Im Hinblick auf die Errichtung eines Eruvs, der die Aussenquartiere Zürichs rund um die Stadtmitte miteinander verbinden wird, wurde vor dem (privaten) Eingang einer Synagoge ein fünf Meter hoher Mast errichtet.
Der Mast, einmal fertiggestellt, wird mittels eines einfachen Nylondrahtes an das bestehende Netz für die Strassenbeleuchtung in Richtung stadtferner Wohngebiete angeschlossen sein. Sobald er einsatzbereit ist, wird für die Juden, die in den abgelegenen Quartieren leben, das Stadtzentrum mit all seinen vielen Synagogen zugänglich gemacht, da das bis anhin geltende einschränkende Schabbat-Gesetz mit dem Bau eines zusammenhängenden Zauns stark aufgelockert wird.
Eine merkwürdige Liebes-
Geschichte
Zu jener Zeit, als es seit Jahrzehnten in Zürich keinen Eruv weit und breit gab, wohnte Rivke in einer Wohnung in einem modernen Gebäude am Stadtrand von Zürich, unweit des jüdischen Altersheims Sikna-Stiftung, wo ihr Mann Motl, ein frumer yid polnischer Herkunft, als Maschgiach, Kaschrut-Aufseher, angestellt war. Er löste den Chasen ab, den Hauptkantor, als dieser in der Grossen Synagoge in der Löwenstrasse vorbetete. Diese scheinbar unbedeutende Rolle war komplizierter, als es den Anschein hatte, denn sie erforderte die Versöhnung der verschiedenen Riten, an die die Gläubigen gewöhnt waren: Aschkenasim, Sefardim, Misrachim... ganz zu schweigen von den Schweizer Juden, die seit dem 17. Jahrhundert in den Aargauer Gemeinden Lengnau und Endingen lebten.
Rivke war dafür bekannt geworden, gegen ein spezifisches Schabbat-Gesetz verstossen zu haben, nämlich gegen das Eruv-Gesetz, das den Bereich um den Wohnsitz definiert, in dem es erlaubt ist, bestimmte «private» Aktivitäten wie das Spazierengehen oder Tragen von Gegenständen, die für den G’ttesdienst bestimmt sind, auszuüben. Das Talmud-Traktat «Eruvin» begrenzt diese öffentliche Zone auf 2.000 Ellen oder 900 Meter, und diese «Grenze», ob real oder symbolisch, kann nur mit Genehmigung der Stadtbehörden erweitert werden! Trotz dieser Hürde wurde diese Einschränkung, über Jahrhunderte hinweg, von den orthodox geführten Einheitsgemeinden strikte eingehalten. Doch dieses Gesetz wurde der Rivke, die am Schabbat zu Fuss, weit weg über die «Grenze», bis zur Stadtmitte Zürichs gehen wollte, zum Verhängnis.

Roger Reiss: Collage, Eruv in Zürich, mit freundlicher Genehmigung.
Jeden Freitag, bei Einbruch der Dunkelheit, ging Motl, wie es sich gehörte, in der Rolle des Vorbeters zum Gebetssaal des nahegelegenen Altersheims, aber ohne seine rebellische Frau. Und mit grosser Inbrunst sang er, begleitet von den ansässigen Pensionären, um den Schabbat zu begrüssen: «lecha dodi, likrat kala – Auf, mein Freund, der Braut entgegen! Die Königin Schabbat wollen wir empfangen!»
Währenddessen blieb Rivke allein zu Hause. Nach erbitterten Diskussionen mit ihrem Mann und dem Ober-Rabbiner Zürichs hatte sie sich vorgenommen, das Gesetz des Eruvs zu respektieren und ihre Bewegungen erheblich einzuschränken, um das Gesetz nicht wieder zu brechen. Kurioserweise hatte sie sich angewöhnt, abends allein das Fenster weit zu öffnen, um den funkelnden Sternenhimmel zu betrachten. Ein neuer Raum der Reflexion machte sich breit, in dem sie sich völlig vergass und sich, zumindest für einen Moment, aus ihrem «Gefängnis unter freiem Himmel» befreite. Alle konkreten Sorgen dieser Welt verflüchtigten sich, sogar die Grenzen des Eruvs, mit denen sie nicht mehr direkt konfrontiert war, verschwanden merkwürdigerweise. Sie tauchte, wie in einem Wachtraum, in eine Welt magischer Erinnerungen ein. Tatsächlich flüchtete sie sich in die poetische Welt der jüdischen Seele, deren Geheimnisse Marc Chagall so meisterhaft darstellt. Im Kunstmuseum der Stadt Zürich war ein Raum ganz dem Werk dieses Malers gewidmet, und Rivke hatte die traumhaften Darstellungen von jungen Liebespärchen zu schätzen gewusst, die nicht den Gesetzen der Schwerkraft zu gehorchen schienen oder denen... des Eruvs! Sie war tief gerührt von Chagalls ungewohnter Fantasie, der von einer grossen Freiheit des Geistes rührte, die jede Übertretung möglich und ungestraft machte.
Besonders beeindruckt hatte sie eine grosse Komposition, in der die Figuren, Chagall selbst und seine Frau Bella – oder besser gesagt ihre Seelen! – über den Wolken von Witebsk schwebten und die wackeligen Häuser, die im Halbdunkel, in die verworrenen Dächer getaucht wurden, in einem grossartigen Liebesüberschwang – ihre Heimat, das Schtetl – hinter sich liessen.
Rivke hatte es als Symbol für eine Gelegenheit gesehen, von der sie geträumt hatte, von der ihr Mann aber nichts wissen wollte...
Motl, ein treuer Diener G’ttes, rechnete nicht damit, dass seine Frau eines Tages in den Bann von Gemälden geraten würde, die das – zwar jüdische, aber weltliche – Alltagsleben des Schtetls darstellten.
Er war fassungslos, als Rivke ihm eine Chagall-Reproduktion zeigte und gestand, dass sie von der Kraft der Emotionen, die Marc Chagall in seiner Malerei zum Ausdruck brachte, fasziniert war, insbesondere von dem Gefühl des Schwebens, einer Kraft des Ausdrucks, wie sie ihre Liebe ausserhalb von Zeit und irdischen Zwängen authentisch zeigen...und dass Poesie und Fantasie so die menschliche Seele erheben können.