Die Stadt Wels veranstaltet seit mehreren Jahren ein Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938. Dieses Jahr fand das Gedenken am
5. November 2025 statt.
Nach der Begrüssung durch Vizebürgermeisterin Christa Raggl-Mühlberger folgten die Ansprache des Gastredners Militärsuperintendent Privatdozent DDr. Karl-Reinhart Trauner vom Österreichischen Bundesheer und die Abschlussansprache von Vizebürgermeister Gerhard Kroiß.
Dozent Trauner berichtete in seinen Ausführungen über den österreichischen militärischen Widerstand wäh-
rend des Zweiten Weltkriegs. Die Wiener Rossauer Kaserne, heute Sitz des Bundesministeriums für Landesverteidigung, trägt seit 2020 den Traditionsnamen Bernardis-Schmid. Wer waren diese beiden Soldaten?
Feldwebel Anton Schmid (1900–1942) verhalf im Baltikum zahlreichen Jüdinnen und Juden zur Flucht und wurde deshalb am 13. April 1942 in Wilna (Litauen) hingerichtet. Er war der erste Soldat der Deutschen Wehrmacht, der in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als Gerechter unter den Völkern geehrt wurde.

Gedenkveranstaltung der Stadt Wels zur Reichspogromnacht beim Mahnmal für die Welser Juden im Pollheimerpark. Fotos: Stadt Wels, mit freundlicher Genehmigung Büro des Bürgermeisters.

Oberstleutnant im Generalstab Robert Bernardis (1908–1944) war der „einzige österreichische Offizier, der im Rahmen der Ereignisse des 20. Juli 1944 durch seine Schlüsselstellung eine bedeutende Rolle spielte“ (so der Zeithistoriker Ludwig Jedlicka, 1916–1977). Nach dem erfolglosen Juli-Attentat 1944 wurde Bernardis verhaftet, vor dem Volksgerichtshof in einem Schauprozess, der auf Wunsch Hitlers sogar mitgefilmt wurde, zum Tode verurteilt und am 8. August 1944 stranguliert. 1994 wurde in Linz eine Strasse nach ihm benannt und ihm 2004 in Enns ein beeindruckendes Denkmal gesetzt. Doch wie kam der Wehrmachtsoffizier zum Widerstand gegen Hitler? Persönliche Erfahrungen führten Bernardis in den engeren Mitarbeiterkreis des Widerstandkämpfers Oberst im Generalstab Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944). Im Sommer 1941 wurde Bernardis Zeuge von Verbrechen während des Russlandfeldzuges. In einem Lager im ukrainischen Schytomyr mit gefangenen Zivilisten, hauptsächlich Juden (Männer, Frauen, Kinder), wurde er Zeuge von brutalen Hinrichtungen. Wenig später erfuhr er ähnlich Schreckliches im ukrainischen Charkiw. Angesichts dieser Erfahrungen durchschaute er die „Maskerade des Bösen“ (ein Begriff des NS-Märtyrers Dietrich Bonhoeffer, 1906–1945). Die Erlebnisse führten ihm in aller Brutalität das menschenverachtende Unrecht des National-
sozialismus vor Augen: die Gräueltaten waren Ausfluss einer radikalen extremistischen Ideologie.
Das Kriegsende, die Befreiung der Konzentrationslager und die Wiedererstehung Österreichs sind inzwischen 80 Jahre her, es wird daher immer schwieriger Zeitzeugen zu finden. Der zeitliche Abstand birgt die grosse Gefahr des Vergessens und Verdrängens, bietet aber auch die Möglichkeit einer Versöhnung. Die Gefahren haben leider deutliche Konturen: Das Bewusstsein der historischen, belastenden Erfahrung – der Grundkonsens der Gesellschaft, der Grundkonsens der Toleranz und der Abgrenzung gegenüber jedem Extremismus – erodiert. Dass der Konsens, der eine Gesellschaft zusammenhält, in Frage gestellt wird, geschieht im unspektakulären Kleinen, aber auch im Grossen: Fake News gehören ebenso dazu wie Hass-Postings oder die Aggressivität im Strassenverkehr. Bei alledem geht es um den Umgang miteinander!
Nach einer aktuellen Definition des Verteidigungsministeriums ist Extremismus gekennzeichnet durch eine „Schwarz-Weiss-Sicht, ein unkritisches [dogmatisches] Festhalten an seiner Ideologie, ein [in sich] geschlossenen Gedankengebäude, einen Absolutheitsanspruch sowie die Inkaufnahme von strafrechtlich relevanten Tatbeständen (z. B. Gewalt) zur Zielerreichung“. Besonders problematisch wird Extremismus, wenn er politische und religiöse Momente miteinander vernetzt.
Nach der blutigen Niederlage des Dritten Reiches konnte Österreich wiedererstehen und musste sich dazu neu erfinden. Die Ablehnung von Extremismus einschliesslich Antisemitismus entwickelte sich dabei zum allgemein anerkannten Grundkonsens des neuen Österreich. Die Menschen hatten leidvoll erfahren müssen, dass Radikalisierung, Extremismus und Antisemitismus eine Gesellschaft gefährden und zerstören. Und sie haben aus der Geschichte und ihren Erfahrungen die Konsequenzen gezogen: Menschenverachtendes wie die Reichs-
pogromnacht und die Shoah darf nie wieder geschehen, darf deshalb auch nicht vergessen werden. Deshalb auch das heutige Gedenken! Dozent Trauner schloss seine Ausführungen mit einem Spruch des berühmten Rabbi Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tow (um 1700–1760), zugleich einer der prägenden Leitgedanken der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem: „Das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung.“
Nach einer Lesung von Schülern der Mittelschule 8 Lichtenegg (MS8) folgte die Abschlussansprache von Vizebürgermeister Gerhard Kroiß. Er erinnerte an das unsagbare Leid, das am 9. November 1938 über die jüdische Bevölkerung in Österreich und auch in Wels hereingebrochen war: Juden wurden aus ihren Wohnungen gejagt, geschlagen, deportiert, viele von ihnen ermordet oder sie begingen aus Verzweiflung Selbstmord. Die Anfänge, so meinte Kroiß, lagen nicht in der Pogromnacht, es gab schon vorher Anzeichen, die sich spätestens in dieser Nacht des 9. November 1938 zu einer explosiven Mischung aus Grausamkeit, Selbstherrlichkeit und Vernichtungswahn entzündete. „Niemals vergessen!“ sei heute das Leitmotiv: „Wir dürfen niemals vergessen, wohin Ausgrenzung, Antisemitismus und Gewalt führen. Die Geschichte mahnt uns wachsam zu sein und uns gegen jede Form von Diskriminierung, Hass und Menschenfeindlichkeit zu wehren. [...] In unserem Alltag sehen wir immer wieder Anzeichen dafür, dass die Saat des Hasses auf fruchtbaren Boden fällt. Antisemitische Parolen, Hass gegen Muslime und andere Minderheiten – all das erleben wir auch heute. Wir dürfen niemals zulassen, dass das, was einst in der Nacht des 9. November 1938 begann, in irgendeiner Form wiederkehrt. Niemals darf Gleichgültigkeit die Oberhand gewinnen. Denn Gleichgültigkeit ist der Nährboden für das Böse. [...] Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Hass und Vorurteile niemals zu einer besseren Zukunft geführt haben. Wir haben jeden Tag die Wahl, uns für eine Welt des Friedens, der Versöhnung und des Respekts zu engagieren. Tun wir jetzt das Richtige! Und was uns dabei einen sollte, ist die unbedingte Bereitschaft, auch eine Konfrontation nicht zu scheuen, wenn es darum geht, für unsere Werte einzustehen und diese zu verteidigen. Ich möchte Sie daher ermutigen, nicht nur Zuschauer zu sein, sondern aktiv für Toleranz, Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Lassen sie uns daher heute nicht nur an die Opfer der Reichspogromnacht erinnern, sondern uns gleichzeitig auch der Verantwortung bewusst werden, die wir für die Gegenwart und die Zukunft tragen! Lassen Sie uns dafür einstehen, dass Hass und Gewalt niemals die Oberhand gewinnen dürfen. Gemeinsam sagen wir: „Niemals vergessen“ – und niemals wegsehen!“
Zum Abschluss erfolgte die Kranzniederlegung durch Vertreter der Stadt Wels. Der Gospelchor Choice of Voice (Wels-Lichtenegg) und der Schülerchor der Mittelschule 8 Lichtenegg sorgen für eine wunderbare musikalische Umrahmung.
Die vollständigen Redetexte und weitere Fotos der Veranstaltung: siehe DAVID Heft 147, Online-Ausgabe.