Immer noch wird oft über den Holocaust gesprochen, als ob er auf einem anderen Planeten stattgefunden hätte. Aber es war im Herzen Europas, wo die Mehrheit der europäischen Juden ermordet wurde, in Polen. Der Antisemitismus war in Polen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg endemisch, war auch ohne deutsches Zutun gewalttätig und verschwand auch nicht mit der Deutschen Wehrmacht aus dem Land. Auch das Verschwinden der Juden in den Krematorien der Todesfabriken änderte wenig am polnischen Antisemitismus. Die polnische Bevölkerung war sehr oft Zeuge des Mordens geworden und hatte daraus ihre materiellen Vorteile gezogen. Erfundene Geschichten, deren man sich im Deutschen Reich zur Gewissensberuhigung bediente, wie etwa über „Deportationen in sogenannte Arbeitslager im Osten“, konnte man in Polen nicht erzählen. Die vollkommene Entgrenzung der moralisch zulässigen Normen in Polen führte zu weiteren Pogromen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie dem wohl bekanntesten in Kielce 1946 und den sogenannten Eisenbahnmorden.
Die oftmals als apologetische Ansicht verkündete hohe Mitgliederzahl von Juden in der Kommunistischen Partei als Anlass für die Gewalt ist ein Mythos, dem entschieden widersprochen werden muss. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg sehr wenige Juden im Polen, und von diesen waren noch wesentlich weniger Juden Mitglieder der Kommunistischen Partei. Viel eher muss man sagen, dass die Mehrheit der polnischen Bevölkerung den wenigen Holocaustüberlebenden weder Mitgefühl noch irgendwelche Solidarität entgegenbrachte. Der Raub an den Juden wurde oft als umverteilende Gerechtigkeit dargestellt, als gerechte „Warenrestitution“ gegenüber der vorhergegangenen, ungerechten Aneignung durch die Juden. Und in Polen wurde auch wenig bis gar nichts dazu getan, um dieses Kapitel der polnischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten.
Die Kommunistische Partei war historisch gesehen die einzige Partei in Polen, die Juden auf Gleichheitsbasis akzeptierte, weswegen sich ihr in der Zwischenkriegszeit auch viele nichtreligiöse Juden anschlossen. Nichtsdestotrotz kam es unter der Ägide der Polnischen Vereinigten Arbeiter Partei (PVAP), der Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei, im März 1968 zur grössten antisemitischen Kampagne in Europa seit dem Zusammenbruch Nazideutschlands. Diese Kampagne – etwas verharmlosend auch als „März-Unruhen“ bezeichnet – wurde nicht nur im nazistischen Geist geführt, sondern sie bediente sich beinahe wortidenter Plagiate aus der antisemitischen NS-Literatur.
Wie kam es dazu? Im Jahr 1968 war die PVAP seit 24 Jahren an der Macht, und es gärte in ihr. Verschiedene Gruppen oder Flügel der Partei waren unzufrieden. Einerseits gab es den Drang nach ähnlichen Liberalisierungsbemühungen wie in der ČSSR, andererseits häuften sich die Zeichen einer Wirtschaftskrise in Polen, die man irgendwie neutralisieren musste. Die konkrete Angst des Parteiführers Władysław Gomułka, ähnlich seinem Prager Kollegen Novotny entmachtet zu werden, spielte ebenfalls eine Rolle. Und, als „Geschenk der Geschichte“ diente der von Israel innerhalb von sechs Tagen gewonnene Krieg gegen die von der Sowjetunion unterstützten Araber im Jahr davor als Vorwand und Alibi für die Entfesselung einer antisemitischen Kampagne.
Diese Kampagne war hausgemacht. Es gab zwar Präzedenzfälle im stalinistischen Machtbereich, so etwa die „Antikosmopolitismus-Kampagne“ in der Sowjetunion ab Ende der 1940er Jahre, die „Ärzteverschwörung“, die glücklicherweise durch Stalins Tod ihr Ende fand, oder die Schauprozesse in der ČSSR (Slansky-Prozess) und Ungarn (Rajk-Prozess). Aber das polnische „1968“ geschah ganz ohne den Einfluss Moskaus.
Am 31. Jänner 1968 demonstrierten Warschauer Studenten gegen die Absetzung des Theaterstückes Dziady (Die Ahnen) von Adam Mickiewicz. Auf die antizaristische Ausrichtung des Dramas konnte man leicht antisowjetische Gefühle projizieren. Am 29. Februar gab es eine Protestresolution von Schriftstellern gegen die restriktive Kulturpolitik und damit gegen die Absetzung des Stücks. Am 8. März forderte eine friedliche Studentenversammlung die Wiederzulassung der Studenten Adam Michnik und Henryk Szlajfer, die wegen der Teilnahme an den Protesten vom Besuch der Universität ausgeschlossen worden waren.
Hierbei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, Protesten und Zusammenstössen mit der Polizei in allen Universitätsstädten. Diese wurden von der Bürgermiliz ORMO angeheizt. Am 11. März gab es in Warschau Studentendemonstrationen, Strassenkämpfe und Arbeiterkundgebungen gegen die Studenten, ihre „zionistischen“ Anstifter und die Feinde Volkspolens. Das Parteiorgan Trybuna Ludu und andere Zeitschriften veröffentlichten Namenslisten der mutmasslichen Rädelsführer, die allesamt jüdischer Herkunft waren. Gleichzeitig begann der Warschauer Parteisekretär Józef Kepa mit den Säuberungen des öffentlichen Lebens von Parteifunktionären jüdischer Herkunft.
Ab dem 11. März 1968 kam der Antisemitismus wieder an die gesellschaftliche Oberfläche, nachdem er etwa 20 Jahre knapp darunter inkubiert hatte. Unter der Führung des Innenministers Mieczysław Moczar, der es eindeutig auf den Posten von Gomułka abgesehen hatte, begann nun eine „antizionistische“ Treibjagd. Diese Kampagne war gegen Prominente wie Ärzte und Ingenieure bis hin zu kleinbürgerlichen Ladenbesitzern gerichtet, gegen Menschen, die nur eines gemeinsam hatten: ihre jüdische Herkunft. Das fiel unter anderem deshalb relativ leicht, da der Antisemit Tadeusz Walichnowski bereits 1966 die „Abteilung für jüdische Angelegenheiten“ im Innenministerium übernommen hatte und dort eine Kartei der Juden im Nachkriegspolen führte. Diese Kartei wurde nach nationalsozialistischem Vorbild eingerichtet, sie erfasste Eltern, Grosseltern und nach Möglichkeit sogar die Urgrosseltern. Erstmals nach 1945 wurden von offiziellen Stellen eines Staates „rassische“ Kriterien verwendet um zu definieren, wer Jude war! In der Praxis wurden auch Kinder aus sogenannten „Mischehen“ und sogenannte „Vierteljuden“ als verdächtige Zionisten behandelt. Gomułka rettete die Situation für sich, indem er der Kampagne vorbehaltlos zustimmte. Das fiel ihm umso leichter, als er bereits 20 Jahre zuvor in einem Brief an Stalin geschrieben hatte, dass er die „Entjudung von Parteistruktur und Staatsapparat“ begrüssen würde.
Im Polen des Jahres 1968 wurde zwar kein einziger Jude durch die Staatsgewalt ermordet, es sind aber 40 Selbstmorde jüdischer und nichtjüdischer Polen bekannt gewordenen, deren Leben und Zukunftsaussichten von einem Tag auf den anderen vernichtet worden waren. Darüber hinaus wurden tausende Polen jüdischer Herkunft ihrer Existenzgrundlage beraubt, erniedrigt, unter Generalverdacht gestellt und unter entwürdigenden Bedingungen zur Emigration gezwungen. Die zuvor nicht aufgearbeiteten, in weiten Teilen der offiziellen Gesellschaft tabuisierten antisemitischen Ressentiments wurden 1968 mit Hilfe von Massenmedien gezielt forciert und instrumentalisiert. Die Auswirkungen dieser Kampagne hat Polen bis heute nicht wirklich überwunden.
Der Autor:
Thomas Varkonyi absolvierte das Studium der Geschichte an der Universität Wien (BA 2013; MA 2016 mit Auszeichnung). Er ist Doktorand und Lektor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien sowie freier Journalist. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Ungarns im 19. und 20. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung des Judentums und des Antisemitismus.