In Wien kommt es besonders darauf an, der Erste zu sein, weshalb diese Eigenschaft bei jeder Gelegenheit hervorgehoben wird.
Eine in der Biedermeierzeit gegründete Bank mit Stammhaus am Graben tritt nur unter der Bezeichnung „Erste“ auf und Kenner der städtischen Fussballgeschichte wissen um die bis in die Zwischenkriegszeit geradezu verbissen zelebrierte Auseinandersetzung zwischen dem älteren Vienna Cricket and Football Club und dem seit 1894 bestehenden Vienna Football Club um das prestigeträchtige „First“ im Vereinsnamen, das die Kicker auf der Hohen Warte mit dem Rechtstitel der Vereinsbehörde für sich beanspruchen. Der Wiener „Kadimah“ machte ihren Titel als erste jüdisch Studentenorganisation ohnedies niemand streitig, wobei auch hier die Bürokratie für Verwirrung sorgte: Behördlich registriert wurde der seit dem Vorjahr bestehende akademische Verein erst 1883. Hervorgegangen war die Gründung aus einer Kaffeehausrunde jüdischer Hochschüler, die regelmässig im Extrazimmer des Kaffeehauses von Ignaz Gross in der Oberen Donaustrasse 77, die paradoxerweise am Donaukanal liegt, zu nächtelangen Debatten zusammenkam. Zu den heiss diskutierten Themen zählten vornehmlich Fragen der kollektiven Identität des Judentums in Abgrenzung zu den Assimilationstendenzen der Vätergeneration. Damit verbunden war die Suche nach Antwortoptionen auf eine moderne Krise jüdischer Existenz, kontextualisiert durch die bedrohliche Situation der Juden in Osteuropa und die ersten Ansiedlungen in Palästina.

Ruben Bierer (1835–1931), Altersvorsitzender einer Runde junger, selbstbewusster Juden und „Ehrenbursch“ der „Kadimah“.
Hitzige Hinterzimmerdiskussionen
Das Integrationsversprechen der deutschen Kultur erwies sich nach allgemeiner Überzeugung der studentischen Diskutanten als kaum mehr haltbar. Antisemitische Signale in immer stärkerer Vehemenz waren aus dem deutschnationalen Spektrum zu verzeichnen. Die Wiener Burschenschaft „Libertas“ (der mit Walter Rosenkranz der heutige 1. Nationalratspräsident angehört), hatte bereits 1878 verlautbart, „dass Juden nicht als Deutsche angesehen werden können, auch dann nicht, wenn sie getauft sind.“ Damit hatte die radikal deutschnationale Verbindung ein Verständnis offengelegt, das Judentum nicht als Religion, sondern als Abstammungszusammenhang begriff – ein Theorem, das in weiterer Verdichtung den Rassenantisemitismus vorwegnahm.
Dessen ungeachtet wuchs der Kreis der Teilnehmer und Zuhörer im Gross’schen Kaffeehaus immer mehr an. Die bald zwanzig Personen umfassende Gruppe verdankte ihre Entstehung der Begegnung zweier junger Studenten, des aus Bukarest stammenden Mediziners Moritz Tobias Schnirer und des in Wien als Sohn moderat orthodoxer Eltern geborenen achtzehnjährigen Jusstudenten Nathan Birnbaum mit dem deutlich älteren Wundarzt Ruben Bierer, der an seiner bisherigen Wirkungsstätte Lemberg Gründer des ersten säkularen jüdisch-politischen Vereins Österreich-Ungarns, Schomer Israel gewesen war und nach seiner 1879 erfolgten Übersiedlung nach Wien, dem in seinen eigenen Worten „Erzsitz der Assimiliation“, 1882 die erste, freilich höchst kurzlebige österreichische Palästinasiedlungs-Organisation Ahawath Zion ins Leben gerufen hatte.

Perez Smolenskin
(1842–1885) gab der Runde jüdischer Studenten Richtung und Namen.
Formung jüdischen Selbstbewusstseins in studentischer Freundesrunde
Nicht zuletzt durch die Schilderungen des Rundenältesten Bierer wurde immer deutlicher, dass die nationalen Bewegungen, die als Bündelungen von Interessenslagen und Zusammengehörigkeitsfühl für verschiedene Gruppen im „langen 19. Jahrhundert“ fungierten, als Ausweg der identifizierten Probleme scheinen konnten. In die ersten Gespräche der drei Gründer in Bierers Wohnung in der Kleinen Schiffgasse 2 in Wien-Leopoldstadt wurden weitere Personen einbezogen. Schnirer als Obmann des Proponentenkomittees erinnerte sich 1933 noch sehr plastisch an die Gründung am 25. Oktober 1882: „Im Kreise um einen Tisch versammelt, erhoben sich die neuen Bundesbrüder und reichten einander die Hände. Bierer, der älteste des Kreises, hielt eine Ansprache, die den ganzen Seelenreichtum des schlichten Mannes offenbarte und auf die Teilnehmer einen unauslöschlichen Eindruck machte.“
Perez Smolenskin gibt der Idee einen Namen und eine Richtung
Als prägende intellektuelle Gestalt stiess der Publizist und Vertreter der späten „Haskalah“ Perez Smolenskin zu dieser Gruppe. Der im russischen Ansiedlungsrayon gross Gewordene hatte sich 1868 in Wien niedergelassen, wo er mit der hebräischen Zeitschrift Ha Schachar den Übergang der „Haskalah“, für den Judaisten Andreas Lehnardt eine „von philosophisch aufgeklärten, emanzipierten Kreisen vorangetrieben Politisierung“ zum modernen jüdischen Nationalismus begleitete. Er gab dem Verein mit dem hebräischen Namen „Kadimah“ einen dichotomen Auftrag mit auf den Weg: „Kadimah ostwärts gegen die Assimilation und für die nationale Kultur und Kadimah vorwärts gegen Orthodoxie und für Fortschritt“, wie Isidor Schalit, der 1889 eintrat, in der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen 1933 schrieb.
Allerdings war diese Stossrichtung zu Beginn noch zurückhaltender formuliert, um nicht den Argwohn der Behörden, die die Existenz der „Kadimah“ am 23. März 1883 als Verein zur Kenntnis nahmen, zu erregen. Miriam Rürup schreibt, dass die Gründer der „Kadimah“ in den Vereinsstatuten „die national-jüdische Tendenz der Kadimah [...] wegen der behördlichen Regulierung nicht schriftlich festgehalten [haben] [...], doch jedes neue Mitglied musste sich zur jüdischen Nation und zur Palästinakolonisation bekennen.“ Wenige Wochen nach der Gründung liess der Vereinsausschuss einen im Pathos der Zeit formulierten Aufruf an der Universität affichieren: „Geehrter Herr Collega!“ hiess es in dieser Einladung zum Beitritt mit dem Ziel, „alle jüdischen Studenten zu einem Bruderbunde zu vereinigen“, der sich als Teil einer „wirklichen, jüdisch-nationalen Strömung, die erfreulicher Weise täglich im Wachsen ist“ versteht:
„Nur eines fehlt ihr zum vollständigen Durchbruche. Noch steht der bei weitem grösste Teil der jüdischen Studentenschaft Wiens ausserhalb dieser von Vernunft und Natur vorgezeichneten Richtung: darum richten wir, die Mitglieder des akademischen Vereins ‚Kadimah‘, an alle jüdischen Studenten den Ruf und die Bitte ‚Tretet uns bei‘, Commilitonen und Brüder, nehmt regen Antheil an unsrer Thätigkeit, verschliesst Euch nicht der Macht und Wahrheit, die ja tägliche Erfahrungen bestätigen, würdigt den Werth brüderlicher Vereinigung mit Euren Stammesgenossen! Fliesst ja doch in Eueren Adern jüdisches Blut, das sich nicht verleugnen lässt!“.
War das inhaltliche Programm des Vereins, das sich gleichermassen gegen Assimilation wie Zelotismus wandte, bereits in der Gründungsphase festgelegt, dauerte es bis zur endgültigen Wahl der Organisationsform noch einige Zeit. Die Diskussion, ob „Kadimah“ als akademischer, der in Konturierung befindlichen zionistischen Bewegung verpflichteter Verein bestehen bleiben oder die Form einer traditionellen Studentenverbindung annehmen sollte, band zahlreiche interne Ressourcen und führte zu heftigen Grabenkämpfen.


Nathan Birnbaum (1864–1937) und Moritz Schnirer (1860–1941) waren die studentischen Triebkräfte hinter der Gründung der ersten akademischen, dezidiert jüdischen Vereinigung.

Statutenexemplar der „Kadimah“ mit Stempel und Wohnanschrift Birnbaums in Wien II., Castellezgasse 8.
Alle Abbildungen: Sammlung Harald Seewann/Archiv Historia Academia Judaica, im Besitz des Verfassers.
Die Fortsetzung dieser Serie zur Geschichte der „Kadimah“ lesen Sie in der kommenden Ausgabe, DAVID, Heft 148, Pessach 5786/April 2026.
Nachlese
Gregor GATSCHER-RIEDL, Von Habsburg zu Herzl. Jüdische studentische Kultur in Mitteleuropa 1848–1948, Berndorf: Kral-Verlag 2021; Andreas LEHNARDT, Vor-zionistische Vorstellungen von Staatlichkeit in der osteuropäischen Haskala, in: Irene DINGEL/Christiane DIETZ (Hg.), Die politische Aufgabe von Religion. Perspektiven der drei monotheistischen Religionen (Veröffentlichungen d. Instituts f. Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 87), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011; Miriam RÜRUP, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 33), Göttingen: Wallstein 2008; Isidor SCHALIT, Erinnerungen 1890–1904, in: Ludwig ROSENHEK (Hg.), Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen Verbindung Kadimah, Mödling: Eigenverlag 1933; Moritz T. SCHNIRER, Smolenskin und die „Kadimah“, zit. nach: Harald SEEWANN (Hg.), A: V. Kadimah, Fundstücke zur Chronik der ältesten jüdisch-nationalen Studentenverbindung 1 (Wien 1882 – 1938), (Historia Academia Judaica 10), Graz: Eigenverlag 2017; Julius H. SCHOEPS, Modern Heirs of the Maccabees: The Beginning of the Vienna Kadimah, 1882–1897 in: The Leo Baeck Institute Year Book, 27 (1982) 1.