Die Stadt Mattersburg im heutigen Burgenland war seit Urzeiten immer auch von jüdischer Kultur geprägt. Legenden nach gab es bereits 800 n. d. Zeitrechnung erste jüdische Siedlungen in diesem Gebiet. Ganz sicher jedoch ab 1496, als vertriebene Wiener Neustädter Juden hier eine neue Heimat fanden. Bis 1938 war jüdisches Leben trotz immer wiederkehrender Ausweisungen und Vertreibungen in der Geschichte der Stadt präsent. Heute erinnern nur noch ein paar wenige erhaltene Gebäude und der jüdische Friedhof an die jüdischen Bewohner der einst weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Kehilla.
Mattersburg (damals noch Mattersdorf bzw. ungarisch Nagymarton) war zusammen mit Eisenstadt, Kittsee, Frauenkirchen, Deutschkreutz, Lackenbach und Kobersdorf eine der bekannten Sieben Gemeinden, hebräisch Sheva Kehillot, die vom Landesrabbiner von Ungarn, Samson Wertheimer, 1739 zu diesem Verband zusammengeschlossen wurden. Die burgenländischen Juden wurden von den Herrschern zwar geduldet, jedoch nicht aus reiner Nächstenliebe. Vielmehr stand der finanzielle Gedanke über allem. So wurden sie über die Jahrhunderte immer wieder mit neuen Auflagen, Abgaben und Schutztaxen schwer belastet.
Blick in die Judengasse Richtung Synagoge, Historische Fotografie, undatiert, Stadtgemeinde Mattersburg, mit freundlicher Genehmigung.
Obwohl die jüdische Gemeinde Mattersburg eine der ärmeren Gemeinden war, war sie dennoch eine der bekanntesten Siebengemeinden. Der Grund war die renommierte Jeschiwa des Ortes und ihr berühmtester Gelehrter Moses Sofer. Die Schüler nahmen weite Wege aus aller Welt auf sich, um hier Thoraunterricht zu erhalten. Scherzhaft wurde die Gemeinde wegen ihrer extremen Frömmigkeit auch „Klein-Erez-Israel" genannt. Die jüdische Bevölkerung machte zeitweise ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus.
Am 13.03.1938, dem Tag des „Anschlusses" an das Deutsche Reich wurde das jüdische Ghetto von Mattersburg Ziel blinder Zerstörungswut mit Raub und Plünderungen. Bereits Ende September 1938 hisste der NS-Bürgermeister Franz Giefing die weisse Flagge auf der Synagoge und verkündete: „Mattersburg ist Judenfrei!" Zwei Jahre später, im September 1940, marschierte ein Pionierzug in der Judengasse auf, um die durch Plünderungen stark einsturzgefährdeten Gebäude von Hand abzutragen und teilweise zu sprengen. Am selben Tage wurde auch die zu diesem Zeitpunkt noch gut erhaltene, Jahrhunderte alte Synagoge durch Sprengung dem Erdboden gleich gemacht.
Synagoge Front nach 1932, historische Fotografie, 1932-1938, Stadtgemeinde Mattersburg, mit freundlicher Genehmigung.
Ghetto
Das jüdische Ghetto bildete in Mattersburg - im Gegensatz zu vielen anderen Ortschaften - zusammen mit dem Hauptplatz der christlichen Gemeinde den Mittelpunkt der Ortschaft. Trotzdem gab es strikte Grenzen, die eingehalten werden mussten. Der Synagogenbau war das Zentrum der jüdischen Gemeinde. Nicht nur zu den Gttesdiensten oder den Morgen- und Abendgebeten kam man hier zusammen. Auf dem kleinen Platz vor der Synagoge traf man sich zum sogenannten „Stiegenkohl", dem Debattieren und Neuigkeitenaustausch auf der Aussenstiege des angrenzenden Nachbarhauses. Von der Synagoge zog sich die Judengasse Richtung Norden und war geprägt von den Geschäften in den Erdgeschossen der Häuser. Sie war sozusagen das Geschäftszentrum des Ortes. Auch Christen erledigten hier teilweise ihre Einkäufe. In der Talmud-schule, die hinter der Synagoge stand, wurden die Thoraschüler unterrichtet und wohnten dort zugleich.
Perspektivischer Schnitt längs, Weissmodell. Virtuelle Rekonstruktion V. Schmid 2016, mit freundlicher Genehmigung.
Rückseite der Synagoge, Talmudschule bereits abgetragen, Historische Fotografie, Stadtgemeinde Mattersburg, mit freundlicher Genehmigung.
Synagoge
Vom Fürsten Esterházy wurde festgelegt, dass der Tempel die restlichen Gebäude an Höhe nicht überragen dürfe. Einzig die Holzfahne auf dem Dach des Betraumes wurde der jüdischen Gemeinde als Erhöhung und Kennzeichnung der Synagoge zugestanden. Der gesamte Synagogenbau war vermutlich wegen weiterer gesetzlicher Auflagen und auch aus finanziellen Gründen relativ einfach gehalten. Es war ein verputzter, weiss/grau gekalkter Bau, dessen Strassenfassade ausser einfachen Pilastern und einem Traufgesims kaum weiteren Schmuck besass. Traufkantenhöhe und Dachdeckung integrierten sich unauffällig in die Nachbarschaft. Nur die Rundbogenfenster und -türen, die synagogentypische Dreiteilung der Fassade und der tiefer gelegene, umzäunte Vorplatz wiesen auf die Funktion des Gebäudes hin.
Das jüdische Ghetto in Mattersburg an der Wulka. Virtuelle Rekonstruktion V. Schmid 2016, mit freundlicher Genehmigung.
Im Gegenzug zum äusseren Erscheinungsbild, welches durch Fotographien von jeder Seite dokumentiert ist, kann der Innenraum stellenweise nur durch Rückschlüsse und Vermutungen erschlossen werden. Die vorhandenen Fotographien zeigen immer nur den Blick Richtung Almemor. Andere Blickrichtungen im Betraum und in die Nebenräume bleiben uns verwehrt. Jedoch gibt es immerhin eine Beschreibung fast aller Räumlichkeiten. Max Grunwald, ein Rabbiner aus Wien, widmete der Kehilla samt Synagoge nach seinem dortigen Besuch einen 167-seitigen Artikel im „Jahrbuch für Jüdische Volkskunde 1924/25". Auf Fotographien sieht man, dass der Betraum der Synagoge vor 1932, bis auf dünne Zierlinien an den Fensterlaibungen und Stichkappen, einheitlich in Weiss getüncht war. Nach 1932 war der gesamte Betraum der Synagoge unter anderem mit einer rundum laufenden Rankenbordüre und einem Sternenhimmel ausgemalt. Die Farbgebung kann aufgrund der Schwarz-Weiss-Fotographien nur vermutet werden. Auch die Einrichtung der Synagoge, wie der steinerne Almemor, der Thoraschrein mit dem geschnitzten Rundbogen, die hölzernen Bänke und der grosse Messingluster sind auf den Fotographien abgebildet.
Überlagerte Innen- und Aussenansicht in 2D, in Gelb die sich ergebende Mauerstärke. Virtuelle Rekonstruktion V. Schmid 2016, mit freundlicher Genehmigung.
Rekonstruktion
Dank der vielen vorhandenen und im Verlauf der Arbeit neu hinzugekommenen Fotografien war es trotz fehlender Planunterlagen möglich, die ehemalige Mattersburger Synagoge detailgetreu zu rekonstruieren. Die Rekonstruktions- und die Recherchearbeit gingen dabei Hand in Hand. Wobei die andauernde, intensive Recherche der Grundstock der Arbeit war und so fortwährend Lücken geschlossen werden konnten. Fehlende Informationen für Teile des Innenraumes konnten durch eigene Interpretation, Überarbeitung des Materials (z.B. Einzeichnen von Fluchtlinien) und Vergleiche mit anderen Synagogen ergänzt werden und führten schlussendlich zu einem harmonischen Gesamtbild.
Innenraum bei Nacht. Virtuelle Rekonstruktion V. Schmid 2016, mit freundlicher Genehmigung.
Epilog
Für ein lebendiges Erinnern und Fortbestehen der jüdischen Geschichte Mattersburg und seiner jüdischen Bewohner wurde im März 2013 der Verein „wir erinnern" gegründet. Die im September 2016 leider viel zu früh verstorbene Obfrau Gertraud Tometich setzte sich mit Herzblut für dieses Anliegen ein und vermittelte in zahlreichen Führungen, Veranstaltungen und Projekten die Geschichte des jüdischen Mattersburg. Bei meiner Arbeit boten mir der Verein und Frau Tometich eine sichere Anlaufstelle zu allen aufkommenden Fragen und steckten mich mit ihrer Begeisterung für die Geschichte des jüdischen Mattersburg mehr und mehr an.
Eingangssituation der Synagoge und Nachbarhaus mit „abelesischer Stiege“. Virtuelle Rekonstruktion V. Schmid 2016, mit freundlicher Genehmigung.
Rekonstruktion des Hauptraums wie auf einer Fotografie von 1934. Virtuelle Rekonstruktion V. Schmid 2016, mit freundlicher Genehmigung.
Nachlese:
Veronika Schmid, Virtuelle Rekonstruktion der ehemaligen Synagoge Matterburg (Nagymarton; Mattersdorf). Technische Universität Wien: Dipl.Arbeit 2016. Link: https://publik.tuwien.ac.at/files/PubDat_245009.pdf
Gertraud Tometich, Als im Burgenland noch das Schofarhorn ertönte. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Mattersburg. Edition Marlit 2013. ISBN-13 9783902931023