Ausgabe

Das Lager für jüdische Zwangsarbeiter in der Wiener Hackengasse 1944/45

Michael Bittner

„Die Wiener sind erst jetzt so gut geworden“ – dieses Zitat überlieferte Dow Friedman, 1929 in Kiskunmajsa geboren und als 15-Jähriger nach Strasshof statt nach Auschwitz deportiert. 

Inhalt

Die Bemerkung stammt von seinem Arbeitsleiter, einem Sudetendeutschen, der dem staunenden Jungen zu erklären versuchte, warum die Wiener so freundlich zu ihm waren und ihn mit Essen versorgten. Es sei das Bewusstsein, dass sie den Krieg verloren hätten. Dow Friedman hatte schon in Ungarn viel erleiden müssen: den Verlust des Elternhauses, das Ghetto in der Ziegelfabrik in Debrecen, wo sein Grossvater sagte: „Hier kommen wir nicht mehr lebend raus.“ Dann die Deportation Richtung Auschwitz, doch der Zug blieb bei KoŠice stecken und wurde nach Strasshof umgeleitet. Die Gruppe, mit der Dow nach Wien gebracht wurde, umfasste 250 Menschen. (YVA-O3-2951-DE)

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Jenen spärlichen Unterlagen zufolge, die nicht von der SS zu Kriegsende verbrannt worden waren, befanden sich im Sommer 450 Menschen in der ehemaligen Volksschule, davon 248 Frauen, 126 Männer und 76 Kinder, 346 von ihnen wurden als „arbeitsfähig“ eingestuft. (DÖW 20.054/2) Das „K 15“ wurde von der Gemeinde Wien, Abteilung G45 betrieben, die Arbeitskräfte wurden vom Arbeitsamt an Firmen vermittelt, der Lohn kam jedoch auf ein „U-Konto“, allerdings wurden die Kosten für den gelben Judenstern vorsorglich abgerechnet.

Die Überlebenden schildern das Lagerleben durchaus positiv, was angesichts der übrigen Berichte über die Konzentrationslager und ihre NS-Schergen doch überrascht. Kritisiert wurde das Essen – es kam von der WÖK, wer so wie ich als Student dort gespeist hat, weiss, wie das war. Weiters gab es Schwierigkeiten bei der Ausstattung mit Schuhen und Kleidung, es sind etliche Schreiben von Firmen erhalten, die für ihre Arbeiter Bekleidung einfordern. Aber es gab medizinische Betreuung, einen Rabbiner, der nicht arbeiten musste (seine Frau musste auch nicht arbeiten), religiöse Feiern, tägliche Gebete mit Tallit und Tefillin und keine Prügel. Der Lagerführer war ein pensionierter Schaffner und wird in den Erinnerungen der Überlebenden verklärt, ein fürsorglicher, freundlicher und grosszügiger älterer Herr namens Ludwig Gruber. Er führte das Lager im Laissez-faire-Stil, im krassen Gegensatz zu seinem brutalen Kollegen in der Meidlinger Bischoffgasse. Welcher Lagerführer sonst hätte seinen Schützlingen am Wochenende die Wiener Sehens­würdig­keiten gezeigt und sie
zum Essen eingeladen, wie Lajos Feldmann berichtete. (YVA-O3-2951-DE)

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In einem Dokument wird das K15 als „Straflager“ bezeichnet, (MF 0857-1049) doch konnten die Insassen das Haus stets verlassen und es wurde auch nicht kontrolliert, ob sie zurückgekommen waren, manche sparten sich den weiten Weg von der Schwechater Raffinerie „nach Hause“ in die Hackengasse und schliefen an ihren Arbeitsstellen. Im übrigen war das „Straflager“ beheizt und besass Sanitärräume sowie einen Turnsaal für Kinderspiele.

Es gab im Lager zwei Ärzte, bei schlimmeren Beschwerden kam man ins Spital, nicht nur ins jüdische, sondern verbotenerweise auch in die heutige Klinik Favoriten. Die jüdische Fürsorgerin Franzi Löw, die Ludwig Gruber beim Ältestenrat angefordert hatte, kümmerte sich aufopfernd um die Insassen. Von den 450 bis 600 Menschen in der Hackengasse starben nur sechzehn, alle eines natürlichen Todes.

Fast alle Überlebenden berichten von freundlichen Gesten der Bevölkerung. Es gab eine „Tante“, die an der Strassenbahnstation Jausen verteilte, eine weitere, die Geld und Essensmarken an bestimmten Orten deponierte, einen österreichischen Schauspieler, der Nahrungsmittel ins Lager brachte und viel Zuneigung zu den Menschen, die den Gelben Stern trugen. Dow etwa bekam Handschuhe geschenkt, als er Trümmer wegräumte, häufig wird von Lebensmittelspenden berichtet, Einheimische luden Jugendliche zu sich nach Hause ein. Auch die Firmen, die Zwangsarbeiter angestellt hatten, kommen in den Erinnerungen gut weg, es gab dort zu essen und eine einigermassen faire Behandlung. Die Arbeitszeit betrug acht Stunden täglich, fünf Tage die Woche, da blieb genug Zeit für Nebenbeschäftigungen wie kleine Arbeiten für die Nachbarn, was mit Geld und Essensmarken belohnt wurde, Schwarzhandel mit Parketthölzern oder Näharbeiten. Imréné Márkus erinnerte sich, dass sie Kleidungsstücke für andere jüdische Mädchen nähte und dafür Salami und “Hitlerspeck“ bekam, wie sie die Marmelade nannte. Die Mädchen wollten hübsch aussehen, da sie mit österreichischen Burschen ausgingen.1 Das klingt kaum glaubhaft, doch dürfte das „Straflager“ in der Hackengasse dank der Verwaltung durch die Gemeinde Wien kein typisches „KZ“ gewesen sein. Clara Katz, eine ehemalige Zwangsarbeiterin, meinte sogar, man sei absichtlich so lieb gewesen, da man dem Roten Kreuz habe zeigen wollen, wie gut es den Zwangsarbeitern ging. Bevor die Schilderung allzu positiv wird, weil sie nach Erinnerungen der Überlebenden verfasst ist: es soll keine falsche Romantik entstehen. Zwangsarbeit war Knochenarbeit, es waren gefährliche, grauenerregende Aufträge, wie das Kremieren von Toten, Schutträumen während eines Bombenangriffs, bei dem man nicht in den Bunker gelassen wurde (man trug ja den Gelben Stern!), schliesslich Schanzarbeiten für den Südostwall, die viele Männer das Leben kosteten. Und am Ende ein Todesmarsch, der ganz schlecht organisiert war. 

Franzi Löw, die mobile Krankenschwester des Ältestenrates, konnte zwölf Menschen aus dem Lager verstecken, manche Männer wurden von der SS in Richtung Mauthausen getrieben, ihre Frauen folgten ihnen freiwillig in gebührendem Abstand, einige starben beim Massaker in Hofamt Priel, die meisten aber überlebten, fast alle Überlebenden kehrten nach Ungarn zurück. Auf dem Weg dorthin erfuhren sie von Auschwitz, dem eigentlichen Ziel ihrer Deportation. Die schönen Erinnerungen an Wien blieben präsent, verstärkt durch das Glück, nicht nach Auschwitz transportiert worden zu sein. 

 

Nun doch noch ein bisschen Romantik: Im Jahr 1999 wandte sich Leopold Lipót Friedman (geboren 1926) an das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands. Er hatte aus seiner Zeit als Zwangsarbeiter ein Foto von Anna aufgehoben.

Anna war ein Mädchen aus Schwechat, das ihn mit Essen versorgte, dessen Eltern ihn einluden und das er aus den Augen verloren hatte. Ob diese Lovestory noch ein Happyend hatte? In Wien wurde auf die alte Schule in der Hackengasse eine Bronzetafel montiert und das Lager und seine Geschichte vergessen. Dann kam die Zeit der Bauspekulation (2006), das Gebäude wurde Opfer eines hässlichen Neubaus, und mit ihm die Gedenktafel. Es ist den beiden Historikerinnen des Wiener Wiesenthal-Instituts, Dr. Kinga Frojimovic und Dr. Eva Kovacs zu verdanken, dass eine neue Tafel montiert und das „K15“ dem völligen Vergessen entrissen wurde.2

 

Anmerkungen

1 Interview mit Imréné Márkus, Budapest 2005, Dank an Dr. Eva Kovacs und Dr. Kinga Frojimovics.

2 Ich danke Dr. Kinga Frojimovic und Dr. Eva Kovacs sehr herzlich für die Zurverfügungstellung von Material und die wertvollen Hinweise. Vgl. Tracing Jewish forced labour in the Kaiserstadt : a tainted tour of Vienna / Kinga Frojimovics, Éva Kovács https://neu.aggb-katalog.de/vufind/Record/hwk.1000016436/Description. Die Quellenangaben im Text beziehen sich auf Dokumente des DÖW, von Yad Vashem (YVA) und Magyar Nemzeti Levéltár, Mikrofilmsammlung (MF).