Ausgabe

Menetekel oder: Eine beinahe idyllische Szene in einem Wiener Café um 1940

Paolo Caneppele/Günter Krenn

Man darf die auf drei Fotografien festgehaltene Szenerie um das Jahr 1940 datieren. 

Inhalt

Das erste Motiv zeigt den Eingang des Café Bristol, dessen Name in grossen Metalllettern über der geöffneten Tür zu lesen ist.1 Vielleicht ist es jenes im Text nicht namentlich genannte Ringstrassencafé, über dessen Terrasse Joseph Roth 1919 schrieb, sie wäre eine „mit gesellschaftsfähigen und bügelfaltengezierten Besuchern.“2 Wie viel Grad das langgezogene gläserne Aussenthermometer neben dem Entree an jenem Tag anzeigt, können wir nicht mehr ablesen. Einige Gäste haben auf den Rattan-Korbsesseln neben zur Behübschung angebrachten Töpfen mit Pelargonien im Freien Platz genommen. Es riecht nach Kaffee, Porzellan klirrt leise, Tagesjournale rascheln beim Umblättern in den hölzernen Zeitungshaltern. Ein Ober, der sich einen Bleistift für die nächste Bestellung hinter das rechte Ohr geklemmt hat, überreicht in korrekter Livree einer Dame, die in Begleitung ihres Kindes Platz genommen hat, eine weitere Zeitung. An den Fenstern neben der Eingangstür stehen Speiseangebote. Zu ihnen gehören wahlweise das „Wiener Frühstück“ oder ein „Kleines Frühstück“ mit jeweils Tee, Kaffee oder Schokolade an dazu Trinkbarem. Eine weitere Tafel kündigt an, dass es neben den Hauptzeiten „Mittags“ und „Abends“ auch zu jeder anderen Tageszeit kalte und warme Speisen gibt. Und noch etwas ist an den Fenstern zu lesen…

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Café Bristol, um 1940.

Motiv zwei führt etwas weiter in den Vordergrund der Szene. Ein jüngerer Ober als der auf dem ersten Bild serviert drei Herren eine Melange nebst einem Glas Wasser, auf dessen Rand kunstvoll ein Löffel balanciert. Ein abgelegter Panamahut und ein Eisbecher auf den weissen Marmortischen vor ihm weisen darauf hin, dass wir uns in der warmen Jahreszeit befinden. Der junge Kellner mit messerscharf gezogenem Scheitel blickt in die Kamera, die seinen Blick aus Augen, die längst nichts mehr sehen können, für die Ewigkeit eingefroren hat. Und auch auf diesem Motiv prangt etwas deutlich sichtbar an einer Scheibe hinter den Gästen…

 

Auf dem dritten Foto serviert der junge Ober einem Paar Getränke, während die Menschen ringsum hinter ihren Zeitungen die Zeit zu vergessen suchen. Seine Haltung ist korrekt, als posiere er für ein Werbefoto seines Berufstandes, sogar das Geschirrtuch, mit dem er unliebsame Flecken sofort entfernen kann, hängt vorschriftsmässig gebügelt über seinem linken Arm. Auf diesem Bild ist die Eingangstür des Café Bristol geschlossen, was uns einen weiteren Einblick in die Zeit erlaubt, in der die Fotos entstanden. An der Verglasung haftet etwas, das aktuell zu sein scheint, die Klebestreifen sind noch gut sichtbar. Es ist kein weiteres Tagesangebot, man hat es dort wohl eher als „Gebot der Stunde“ angebracht. Einer Stunde aus einem Zeitraum, für den menschliche Hybris etwas voreilig tausend Jahre veranschlagt hatte. Auf dem Zettel steht schwarz auf weiss und gut lesbar gedruckt: „Juden unerwünscht.“ Das korrespondiert mit der Aufschrift „Arischer Betrieb“ auf dem ersten Bild und dem Hakenkreuz, das auf den ersten beiden Fotos sichtbar ist. An dem Aufdruck „Echte Photographie“ auf der Rückseite aller drei Bilder ist nicht zu zweifeln.

 

Die Botschaften an den Scheiben dokumentieren einen Abschnitt in der Geschichte des Hotels Bristol, der sich nicht von vielen anderen Beispielen in Österreich unterscheidet. Der im Jahr 1892 begonnene Hotelbetrieb wurde 1938 arisiert, die jüdischen Teilhaber aus dem Handelsregister gelöscht. Samuel Schallinger, Vizepräsident des Verwaltungsrates der Hotel Bristol AG, verlor zunächst sein Aktienpaket, das von der Gestapo beschlagnahmt wurde, und 1942 in Theresienstadt auch sein Leben. Nach 1945 wurde Schallingers Erben sein Aktienanteil im Rahmen eines Vergleichs „im Sinne des Dritten Rückstellungsgesetzes“ zurückerstattet.3

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Café Bristol, um 1940.

Die drei Fotomotive spiegeln Momente aus der dunkelsten Epoche Österreichs wider. Die Botschaften darauf müssen wir als Menetekel lesen – was sie bedeutet haben, ist uns aus der Historie bekannt. Was uns die drei Fotografien lehren können, ist, wie wichtig genaues Hinsehen sein kann. Die heutigen Menetekel mögen teilweise weniger deutlich sein, dennoch sollte man ihnen Beachtung schenken. Die Aufschriften auf den drei Fotografien waren nicht die einzigen im Wien jener Zeit. Im Gegenteil, sie waren überall in der Stadt anzutreffen. Fielen daher nicht mehr auf. Man hatte sich daran gewöhnt. Vielleicht sollte man sich rechtzeitig daran gewöhnen, sich nicht allzu leicht an manches zu gewöhnen...

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Café Bristol, um 1940.

Alle Abbildungen: Privatsammlung, mit freundlicher Genehmigung.

 

Anmerkungen

1 Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um das Café des Hotel Bristol in Wien. Die Geschichte fände jedoch auch in jedem anderen Café jener Zeit ihre Entsprechung.

2 Joseph Roth, Kaffeehaus-Frühling. Ein Wien-Lesebuch herausgegeben und mit einem Vorwort von Helmut Peschina, Köln 2005, S. 25.

3 Mehr zur Geschichte von Samuel Schallinger findet sich in: Tina Walzer/Stephan Templ, Unser Wien. „Arisierung“ auf Österreichisch, Berlin 2001.