Ausgabe

Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren Kurt Tucholsky zum 90. Todestag

 Stephan Templ

Inhalt

„Ich bin im Jahre 1911 „aus dem Judentum ausgetreten“ und ich weiss, dass man das gar nicht kann“. So beginnt Kurt Tucholskys (Berlin
9. 1. 1890 – 21. 12. 1935 Göteborg) wahrscheinlich letzter Brief vom 15. Dezember 1935, adressiert an den damals in Palästina lebenden Schriftsteller Arnold Zweig (1887–1968). Erklärend fügt er hinzu: 

„Sie wissen, dass damit keine Konjunkturriecherei verbunden gewesen ist – ein Jude hatte es im Kaiserreich erträglich, ein Konfessionsloser nicht. Ich habe es getan, weil ich noch aus der frühesten Jugendzeit her einen unauslöschlichen Abscheu vor dem gesalbten Rabbiner hatte, weil ich die Feigheit dieser Gesellschaft mehr fühlte, als begriff…“ [...] „Nein, Arnold Zweig, das Judentum ist besiegt, wie es das
verdient – und es ist auch nicht wahr, dass es seit Jahrtausenden kämpft.
Es kämpft eben nicht“.
[...] „Die Emanzipation der Juden ist nicht das Werk der Juden. Diese Befreiung ist den Juden durch die Französische Revolution, also von Nicht-Juden geschenkt worden – sie haben dafür nicht gekämpft. Das hat sich gerächt“.

 

Er wirft dem deutschen Judentum vor, zugesehen zu haben, wie sich der Nationalsozialismus breitmachte:

„In Nürnberg wohnte eine so reiche und einflussreiche Judengemeinde – dort ist der Herr Streicher gross geworden. »Lassen Sie doch den Mann! Nur ka Risches!«  [Anm.: Risches, Jiddisch für Bosheit, Gemeinheit] Und habe ich mit eigenen Augen gelesen, dass die Gemeinde in Frankfurt, als die ersten Pogrome, ich glaube 1931, einsetzten, den Gläubigen empfahl, nach dem Gottesdienst gleich nach Hause zu gehen und Ansammlungen auf der Strasse – auf ihrer Strasse – lieber Zweig – zu vermeiden! So war es.“

 

Gleich den Juden wirft er den deutschen Emigranten vor, auch ausserhalb Deutschlands nur Alibi-Handlungen gesetzt zu haben:

„Aber das Theater der Verzweiflung, die noch in so einem Burschen wie Thomas Mann einen Mann sieht, der, Nobelpreisträger, sich nicht heraustraut und seine »harmlosen« Bücher in Deutschland weiter verkaufen lässt – die Verzweiflung, die dieselben Fehler weiter begeht, an denen wir zugrunde gegangen sind, dieses Theater kann ich nicht mitmachen. Und hier ist das, was mich an der deutschen Emigration so abstösst: es geht alles weiter, wie wenn nichts geschehen wäre. Immer weiter, immer weiter – sie schreiben dieselben Bücher, sie halten dieselben Reden, sie machen dieselben Gesten. Aber das ist schon nicht gegangen, als wir noch drin die Möglichkeiten und ein bisschen Macht hatten – wie soll das von draussen gehen! … ich sehe den Referenten im Propagandaministerium: er muss sich grinsend langweilen, wenn er das Zeug liest. Es ist ungefährlich.“

 

Und Tucholskys Resümee:

„Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Russland erobern – ich bin damit fertig“.

 

Nur zum Vergleich, wie Joseph Roth (1894–1939) zwei Jahre nach den Zeilen Tucholskys an Zweig das Los und die Not des deutschen Juden sah. Im Vorwort zum nicht mehr erschienenen Reprint seiner Juden auf Wanderschaft schrieb Roth im Jahre 1937: 

„Das Wandern hat er verlernt, das Leiden und das Beten. Er kann nur arbeiten – und gerade dieses erlaubt man ihm nicht. Von den 600 000 deutschen Juden sind etwa 100 000 ausgewandert. Die Mehrzahl findet nirgends Arbeit. Ja, sie dürfen nicht einmal Arbeit suchen. Die Reisepässe laufen ab und werden ungültig.

Die ausgewanderten deutschen Juden bilden gleichsam ein ganz neues Volk: sie haben verlernt, Juden zu sein; sie fangen an das Judensein langsam zu erlernen. Sie können nicht vergessen, dass sie Deutsche sind, sie können auch ihr Deutschtum nicht verlernen. In allen fremden Ländern, in den exotischen gar, wirken sie deutsch“.

 

Der deutsche Jude Tucholsky ist an der Emigration zu Grunde gegangen. 

 

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Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Mit Montagen von John Heartfield. Berlin: Neuer Deutscher Verlag, Erstausgabe 1929.