Die persönliche Auseinandersetzung
von Luna-Laura Papo Bohoreta mit ihrer Umwelt berechtigt tatsächlich, sie als „erste Feministin auf dem Balkan“ zu bezeichnen (Ana Rajković). Kein anderes literarisches Werk von bosnischen Frauen – Kroatinnen, Serbinnen, Musliminnen –, auch nicht von Jüdinnen aschkenasischer Tradition, hat sich dieser Thematik angenommen, nicht einmal zu einer Zeit, da die Situation nach dem Ersten Weltkrieg eine solche Auseinandersetzung erzwang.
Eine weitere prägende Auseinandersetzung wagte Luna-Laura mit dem in der Zwischenkriegszeit in Sarajewo propagandistisch besonders aktiven Zionismus. Sie begeisterte sich anfangs vorbehaltlos, wie ihre Novelle Morena verrät (unveröffentlicht, erst im Nachlass der Autorin nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt). Diese Novelle enthält Ermutigungen, über eine Niederlassung in Palästina nachzudenken: Die Heldin, Morena, entscheidet sich zur Einwanderung nach Palästina. Gleichzeitig übersetzte Luna-Laura einen Artikel der Deutschen Dr. Nadia Stein (einer gender-orientierten Zionistin und Mitarbeiterin von Franz Rosenzweig) und veröffentlichte ihn in der zionistischen Zeitung Narodna zidovska svijest („Jüdisches Nationalbewusstsein“) unter dem Titel La haluca – Pionirka. Auf Kroatisch erschien dieser 1927 im Bulletin der Zionistischen Frauenvereinigung (Udruženje Cionističkih Žena). Es ist nicht festzustellen, weshalb Luna-Laura auch in dieser Hinsicht einen – offensichtlich abrupten – Wandel erfuhr. So wie sie zwischen Feminismus und Tradition, zwischen Tradition und moderner Lebensform schwankte, oszillierte ihre Neigung zwischen ihrer Herkunft aus der osmanisch-jüdisch geprägten spanischen Kultur und dem Willen zu zionistischem Aufbau in Palästina und dem Leben in Europa. Nur wenige Sefarden aus Sarajewo wollten ihre zionistischen Ideale umsetzen – einer von ihnen war Baruh Kalmi, der 1923 in Wien in Philosophie promoviert und noch Theodor Herzl kennengelernt hatte. Luna-Laura studierte Baruh Kalmis Zionismus – um sich von ihm abzuwenden. Im Drama Escariño (Zudnja/ “Sehnsucht“) beschrieb sie das Drama des Zwiespaltes zwischen einem Zionisten und seiner Familie, zwischen seiner Sehnsucht nach der Heimat Eretz Israel und dem Schmerz seiner Mutter, die sich von ihrem Sohn verabschieden muss, damit er seiner Sehnsucht folgen kann.
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Quedadvos aqui! El sol de tiera aqui. El sol de tiera ažiena No kajenta komo este nuestro |
Bleibt hier! Die Sonne am fremden Himmel wird Euch nicht wärmen, wie Euch unsere wärmt |
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La komida es amarga i de lagrimas es yena/Grande y keen i konosen konde no ajtu gente, i ermana ke konti reste |
Bitter ist dort das Brot, wo nichts Dir gehört, Und wo Du niemanden hast, auch keinen Bruder |
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II. Ken va toar mežor de sus propias madres |
II. Wo findest Du eine bessere Mutter als Deine |
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I vuestra madre es esta tiera amada |
Eine Mutter aus Deinem Land, Deiner Heimat |
Das Drama entstand 1936/37. Als es von Forschern nach dem Holocaust auf dem Dachboden des ehemaligen Wohnhauses von Lauras Eltern entdeckt wurde, mutmassten die Forscher, die den Nachlass sichteten, warum es von der Familie nicht dem Archiv von Bosnien und Herzegowina übergeben wurde, wie die anderen Dramen. Sie glaubten, dass Laura angesichts der Tragödie der Juden – auch jener ihrer beiden Söhne, die 1942 im KZ Jasenovac ermordet wurden, während sie in Trauer im Krankenhaus Sarajewo verstarb – ihr Widerstreben gegen den Zionismus vielleicht aufgegeben hätte. Das auf dem Dachboden gefundene Manuskript bestand lediglich aus passsagenweise schlecht lesbaren, losen Blättern.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Luna-Laura nicht gänzlich vergessen, obwohl ihr Grab auf dem sefardischen Friedhof von Sarajewo nicht mehr auffindbar war. Die Dramatikerin und Übersetzerin Rikica Ovadija, die einer jüngeren Generation von bosnisch-herzegowinischen Sefarden angehörte (geb. 1937) schrieb das erste Buch über sie, Bohoreta i njeni/ (Bohoreta und die Ihren). „Njeni“ („Die Ihren“) – dies waren die Schauspieler der Theater, für die Luna-Laura geschrieben und gespielt hatte, die aber alle dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. Das Drama enthält Zitate aus Lauras Drama Esterka i Avia di ser.
Lauras Dramen wurden, in neuer Übersetzung durch Rikica Ovadija, wiederbelebt. Auch die Theatersektion der jüdischen Arbeiterbewegung Matatja gestaltete ein Theaterstück für eine Amateurschauspielerin. Die Neufassung von Lauras Drama hält sich eng an das Vorbild der Uraufführung, wobei die Amateur-Schauspielgruppe des Kulturvereins Matatja und namentlich dessen Mitglied, die Schauspielerin Boncika Papo, aus ihrer Erinnerung Regievorschläge erteilte. Rikica Ovadijas Sohn Mladen Ovadija (1947–2019) wirkte als Dramaturg; Tonmeister war Mirsad Tukić. 1992, zu Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina, emigrierte Ovadija nach Toronto. Rikica Ovadija (1913–1998) hatte die Musikakademie in Sarajewo besucht und wirkte seit 1945 bei Radio Sarajewo, in der Musiksektion und im Kinderprogramm. Ihr Sohn Mladen Ovadija und der moslemische Dramaturg Mirsad Tukić gestalteten 1986 für das dramatische Programm von Radio Sarajewo eine Dokumentation Tragom dokumenata – zene prosvjetitelji u Bosni i Herzegowini (“Dokumenten auf der Spur – Aufklärerinnen in Bosnien und Herzegowina).
Noch während des Unabhängigkeitskrieges in Bosnien befasste sich der Literaturwissenschaftler von Sarajevo, Muhamed Nezirović, mit den Textfragmenten von Laura Bohoreta und erreichte, dass das Archiv der Stadt Sarajewo ihren Nachlass erwarb. Nezirović selbst übersetzte den Text über die Sefardische Frau, der bereits 1931 fertig war. Im Jahre 2005 erschien die Ausgabe, in Ladino und in Bosnisch (der neuen Variante des früheren Serbokroatisch). Muhamed Nezirović setzte damit seine 1992 begonnene Studie Jevrejsko-španjolska književnost (Jüdisch-Spanische Literatur, Sarajewo, Svjetlost, 1992) fort und schuf damit das erste systematische Kompendium jüdischer Literatur aus Bosnien und Herzegowina. Ešref Čampar und Eliezer Papo (Schriftsteller und reisender Rabbiner in Sarajevo) erstellten 2011 eine Bibliographie.
Die Nichte von Luna-Laura Bohoreta, Gordana Kuić (geb. 1942 in Belgrad), Blankas Tochter, verfasste als Anglistin und Literaturwissenschaftlerin in London einen Roman über das Leben der Sefardin mit Passagen aus Lauras „Studie“. Gordanas Roman Miris kiše na Balkanu (Es riecht nach Regen auf dem Balkan, engl. The Scent of Rain In The Balkans, London 1986), der in neun Sprachen übersetzt wurde, schildert die Emanzipation der Sefardinnen vom Ende des Ersten Weltkrieges an bis zum Holocaust: Legenda o Luni Levi („The Legend of Luna Levi“) i Balada o Bohoreti („The Ballad of Bohoreta“). Auch Gordana schrieb Miris kiše na Balkanu streckenweise in Ladino, Judeo-Spanisch, als Erinnerung an ihre Kindheit in Sarajewo. Der Roman wurde von der BBC verfilmt.
Heute wird Luna-Laura Papo Bohoreta wieder entdeckt – als Frauenrechtlerin und als Porträtistin der sefardischen Kultur von Bosnien und Herzegowina. Das Historische Archiv von Sarajewo gab im Jahre 2015 eine Sammlung ihrer Manuskripte heraus. Auch die Zagreber Romanistin stellte Laura Bohoretas Werk vor – in neuen Zusammenhängen, die von den zitierten bosnischen Forschern nicht genannt worden waren: Feminismus, Emanzipation sowie Judentum zwischen Zionismus und Tradition.

Jüdischer Unterstützungsverein für die Einkleidung mittelloser Kinder Mizgrav Ladah, Sarajevo. Einladung zum Abend sefardischer Folklore in Bosnien, Einakter in Ladino, von Laura Papo (Bohoreta) Avia de ser (»Es war einmal“); Handelnde Personen und ihre Darsteller; Zeit der Handlung: vor 50 Jahren.
Teil I dieser Serie ist in DAVID, Heft 145, Sommer 2025 erschienen, Teil II in DAVID, Heft 146, Rosch Haschana 5786/September 2025.
Nachlese
ČAMPARA Ešref, „Prilog bibliografiji književnog rada Laure Papo/Bohoreta/“ („Beitrag zur Bibliographie des literarischen Werkes von Laura Papo Bohoreta“). Sarajevo, Arhiv grada Sarajeva (Archiv der Stadt Sarajewo), Arhivsk inventar (Arhivinventa).
DŽAJA, Srećko,. „Bosna i Hercegovina u austrougarskom razdoblju (1878 1918). Inteligencija između tradicije i ideologije“ („Bosnien und Herzegowina während der österreichisch-ungarischen Herrschaft (1878–1918)“). Mostar-Zagreb, Ziral, 2002.
GAUSS Karl-Markus; „Die sterbenden Europäer“. Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2001.
KALMI Baruch, „Der Lautstand des Judenspanischen in Bosnien“. Dissertation, Univ. Wien 1923.
KAMHI David, „Sarajevski sefardi“ („Die Sepharden von Sarajewo“), auf: https://hrcak.srce.hr/file/425877 (9.2.2025).
KUIĆ Gordana, „Miris Kiše na Balkanu“ („Regen in der Luft auf dem Balkan“), (Šahinpašić), Zagreb-Sarajevo 2009.
Dies. „Balada o Bohoreti“ („Ballade von Bohoreta“), Sarajewo-Zagreb, Šahinpašić, 2008.
NEZIROVIĆ Muhamed, „Sefardska žena u Bosni“ („Die Sephardin in Bosnien“), Original „La mujer sefard de Bosnia“. Connectum Sarajewo 2005.
NEZIROVIĆ Muhamed, Jevrejsko španjoljska književnost u Bosni i Hercegovini, Sarajevo, Svjetlost 1992.
Ders ». El cancionero de los romances judeo-españoles de Sarajevo de Laura Papo Bohoreta». Ljubljana, Linguistica. XXVI, 1986.
OVADIJA Rikica, „Laura Papo Bohoreta, Sarajewo. Spomenica 400 godina od dolaska Jevreja u Bosnu I Hercegovinu.” Odbor za proslavu 400-godišnjice od dolaska Jevreja u BiH ». («Laura Papo Bohoreta. Chronik des 400.Jahrestages der Niederlassung von Juden in Bosnien und Herzegowina“), Hg. Von der Jüdischen Gemeinde Sarajewo“, 1966, S. 305–307.
PAPO Eliezer, «Bibliografia comentada de la obra literaria de Laura Papo « Bohoreta » y estado de la investigación ». Universidad Ben-Gurion del Negev, Beer – Sheva-2011.
Ders. „Entre la modernidad y la tradición, el feminismo y la patriarquia: Vida y obra de Laura Papo Bohoreta, primera dramaturga en lengua judeo-española. Jerusalem, Neu Romania 40.
PINTO Avram; „Jevreji Sarajeva i Bosne i Hercegovine“ („Die Juden von Sarajewvo und von Bosnien und Herzegowina“), Sarajevo, Veselin Maslesa, 1978.
RAJKOVIĆ Anać, „Strašne žene: Laura Papo Bohoreta, prva feministica Balkana“ („Leidenschaftliche Frauen. Laura Papo Bohoreta, die erste Feministin auf dem Balkan. https://voxfeminae.net/strasne-zene/laura-papo-bohoreta-prva-balkanska-feministkinja/https://voxfeminae.net/strasne-zene/laura-papo-bohoreta-prva-balkanska-feministkinja/ (9.2.2025).
SUŠNJARA Snježana,“ Školovanje ženske djece u Bosni i Hercegovini u doba Austro-Ugarske (1878 – 1918.“)/(„Die schulische Ausbildung der Mädchen in Bosnien und Herzegowina unter Österreich-Ungarn (1878–1918“)Sarajevo, Napredak : Časopis za interdisciplinarna istraživanja u odgoju i obrazovanju, Vol. 154 No. 4, 2014.
VEČERINA TOMAIĆ Jagoda, „Bohoreta Najstarija kći“ („Bohoreta“, die aelteste Tochter“). Židovska vjerska zajednica Bet Israel -Skener Studio d.o.o. , Zagreb 2016.
Nachstehendes Foto stammt aus dem „Literaturbestand“ des Jüdischen Historischen Museums Belgrad (Jevrejski Istorijski muzej, Beograd, JIM), dem auch für die Erteilung des Copyrights gedankt wird.