut für ihn, aber er wird überleben. István ist ein Beispiel für den ungarischen Überlebenskünstler. Er ist wie ein Chamäleon oder wie eine Schlange, die ihre Haut ablegt. Jeder, der aus einer ländlichen Gegend in Ungarn stammt, wird diese Figur verstehen. In den USA mag es anders sein, aber Menschen aus Mittel- und Osteuropa kennen diesen Schlag Mensch und werden ihn im Film wiedererkennen.

 

JÖDICKE: Da ist dieses alte Problem: Wenn die Opfer ihre Geschichte erzählen, werden sie wieder ein wenig zu Opfern. Auf der anderen Seite, wenn die Geschichte der Übeltäter erzählt wird, dann werden diese übergross. Wir sehen sie in der Perspektive eines Shakespeare’schen Königsdramas und das Publikum beginnt, mit ihnen zu sympathisieren. Es scheint, dass in ihrem und Gábor T. Szántós Drehbuch versucht wird, sowohl Täter- als auch Opferperspektiven zu bieten?

Ferenc Török: Szántós Kurzgeschichte war aus dem Standpunkt der Überlebenden erzählt. Der Film wurde um diesen herum aufgebaut. Wir haben Árpád, den Sohn von István, und seine Hochzeit hinzugefügt. Wir wollten all das zusammen und gleichzeitig betrachten. Dies gab uns die Chance, ein Modell der Gesellschaft aufzubauen. Durch die Parallelmontage des Films konnten wir alle Personen zugleich zeigen. Es gibt diese Perspektive G-ttes, der das alles weiss. Und die beiden orthodoxen Juden glauben an ihn. Der Film hat dadurch eine spirituelle Dimension. Es geht nicht nur um Eigentum und Diebstahl, sondern auch um die Idee: All dies ist später zu sehen. All diese Ereignisse in einem kleinen Dorf können betrachtet werden – die Handlungen und ihre Folgen. Da entsteht eine andere Ebene, nicht unbedingt geheimnisvoll, aber ein bisschen wie die Präsenz von Geistern und Silhouetten, die die Szene beeinflussen, so wie in einem Bergman-Film. Denken Sie an Das Siebente Siegel, wo die Toten noch Teil der Szenerie sind.

 

JÖDICKE: Und die grosse religiöse Frage lautet: Wer kann bereuen?

Ferenc Török: Zumindest manche Charaktere im Film sind dazu in der Lage.

 

JÖDICKE: Eine letzte Frage zur Politik. Was ist los mit Europa?

Ferenc Török (lacht): Diese Frage ist zu gross! Bitte genauer.

 

JÖDICKE: Die Ungarn gelten heutzutage als die Bösen in Europa. Gerade in Österreich ist Ungarn immer das schlechte Beispiel, während Österreich sich selbst als unendlich weit von der Diktatur entfernt sieht. Wie denken die Ungarn darüber? Gibt es in Ungarn Diskussionen darüber, dass Österreich mehr und mehr ein Polizeistaat mit autoritärer Herrschaft wird? 

Ferenc Török: Abgesehen von der Aufmerksamkeit für Wahlkampagnen in ganz Europa sind die Menschen nicht wirklich an diesen Themen interessiert. Die Schwierigkeiten des täglichen Lebens sind viel wichtiger. Vielleicht reagieren wir manchmal auf zufällige Parallelen in Nachbarländern, aber mehr nicht. Ich denke, die Menschen in Österreich haben Schwierigkeiten Ungarn zu verstehen, weil sie selbst reich sind – im Vergleich zu Ungarn. In einem armen oder relativ armen Land ist alles viel schwieriger. Aber was soll mit Europa sein? Welche Parallelen gibt es überhaupt?

 

JÖDICKE: Alle haben jetzt Angst vor Ausländern und wollen Zäune bauen.

Ferenc Török: Ach, ich weiss nicht. Ich empfinde das nicht so. In meiner Strasse in Budapest haben wir ein vietnamesisches Geschäft, ein chinesisches Restaurant, daneben ein türkisches. In der Stadt leben wir zusammen und es funktioniert total. Budapest und Wien – das sind kosmopolitische Städte. Wegen der Touristen sprechen viele Menschen den ganzen Tag Englisch in Budapest. Diese Manipulation und die Propaganda gegen Migration sind in bestimmten Think Tanks zu modischen Themen geworden. Es ist eine Strategie, um Wahlen zu gewinnen. Ich mag das wirklich nicht. All diese Identifikation und Identitätspolitik ist falsch. Identität ist für uns persönlich wichtig. In der Kunst hat es eine Bedeutung. Es ist für mich als Künstler bedeutsam, aber das ist ein sehr privates und intimes Gefühl. Politiker versuchen es zu benutzen. Selbst wenn sie Identität als etwas Positives darstellen, dann ist dies falsch. Sie sollten das nicht benutzen, es ist etwas Persönliches.

 

JÖDICKE: Vielen Dank für dieses Interview.

 

1 Der Film »1945« wurde im Rahmen des Jüdischen Filmfestivals Wien 2017 gezeigt: (https://jfilmfestivalwien.wixsite.com/archiv-2017/eroeffnung)