Ausgabe

Mizrahim Die (noch) Arabisch sprechenden Juden der Türkei

Robert Schild

Bevor wir in unserer nächsten Ausgabe mit einer längeren Analyse der Sefardim die Artikelserie über die Juden der Türkei abschliessen, müsste in diesem Heft noch eine weitere, sich ebenfalls langsam auflösende, türkisch-jüdische Gruppierung kurz vorgestellt werden. Es sind die sogenannten Mizrahim – die zwar nicht in der Türkei, aber in Israel mit rund 4 Millionen die Mehrheit der ortsansässigen (grösstenteils bereits dort gebürtigen) Juden stellen.

Inhalt

Genauso wie „mizrah“ die hebräische Bezeichnung für Ost ist, werden die Juden des Orients in dieser Sprache mit Mizrahi („östlich“ oder „orientalisch“) bezeichnet. Mizrahim (also „Ostjuden“) bezieht sich im Allgemeinen auf Juden aus der arabischen und muslimischen Welt, darunter Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Ägypten, dem Jemen, dem Libanon, Syrien, dem Irak, dem Iran und schliesslich aus der Türkei.

 

Während des Osmanischen Reiches wanderten Juden aus mehreren arabischen Gebieten und Städten wie unter anderem Bagdad, Aleppo und Damaskus, aber auch aus Persien und Georgien in Städte wie Istanbul, Izmir, Adana, Antakya, Diyarbakir und Gaziantep ein. Daneben war auch eine geringe jüdische Bevölkerung in den vornehmlich Kurdisch sprechenden östlichen Gebieten dieses Kaiserreiches zuhause. Während Letztere eine Mischung aus Hebräisch und Kurdisch pflegten, unterhielten sich die Juden aus dem arabischen und persischen Raum in diesen Sprachen, die sogenannten Gurdschis wiederum sprachen in einem georgischen Dialekt. Ein Teil von ihnen, vornehmlich die kurdischen und georgischen Juden, lebten in ländlichen Gebieten und waren weniger wohlhabend als die Sefarden, die sich 1492 vor allem in Hafenstädten, aber auch in Kleinstädten der westlichen Ägäis niedergelassen hatten.

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Die Synagoge in Gaziantep, erbaut im 19. Jahrhundert, staatlich restauriert 2012; mangels einer aktuellen Gemeinde derzeit nur als Museum in Betrieb.

 

In einem DAVID-Artikel1 über die Mizrahim aus Antakya, einer südöstlichen Kleinstadt der Türkei, wo der Gemeindepräsident Saul Cenudioğlu und seine Frau vor etwa drei Jahren einem starken Erdbeben zum Opfer fielen, berichteten wir über sein Interview mit dem US-jüdischen Magazin Forward, wonach „man in 15–20 Jahren in Antakya fragen würde, ob man wüsste, dass hier seinerzeit auch Juden wohnten?” Cenudioğlu (geboren 1941), erinnerte sich an seine Kinderjahre, als noch regelmässige Beziehungen zur Grossgemeinde in Damaskus bestanden. Es gab Zeiten, wo die jüdische Bevölkerung Antakyas etwa fünfhundert Personen betrug und es zu den religiösen Feiertagen schwer war, in der 130 Jahre alten Synagoge einen Platz zu ergattern. Die Juden waren grösstenteils Textilhändler mit kleineren Geschäften im örtlichen Basar und vertrugen sich ausgezeichnet mit der türkischen Bevölkerung. Vor dem Erdbeben zählte die dortige jüdische Bevölkerung zwölf (!) Personen. Vor allem ihr jüngerer Anteil war seit den Siebziger Jahren teilweise nach Istanbul gezogen, aber auch ins Ausland, vor allem nach Israel.

 

Arabisch trifft auf Judeo-Spanisch

Die Mizrahim unterschieden sich nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in Tradition und Kultur weitgehend von ihren sefardischen und aschkenasischen Glaubensbrüdern. Neben den bei ihnen üblichen jüdischen Vornamen wie Isaak, Moses, Salomon, David und so weiter waren ihre Nachnamen überwiegend arabisch beziehungsweise persisch geprägt, wie etwa Habib, Cemel oder schlichtweg Mizrahi, oft mit dem Zusatz -zadeh, und die Familiennamen der aus Georgien stammenden Juden endeten öfters auf -vili.

 

Obwohl die Mizrahim der Türkei keine grossen, getrennten Gemeinden bildeten, hatten sie in einigen Städten ihre Synagogen, so etwa in Antakya und Gaziantep. Andereseits integrierten sich einige voll in das traditionelle Judentum der Städte wie Istanbul und Adana, vornehmlich durch Mischehen. Es war für sie nicht schwer, sich an die dominante sefardische Gemeinschaft zu assimilieren und die judeo-spanische Sprache sowie ihre Bräuche zu übernehmen. Einige behielten jedoch arabische oder persische Dialekte und ihre einzigartigen Traditionen bei. Besonders hervorzuheben ist, dass sich mizrahische und sefardische Folklore in Kleinasien sowie auch in Istanbul teilweise überschneiden – wobei beide Gruppen nicht nur ähnlichen religiösen Riten folgen, sondern in den Synagogen eine fast gleiche, das heisst orientalische Liturgie ausüben.

 

Ein kleiner Exkurs zu Letzterem: In mehreren Ländern ist eine fälschliche Gleichsetzung beider Religionsgruppierungen zu bemerken, wodurch das weltweite Judentum lapidar in Aschkenasim und Sefardim unterteilt wird. Als besonders auffälliges (österreichisches) Kuriosum in Wien ist die Bezeichnung „Sefardisches Bethaus“ für die von der Bucharischen Gemeinde frequentierte Synagoge anzuführen. In Israel jedoch, mit einem minimalen Bevölkerungsanteil sefardischer Juden, wurde kurz nach der Staatsgründung 1948 eine Segmentierung zwischen Aschkenazim und Mizrahim popularisiert.

 

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Die Synagoge in Antakya, erbaut 1890 und durch das Erdbeben von 2023 stark zerstört; wartet noch immer auf Restaurierung.

 

Was in der Türkei irrelevant ist

Ein zweiter Exkurs: Die oft gestellte (Fang-)Frage bezüglich Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben wurden und nicht (wie ihr Grossteil) in das Osmanische Reich oder nach Amsterdam, London und – geringfügiger – nach Hamburg gezogen waren, sondern sich im arabisch sprechenden westlichen Nordafrika niedergelassen hatten, nämlich, ob sie (noch) Sefarden oder (letztlich) Mizrahim sind, ist für die Türkei nicht relevant – diese „Zwitter-Ethnik“ gibt es dort nicht, sehr wohl aber in Frankreich, und natürlich in Israel.

 

Während die Mizrahi-Gemeinden in den vornehmlich kurdisch sprechenden Gebieten der Türkei (die sogenannten Gebirgsjuden) im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend verschwunden sind (grösstenteils vermittels Auswanderungen nach Israel), gibt es im südöstlichen Anatolien sowie in Istanbul immer noch Familien mizrachischer Herkunft – insbesondere solche mit Wurzeln im Irak, in Syrien oder dem Iran. Wie bereits erwähnt, sind sie oft in die breitere jüdische Bevölkerung integriert und nicht eindeutig als arabische, persische oder georgische Juden zu identifizieren – allenfalls durch ihre Nachnamen: So trägt der langjährige, beliebte und dynamische Präsident der Türkisch-Jüdischen Gemeinde stolz den Namen İshak İbrahimzadeh.

 

In seinem 2022 erschienenen Buch The Wrong Kind of Jew: A Mizrahi Manifesto schreibt der israelische Autor und Mizrahi-Aktivist Hen Mazzig: „Nur wenige Menschen – Juden wie Nichtjuden – wissen, wer wir sind. Ein Grund dafür ist, dass viele uns Mizrahim als ‘die falsche Art von Juden‘ betrachten“, und er argumentiert wie folgt: 

„Wir sind nicht nur selbst denen unbekannt, mit denen wir eine lange Abstammung teilen, sondern unsere Kultur zerstört auch Stereotype und unausgesprochene Regeln darüber, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Mein mizrahisches Erbe entspricht nicht dem, was die meisten Menschen als die säkularen, kulturellen Merkmale des Judentums ansehen.“

 

Auch diese Feststellungen sind für die türkischen Mizrahim irrelevant. Diese haben sich vollends in das türkische Judentum integriert, mit ihrer Küche (so unter anderem dem irakischen Kubbeh, dem syrischen Hummus und den persischen Eintöpfen), mit ihren orientalischen Melodien sowie liturgischen Liedern und ihren einzigartigen Hochzeitstraditionen oder Feiertagsritualen.

 

Nur folgende Frage bleibt: Wie lange noch können sie sich bemerkbar machen, im Rahmen der sefardischen Mehrheit, und unter der ohnehin stets immer geringer werdenden jüdischen Bevölkerung der Türkei? 

 

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Gemeinde Istanbul.

 

Anmerkung

1 Robert Schild: Die Juden von Antakya – Das Ende einer Tradition von 2.500 Jahren; In: DAVID, Heft 137, Sommer 2023, link: https://davidkultur.at/artikel/die-juden-von-antakya-das-ende-einer-tradition-von-2-500-jahren