Am 21. Januar 2025 war der 50. Todestag der galizisch-Berliner Jüdin Mascha Kaléko, dieser weit über die Grenzen Deutschlands bekannt gewordenen Lyrikerin.
Mascha Kalékos äusserst bewegte Biographie ist im Internet detailliert nachzulesen.1 Sie selbst teilte in der ihr eigenen, emotionalen Sprache ihr Dasein in folgende „sechs Leben“ ein:2 „das 1. Leben als Mascha allein“/„das 2. Leben als Mascha und ihr erster Mann S. Kaléko“/„das 3. Leben als Mascha und ihr zweiter Mann Chemjo Vinaver“/„das 4. Leben als Mascha, Chemjo Vinaver und Steven, der Sohn“/„das 5. Leben als Mascha und Chemjo ohne Steven“ und schliesslich „das 6. Leben als Mascha allein“. Von heute aus betrachtet, könnte Mascha Kalékos Lebens als eine Art Symphonie in vier Sätzen umrissen werden:

M. Kaléko in ihren Jugendjahren, in Berlin.
1. Satz: Kindheit und Berlin (1907–1920–1938) – vivace, un poco capriccioso
Nach einer eher ärmlichen Kindheit zwischen Galizien und Deutschland zog die Familie 1918 in das slum-ähnliche Berliner Scheunenviertel, wo sich Mascha bald zu einer aktiven jungen Frau entwickelte. Ihre ersten Gedichte erschienen in der renommierten Vossischen Zeitung, gefolgt vom Berliner Tageblatt, und in den späten Zwanziger Jahren war sie eine Stadtberühmtheit in der dortigen Intelligenzija. 1928 hatte sie den jüdischen Philologen Saul Aron Kaléko geheiratet – diese Ehe wurde jedoch nach zehn Jahren geschieden. Dank der grossen Resonanz in der Presse brachte der Rowohlt-Verlag 1933 und 1935 zwei Bändchen mit ihren Gedichten heraus, die sich binnen kurzer Zeit landesweit zu Bestsellern entwickelten. Kalékos witzige, satirische Verse über die kleinen Leute der grossen Metropole zelebrierten und persiflierten das urbane Leben in der späten Weimarer Republik; ihre literarischen Vorbilder reichten von Heinrich Heine bis zu Kurt Tucholsky. Nachdem ihre Werke von den Nazis verboten wurden, ging Kaléko 1938 mit ihrem zweiten Mann, dem jüdischen Musikologen, Dirigenten und Komponisten Chemjo Vinaver ins Exil in die U.S.A.
2. Satz: Zu zweit und dann zu dritt im Exil (1939 – 1956) – andante
Das Leben in New York mit ihrem öfter arbeitslosen Ehemann und dem neu geborenen Sohn Steven war vielleicht auf der „mikro“-Ebene glücklich, jedoch „makro“ gesehen finanziell und gesellschaftlich eher enttäuschend: Obwohl Mascha mit dem fallweisen Schreiben von Werbetexten und Verfassen deutscher Kindergedichte das spärliche Einkommen der Familie aufbessern konnte, war die daheim so beliebte Persönlichkeit in der amerikanischen Fremde ein „Niemand“ – und so entstanden die folgenden Verse:3
„Es sprach zum Mister Goodwill / ein deutscher Emigrant: / »Gewiss, es bleibt dasselbe, / sag ich nun land statt Land, / sag ich für Heimat homeland / und poem für Gedicht. / Gewiss, ich bin sehr happy: / Doch glücklich bin ich nicht.«”

M. Kaléko mit ihrem zweiten Ehemann Chemjo Vinaver kurz vor dessen Tod.
3. Satz: Das Comeback in Deutschland (1956–1959) – allegro maestoso
Es dauerte volle siebzehn Jahre, bis die resolute, fast Fünfzigjährige Deutschland vergeben, aber auch, dass ihre Heimat sie wieder begrüssen konnte. Ihr Freund Alfred Polgar schaltete sich ein und stellte den Kontakt zu Ernst Rowohlt her und der Verlag veranlasste 1956 eine Neuauflage ihres ersten Gedichtbands Das lyrische Stenogrammheft. Nach zwei Wochen stand das Buch wieder auf der Bestsellerliste, woraufhin Mascha Kaléko den Mut fasste, nach Deutschland zurückzukehren und darüber hinaus Vortrags- und Lesereisen in Europa zu unternehmen, die sehr erfolgreich wurden. Diese Erfahrungen der Rückkehr hielt sie in ihren weiteren Gedichten fest. 1960 wurde sie für den Fontane-Preis für Literatur nominiert, der von der Berliner Akademie der Künste verliehen wurde, lehnte die Ehrung jedoch ab, weil ein ehemaliges Mitglied der SS in der Jury sass.
4. Satz: Zu dritt, dann wieder zu zweit und schliesslich allein im letzten Exil (1960–1975) – largo, etiam grave
Trotz Maschas anhaltenden Erfolgen und ihrer Arbeit auch an Kinderbüchern, aber mehr infolge des sich nur schleppend entwickelnden Einkommens und des dadurch bedingten depressiven Verhaltens ihres Ehemannes, zogen die beiden 1960 nach Jerusalem, wo Vinaver bessere Berufsmöglichkeiten hatte. Dort fühlte sie sich jedoch selbst als Jüdin nie wirklich zu Hause – und auch die Ferne zu ihrem inzwischen als begabter Drehbuchautor und Regisseur in den U.S.A. wirkenden Sohn konnte sie in Israel nicht glücklich machen. Sie litt aber auch unter ihrer Unkenntnis der ihr völlig fremden hebräischen Sprache und vor allem dem für das Ehepaar Vinaver völlig unverträglichen Klima. Hinzu kamen der plötzliche, unerwartete Tod ihres gerade erst dreissigjährigen Sohnes im Jahre 1968 und die sich ständig verschlechternde Gesundheit ihres Mannes, der fünf Jahre danach ebenfalls verstarb: Ein Unglückfall nach dem anderen, der ihr nun diese Zeilen entlocken musste:4
Mein Leben war ein Auf-dem-Seile-Schweben. / Doch war es um zwei Pfähle fest gespannt. / Nun aber ist das starke Seil gerissen: / Und meine Brücke ragt ins Niemandsland. / Und dennoch tanz ich und will gar nichts wissen, / Teils aus Gewohnheit, teils aus stolzem Zorn. / Die Menge starrt gebannt und hingerissen. / Doch gnade G’tt mir, blicke ich nach vorn.
Nach Chemjos Tod im Jahr 1973 vertiefte sich Mascha Kalékos Entmutigung und Isolation noch weiter. Auf einer weiteren Reise durch Europa unterwegs in Zürich, musste sie operiert werden und starb am 21. Januar 1975 an Magenkrebs. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof der Stadt beigesetzt. Nach ihrem Tod wurden ihre Werke neu aufgelegt; so erschien beispielsweise Das Lyrische Stenogrammheft erneut, in einer Auflage von 100.000 Exemplaren!
Mascha Kaléko war die einzige Lyrikerin der sich in den Zwanziger Jahren
in Deutschland entwickelnden Neuen Sachlichkeit, und ihre klaren, präzisen Verse können – im Vergleich zur Lyrik von Erich Kästner, Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht – als feminin, sanfter und gefühlsmässiger bezeichnet werden. Mit Melancholie, aber auch mit einem sachten Humor ging sie auf Alltagserfahrungen vor allem der kleinen Leute im Weimarer Berlin ein. Ihre Sprache ist leicht verständlich, aber durchaus realistisch. Sie wählt Zeilen voll von Liebe, Schmerz, Wehmut – aber auch Hoffnung. Obwohl Mascha Kaléko mit ihren eher sachlichen Versen eine Art von „Gebrauchslyrik“ verfasste, dürfte sie dennoch mit den anderen beiden grossen, jüdisch-deutschen Dichterinnen Else Lasker-Schüler (1869–1945) und Nelly Sachs (1891–1970) auf gleicher Ebene zu würdigen sein.
Alle Abbildungen: Deutsches Literaturarchiv Marbach, mit freundlicher Genehmigung.
Anmerkungen
1 Aber auch vor allem bei Jutta Rosenkranz: Mascha Kaléko; dtv Taschenbuch, 2012, 304 Seiten.
2 Abdruck aus Mascha Kaléko: In meinen Träumen läutet es Sturm © 1977 dtv Verlagsgesellschaft München.
3 „Der kleine Unterschied“; aus: In meinen Träumen läutet es Sturm, dtv Taschenbuch, 34. Auflage, 2015, S. 47.
4 “Seiltänzerin ohne Netz“; ebenda, S. 109.
Die letzten drei Zitate erfolgen mit freundlicher Genehmigung des dtv Verlags.