Georg Gaugusch: Wer einmal war. Das jüdische Grossbürgertum 1800-1938, L-R. Zugleich Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft „Adler" - Wien, Dritte Folge, Band 17
Wien: Amalthea Signum Verlag 2016
1648 Seiten, gebundene Ausgabe
Euro 148,00
ISBN 9783-85002-773-1
Das Mammutwerk mit der Darstellung der bedeutenden jüdischen Familien findet seine Fortsetzung. Nach dem im Jahre 2011 erschienenen Band I für die Anfangsbuchstaben A - K liegen nun in Band II die Familien L - R vor. Somit ist klar, dass, entgegen der ursprünglichen Konzeption, (zumindest) ein dritter Band folgen soll, der das grossartige Werk abschliessen und den Namenindex für alle drei Bände enthalten wird. Dieser wird wohl weit über 100.000 Namen aufweisen. Sind doch allein für Band I 38.000 Namen auf GenTeam und auf der „Adler"-Homepage einsehbar, wo auch die Fortsetzung für den vorliegenden Band der öffentlichen Nutzung kostenlos zur Verfügung steht. Das Thema und die Methode der Bearbeitung sind neu und, wie in der Einleitung erläutert wird, die Verwendung des Begriffes Grossbürgertum in der hier verwendeten Definition nicht allgemein eingeführt. Hier ist er gebraucht für eine Gesellschaftsgruppe, deren Bedeutung wohl auch in ihrer ökonomischen Potenz liegt, der aber auch hervorragende Vertreter diverser geistiger und künstlerischer Bereiche angehören, die bedingt durch ihr familiäres Umfeld in dieser Gesellschaftsschicht verankert waren.
Im vorliegenden Band werden 178 Familien behandelt. Der durchschnittliche Darstellungsumfang pro Familie nimmt zu. Dies hängt auch zusammen mit den von Jahr zu Jahr zunehmenden Er- und Bearbeitungsmöglichkeiten. Waren bei den Erhebungen für Band I noch händische Abschriften und Exzerpte auf Karteikarten die Regel, so sind jetzt Recherchen im Internet angesagt in einem sich explosionsartig ausweitenden Volumen, dessen Ende nicht abzusehen ist. Die heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung der Dokumente vor Ort und deren Auswertung in Ruhe zu Hause führt zu einer Datentiefe, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar schien. Dazu kommen Erleichterungen für den Archivbenutzer in Form von verkürzten Datenschutzfristen. Aber auch zusätzliche „Feldarbeit" auf in- und ausländischen Friedhöfen - oft die letzten „Informationslieferanten", wenn archivalische Quellen versagen - mit Hilfe moderner technischer Möglichkeiten tragen zum erweiterten Gewinn von Familiendaten bei. Die einzelnen Familienkapiteln werden jeweils mit einer kurzen Übersicht eingeleitet, in der die bedeutendsten Vertreter vorgestellt werden. Daran schliessen sich Angaben zur „Vernetzungen", also zu verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen bedeutenden Familien. Nach der Familiengenealogie werden dann die für diese Familie speziellen Quellen angeführt.
Als Beispiel sei hier ohne Wertung auf Meitner hingewiesen. Aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Mährisch Weissenkirchen stammend, ist hier Ende des. 18. Jahrhundert wohl eine gewisse Wohlhabenheit gegeben. Die Bedeutung der Familie liegt aber darin, dass diese Familie innerhalb von drei Generationen Juristen und Mediziner, Schachmeister, Mathematiker und Kernphysiker hervorbringt. Aber auch eine Pianistin ist vertreten - deren Sohn Otto Robert Frisch dann wieder als Kernphysiker hervorsticht. Ein weiteres interessantes Beispiel stellt die Familie Rosenberg II dar. Zu Ende des 18. Jahrhunderts in Prag eine der reichsten Familien Prags, die als Zwirn- und Geschmeidehändler und Hausbesitzer hervortreten, nehmen bei ihnen eine ganze Reihe von Personen die Taufe. Sie sind eines der markantesten Beispiele dafür, dass dies weder ihre gesellschaftliche Stellung noch ihren beruflichen Aktivitäten hinderlich ist. Ein Zweig wendet sich nach Wien und gehört hier zu den erfolgreichen Familien der Ringstrassenzeit. Dies hindert aber nicht, dass die böhmischen Verwandten zu den „armen Verwandten" wurden, die innerhalb von vier Generationen in die Schicht der Gemeindediener und Taglöhner absteigen. Einen Fall, aus durchschnittlichen persönlichen Verhältnissen stammend, stellt Adolf Neumann von Ditterswaldt dar. Ihm war die Errichtung eines international tätigen Textilimperiums zu verdanken, der in seiner Branche zu einem der grössten Arbeitgeber der Monarchie zählte. Dementsprechend wurde er auch 1913 über Intervention des damaligen Arbeitsministers nobilitiert. Der Familie gelang es, nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur in Tschechien Produktionsstätten zu halten, sondern auch in Österreich durch den Kauf der Druckerei und Bleicherei Gebrüder Rosenthal in Hohenems eine Fabrik zu betreiben.
Die im Kapitel Quellen zu lesende Aufzählung und Kommentierung der ausgewerteten Bestände im Budapester Magyar Zsidó Levéltár, im Wiener Stadt- und Landesarchiv und im Österreichischen Staatsarchiv zeigen nicht nur die beeindruckende Menge des bearbeiteten Materials, sondern ist auch für jeden einschlägig Forschenden Einführung und Kommentar. Daran schliesst die Liste der seit 2011 besuchten meist jüdischen Friedhöfe in Österreich, Belgien, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Kroatien, Rumänien, Schweiz, Serbien, Slowakei, Tschechische Republik (allein nur hier 76 Orte) und Ungarn, wobei in vielen Orten zwei Friedhöfe besucht wurden.
Die im Band I auf mehr als fünf Seiten aufgezählten Internet-Portale, die für die Arbeit verwendet wurden, werden in Band II um mehr als zwei Seiten erweitert. Auch dies eine wertvolle Information eines Praktikers für den Leser. Der Band schliesst, zusätzlich zu den in Band I enthaltenem Literaturverzeichnis, mit einer fünfseitigen Erweiterung, das Druckwerke, CDs und DVDs ausweist. Anerkennender Dank und Gratulation dem Autor und dem Verlag. Wir freuen uns auf den dritten Band.