Ausgabe

Auf Spurensuche nach den Resten jüdischen Lebens im Baltikum

Alfred Gerstl

Das jüdische Leben kann im Baltikum auf eine bis in das Mittelalter zurückreichende, vielfältige Tradition zurückblicken. Der Holocaust setzte dem ein Ende: Den Gräueltaten der Nationalsozialisten fielen zehntausende baltische sowie nach Estland, Lettland und Litauen deportierte westeuropäische Jüdinnen und Juden zum Opfer. Auch der Grossteil der Synagogen und andere jüdische Einrichtungen wurden zerstört. Heute gibt es jedoch in allen drei Ländern Anstrengungen, um an die einst blühende jüdische Kultur zu erinnern. 

Inhalt

Holt die Geschichte die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen wieder ein? Im 20. Jahrhundert kämpften die drei Nationen gleich zweimal um ihre Unabhängigkeit. 1918 wurden sie eigenständige Staaten, nachdem sie seit 1795 Teil des Zarenreiches gewesen waren. Die Unabhängigkeit währte jedoch nur kurz: Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 behandelte sie als „Jongliermasse“. 1940 marschierten sowjetische Truppen im Baltikum ein und errichteten eine Zwangsherrschaft, in deren Folge zehntausende Menschen nach Sibirien deportiert wurden. Im Juni 1941 besetzte das nationalsozialistische Deutschland im Zuge des Angriffs auf die Sowjetunion die drei baltischen Staaten und ermordete zehntausende Menschen, überwiegend Juden. 1944 eroberte die Sowjetunion Estland, Lettland und Litauen zurück, die bis 1991 Sowjet­republiken blieben. Das jüdische Leben, darunter die freie Religionsausübung, war in der diktatorisch regierten Sowjetunion stark eingeschränkt. Als kleine Länder mit einer entsprechend geringen Bevölkerung sahen sich die baltischen Staaten stets mit den Widrigkeiten der Grossmacht- und Geopolitik konfrontiert. Auch heute fühlen sich Estland, Lettland und Litauen – alle drei sind moderne und erfolgreiche Staaten mit stark pro-europäisch eingestellten Bürgern – wieder vom übermäch-tigen Nachbarn Russland bedroht. 

 

Lange Tradition jüdischer Kultur 

Gegenwärtig leben nur noch rund 12.000 Juden im Baltikum, wobei Estland traditionell die geringste Anzahl aufweist. Vor dem Holocaust waren es in Litauen an die 220.000 Juden (ungefähr sieben Prozent der Gesamtbevölkerung), in Lettland 95.000 (rund fünf Prozent, davon knapp 40.000 in der Hauptstadt Riga), und in Estland um die 4.500. 

 

Einige wenige Juden hatten sich bereits im Mittelalter im Baltikum angesiedelt, wobei Litauen, damals eine europäische Grossmacht, rasch zu einem kulturellen Zentrum des osteuropäischen Judentums aufstieg. Die Hauptstadt Vilnius trug daher auch den Beinamen „Jerusalem des Nordens“. Immer wieder bot Litauen Juden deutlich bessere rechtliche Bedingungen als in Mitteleuropa, doch diese wurden – wie in den beiden anderen baltischen Staaten – von den Regierenden auch wieder zurückgenommen. So bestanden zeitweise wie auch in den meisten anderen europäischen Staaten strenge Auflagen, um die Rechte und die Bewegungsfreiheit der Juden einzuschränken. 

 

Die Juden im Baltikum waren mehrheitlich Anhänger der Orthodoxie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu Spannungen mit Vertretern der jüdischen Aufklärung; die für eine Wiederbelebung und Modernisierung jüdischer Kultur, aber auch für die Integration in die lokalen Gesellschaften eintretende Haskala-Bewegung gewann zunehmend an Bedeutung. In der von Optimismus geprägten Zwischenkriegszeit verstärkte sich die Assimilation noch. Während der 1920er und 1930er Jahre liessen sich mehr und mehr Juden in den grösseren baltischen Städten nieder, etliche siedelten jedoch auch nach wie vor auf dem Land. In Riga lebten 1935 an die 44.000 Juden, womit ihr Bevölkerungsanteil knapp elf Prozent betrug. 1850 waren es erst 605 Personen gewesen. In Vilnius lebten vor dem Einmarsch der Deutschen fast 60.000 Juden – knapp achtundzwanzig Prozent der Einwohnerschaft. 

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Das Holocaust Museum in Vilnius, Aussenansicht.

Das kulturelle jüdische Leben erreichte in dieser Zeit im Baltikum eine Hochblüte und wirkte sich befruchtend vor allem auf die Bereiche Bildung, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Medien aus. Auch die Sportbewegung Hakoah war im Baltikum sehr aktiv. Etliche jüdische Architekten wie etwa Paul Mandelstamm und Boruchas Klingas verwirklichten Bauwerke, die noch heute die Innenstädte der drei Hauptstädte prägen. Immer stärker spürbar wurde jedoch auch der Antisemitismus in den baltischen Staaten. Entsprechend diskutierten die jüdischen Bürger nicht nur Gegenmassnahmen, sondern vor allem die Jugend sympathisierte auch mit der zionistischen Idee. 

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Das Holocaust Museum in Vilnius, Innenansicht.

 

Erinnerungsstätten für jüdische Kultur und den Holo­caust in Vilnius 

In allen drei baltischen Staaten zerstörten die Nationalsozialisten die allermeisten jüdischen Bauwerke. Im früheren Judenviertel von Litauens Hauptstadt Vilnius gibt es zahlreiche Hinweisschilder, die an das einst blühende jüdische Leben erinnern. Als eines der wenigen Bauwerke ist die eindrucksvolle Choral-Synagoge erhalten gebliebenen. 

 

Die Stadt Kaunas war ein weiteres wichtiges Zentrum der jüdischen Kultur in Litauen. Die Nationalsozialisten errichteten im August 1941 in der Stadt ein Ghetto, das sie im August 1943 in das Konzentrationslager Kauen umwandelten. Von den damals dort lebenden 17.000 Juden erlebten nur neunzig die Befreiung durch die Rote Armee im August 1944. In Ponar, einem Waldstück zehn Kilometer südlich von Vilnius, ermordeten die deutschen Besatzer und lokale Kollaborateure zwischen Juli 1941 und Juli 1944 an die 70.000 Menschen, der Grossteil Juden. Am Ort des Grauens erinnern heute Gedenktafeln an die Opfer. 

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Riga, Gebäude der jüdischen Gemeinde, heute Jüdisches Museum, Architekt: Paul Mandelstam, 1913/14.
Foto: JewsInLatvia, Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:
Riga_Jewish_community_and_the_museum_building.jpg

In allen drei baltischen Ländern gibt es von Einheimischen und Touristen gut besuchte Museen, die in didaktisch hervorragender Weise die Unabhängigkeitskämpfe und das schwierige Schicksal der baltischen Nationen nachvollziehbar machen, die sich im 20. Jahrhundert gegenüber Russland beziehungsweise der Sowjetunion sowie Deutschland und dem Nationalsozialismus behaupten mussten. Die auch im Baltikum vorhandene Kooperation der lokalen Bevölkerung mit dem NS-Regime wird zwar angesprochen, häufig aber wenig problematisiert. Im Vordergrund steht der Kampf der Balten gegen die deutsche und sowjetische Besatzung, was angesichts der erst 1991 erlangten erneuten Unabhängigkeit nicht erstaunt. 

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Das Ghetto-Museum in Riga, Aussenbereich.

Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt das kleine, aber hochinteressante Holocaust-Museum von Vilnius dar. Auch als Grünes Haus bezeichnet, präsentiert es einen sehr informativen Überblick über Geschichte und Schicksal der Juden. Gut aufbereitete Schilderungen tragischer Einzelschicksale geben den Ermordeten ihre Würde zurück. Beispiele für Litauer, die Juden unter Lebensgefahr aktiv unterstützten, finden sich ebenso wie Biografien von Kollaborateuren. Die Geschichte des Antisemitismus und der Kollaboration in Litauen hat die Schriftstellerin Ruta Vanagaite in ihrem überaus lesenswerten Buch Die Unsrigen aufgearbeitet. Auch einige ihrer eigenen Familienmitglieder hatten diesbezüglich Schuld auf sich geladen. Das Buch wurde in Litauen höchst kontrovers diskutiert. 

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Das Ghetto-Museum und die Peitav-Synagoge in Riga 

In Riga besteht seit 2010 ein zentrumsnah gelegenes Ghetto-Museum, das eindrucksvoll an die Zwischenkriegszeit, das jüdische Ghetto und das tragische Schicksal seiner Bewohner erinnert. In das von bis zu 30.000 Menschen bewohnte Ghetto wurden auch viertausend Juden aus Österreich, Deutschland, Tschechien und der Slowakei deportiert, wo sie auf eng­stem Raum zusammenleben mussten. Auf grossen Tafeln werden die Namen der per Zug nach Lettland Deportierten aufgelistet – Riga war im Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Fast alle wurden anschliessend in Konzentrationslagern ermordet.1 

Bereits 2001 war in Riga unter österreichischer Beteiligung eine Gedenkstätte eingeweiht worden, die an die Massenmorde im Bikernieki-Wald erinnern. Dort fielen neben jüdischen Menschen auch lettische Widerstandskämpfer und sowjetische Kriegsgefangene den Gräueltaten der Nationalsozialisten zum Opfer. 

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Die Synagoge von Kaunas, Aussenansicht. Foto: VietovesLt. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Centras,_Kaunas,_Lithuania_-_panoramio_-_VietovesLt_(10).jpg?uselang=de

Die Rigaer Peitav-Synagoge (vgl. DAVID, Heft 133), erbaut von 1903 bis 1905 im Jugendstil mit ägyptischen Motiven im Tempelinneren, ist die einzige Synagoge, die 1941 nicht von den Nazis zerstört wurde. Da sie mitten in der Altstadt liegt, hätte ein Feuer die Nachbargebäude zu stark gefährdet. Die anderen sechs Synagogen, darunter die grosse Choral-Synagoge, sowie weitere 27 Bethäuser wurden jedoch allesamt zerstört. Die Peitav-Synagoge wurde von den Deutschen in ein Lagerhaus umfunktioniert. In der Sowjetzeit war sie eines der wenigen jüdischen G‘tteshäuser, in denen gebetet werden durfte. (Auch die meisten Kirchen wurden unter Stalin umfunktioniert.) Allerdings durften notwendige Renovationsarbeiten nicht durchgeführt werden. Diese konnten erst nach der Unabhängigkeit 1991 in Angriff genommen werden. Die Peitav-Synagoge ist nach wie vor die einzige aktive Synagoge in der Stadt.

Das jüdische Erbe wird im Baltikum zusehends mehr gepflegt. Noch wichtiger als das Engagement von ausländischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen, darunter Chabad, ist die finanzielle und vor allem politische Unterstützung durch die baltischen Regierungen und Kommunen selbst. Denn sie ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass nicht nur – notwendigerweise – an die Vergangenheit erinnert wird, sondern dass jüdisches Leben und Kultur in Estland, Lettland und Litauen geschätzt werden und dauerhaft willkommen sind.

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Die Rigaer Peitav Synagoge, Aussenansicht.

 

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Die Rigaer Peitav Synagoge, Innenansicht.

Informationen

Muzejs Ebreji Latvija Ghetto Museum

Riga, Skolas street 6 Riga, Lastadijas iela 14A

https://ebrejumuzejs.lv www.rgm.lv

 

Holocaust Museum Vilnius

The Green House

Vilnius, Paménkalnio g. 12

www.jmuseum.lt

 

Anmerkung

1 Frida Michelson: Ich überlebte Rumbula. 

Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2020; Rezension in: DAVID, Heft 130 – 09/2021, https://davidkultur.at/buchrezensionen/der-vergessene-holocaust

 

Alle Abbildungen: A. Gerstl, mit freundlicher Genehmigung.