Jan Sechter (1968 in Prag geboren) ist studierter Ökonom und begann seine berufliche Laufbahn im Jahre 1992 bei der Stiftung der Tageszeitung Lidové noviny. Anschliessend war er in der Abteilung für Kultur und Auslands-tschechen des Aussenministeriums der Tschechischen Republik und als Botschaftssekretär für Presse, Kultur und Politik der Botschaft der Tschechischen Republik in Deutschland (Aussenstelle Berlin) tätig. Von 2000 bis 2002 war er Referatsleiter für „cross-sectional" Agenden der Abteilung für Mitteleuropäische Staaten des Aussenministeriums der Tschechischen Republik und Koordinator des Aussenministeriums der Tschechischen Republik für den Zweiten Weltkrieg betreffende Entschädigungen. Weitere Stationen waren: Gesandter-Botschaftsrat der Botschaft der Tschechischen Republik in Deutschland (2002-2007) und ausserordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Tschechischen Republik in Polen (2008). Darüber hinaus war Jan Sechter Mitglied in der Diplomatie nahestehenden Organisationen: Mitglied des Aufsichtsrates des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, Stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates des Stiftungsfonds des Tschechischen Rates für die Opfer des Nationalsozialismus, Mitglied des Verwaltungsrates des Stiftungsfonds für Holocaust-Opfer und Vertreter der Tschechischen Republik im Kuratorium der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft und Exekutivsekretär des Internationalen Ausschusses für Erinnerung, Erforschung und Bildung über den Holocaust. Seit 2013 ist er ausserordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Tschechischen Republik in der Republik Österreich.
Jan Sechter. Foto: Eric Kruegl, mit freundlicher Genehmigung Botschaft der Tschechischen Republik in Österreich.
DAVID: Sie sind seit 2013 Botschafter der Tschechischen Republik in Wien. Was waren Ihre ersten Eindrücke von der Stadt und haben Sie Lieblingsplätze?
Botschafter Sechter: Wien ist eine Stadt, in der sich die Tschechen zu Recht ein bisschen wie zu Hause fühlen können, obwohl sie sich ausserhalb des Landes befindet. Die Geschichte, die Architektur oder zum Beispiel die gleichen Strassennamen in Prag und in Wien (Am Graben, Herrengasse) und viele tschechische Spuren sind es wert, entdeckt zu werden. Man bräuchte ein zusätzliches Leben, um Wien und die Sehenswürdigkeiten in der Umgebung, die Bibliotheken und Archive gründlich erkunden zu können. Die Wiederentdeckung der gemeinsamen und unterschiedlichen Wurzeln ist für mich sehr inspirierend. Hier arbeiteten auch der einstige Präsident der Tschechoslowakei Masaryk sowie Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und Josef Hlávka. Mir gefällt ausserdem der älteste Teil von Wien zwischen der Kirche Maria am Gestade und der Synagoge. Ich bin von einer Welt fasziniert, die in Wien endet und am Wiener Wald beginnt. Ich erkunde ihn von Hernals aus zu Fuss oder mit dem Mountainbike.
DAVID: Immer wieder organisieren Ihre Botschaft und das Tschechische Zentrum in Wien kulturelle Veranstaltungen zu verschiedenen Themen. So nahmen Sie zum Beispiel im November des vergangenen Jahres an der Präsentation des Buches „Im Leiden und im Kampf": Brünner Juden in schicksalhaften Momenten des 20. Jahrhunderts (Redaktion: Jiří Mitáček) in der Niederösterreichischen Landesbibliothek in St. Pölten teil. Planen Sie auch Kooperationen mit der jüdischen Gemeinde in Wien?
Botschafter Sechter: Bestimmt. Wir laden uns gegenseitig ein und ich freue mich über die Veröffentlichung, die vom Mährischen Landesmuseum über die Geschichte der Juden aus Mähren und Brünn, die natürlich oftmals sehr verbunden mit Wien sind, herausgegeben wurde. Ich erinnere mich an eine sehr berührende Veranstaltung im Österreichischen Nationalrat, die den ermordeten Musikern aus Theresienstadt gewidmet war, mit einer Diskussion mit den Überlebenden, die man nach Wien eingeladen hat. Zudem schätze ich die Pflege des österreichischen Staates und der jüdischen Gemeinden im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen-Gusen sehr. Ausserdem begleitete ich Frau Erika Bezdíčková, eine Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück, auf ihren Lesereisen nach Österreich mit ihrem Buch Mein langes Schweigen, sowie die Überlebende von Theresienstadt Frau Michaela Vidláková, die regelmässig in Schulen in Oberösterreich Diskussionen mit den Schülern veranstaltet.
DAVID: Die Grausamkeiten der nationalsozialistischen Besatzung sind bis heute ein zentrales und schmerzliches Thema in der tschechischen Geschichte. In Zeiten wie diesen, wo in ganz Europa Rassismus und Antisemitismus erschreckenderweise immer salonfähiger werden, ist diese Erinnerung so wichtig. Ein Ort des Erinnerns an die Opfer ist die Gedenkstätte der tschechischen Dörfer Ležáky und Lidice. Wie ist dieser Erinnerungsort gestaltet?
Botschafter Sechter: Ležáky, Lidice, die Gedenkstätte Theresienstadt und die Gedenkstätte der Helden der Heydrichiade in Prag sind meiner Überzeugung nach für das tschechische Volk und die Juden weltweit sehr wichtig. Die Beseitigung von Reinhard Heydrich, durchgeführt von tschechoslowakischen Soldaten und dann die kollektive Bestrafung tausender unserer Bürger und Auslöschung der Dörfer Lidice und Ležaky, hängen sehr eng mit dem Holocaust und dem Plan der Auslöschung der tschechischen Nation zusammen, bei dem Heydrich massgeblich beteiligt war. Die Ausstellungen und die Gedenkorte sind durchaus so gestaltet, dass sie auch die junge Generation ansprechen können. Ein wichtiger Platz der Erinnerung für die Juden und Tschechen ist Mauthausen-Gusen. Die Deportationen aus dem Protektorat betraf unsere Juden und genauso die Vertreter der anti-nationalsozialistischen tschechoslowakischen Widerstandsbewegung, die tschechische Minderheit in Wien und die Familien der Widerstandskämpfer und alle, die den Fallschirmspringern des Attentats auf Heydrich im Juni 1942 halfen. Das Schicksal des Dorfes Ležáky, von wo aus die Fallschirmspringer eine Funkverbindung mit der tschechoslowakischen Exilregierung in London etabliert hatten, haben wir im vorigen Jahr in der Botschaft vorgestellt und ich bin dankbar, dass die Zeitschrift David sich auch diesem Thema gewidmet hat. Wenn wir schaffen, dass die Geschichte oder diese Taten die junge Generation anspricht, dann habe ich keine Angst vor der Ausbreitung des Antisemitismus. Viel gefährlicher ist die derzeitige antiisraelische, antijüdische Einstellung derer, die sich in die europäische Gesellschaft nicht integrieren wollen. Daher muss jedes Land in Europa gemeinsam sehr konsequent auf die Akzeptanz unserer Werte und auf die Erfahrungen des 2. Weltkriegs bestehen.
DAVID: Sie wurden 1968 geboren und haben sowohl den damaligen Sozialismus in Ihrer Heimat als auch die Samtene Revolution bewusst erleben können. Haben Sie Erinnerungen daran, die Sie persönlich prägten?
Botschafter Sechter: Das Gefühl der Eltern und die enttäuschte Vernichtung der Idee des Prager Frühlings im August 1968 durch die Sowjetunion, die Emigration eines Teils der Familie, und das Gefühl der Verzweiflung der älteren Generation brachten mich letztendlich zur Erkenntnis, dass man selbst irgendetwas versuchen muss, besonders dann, als am Ende der 1980er Jahre der Kommunismus als System nicht mehr stark war. Zu einer wichtigen Station in meinem Leben gehörte die Organisation der Studentenbewegung und des Streiks der Fakultät meiner Universität im Herbst 1989. Keiner konnte ahnen, dass die Studentendemonstrationen und der Streik schlussendlich die entscheidende Bewegung der Samtenen Revolution und den entscheidenden Schritt zur Demokratie in unserem Land anführten. Meine persönliche Erfahrung diese Rolle zu spielen und die Studenten zu vertreten war für mein späteres Leben sehr wichtig.
DAVID: Bei der Recherche zu diesem Interview bin ich auf ein Zitat von Václav Havel gestossen, das mich sehr berührt: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." Diese Worte scheinen sowohl für die Biographie von Václav Havel als auch für die Geschichte Ihres Landes sehr passend.
Botschafter Sechter: Dieses Zitat drückt ausgezeichnet den Willen aus, die Gesellschaft und das System im Jahr 1989 in der Tschechoslowakei in einer bestimmt revolutionären Situation zu verändern. Sicherlich war es nicht möglich, das Ergebnis vorher abzuschätzen. Für das kommunistische Regime gab es immer die Möglichkeit, die demokratische Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, wie zum Beispiel in Rumänien im Dezember 1989. Für die Gestaltung der internationalen Beziehungen sind der Optimismus und die Überzeugung wichtig, dass man auch die schwierigsten Konflikte und Meinungsverschiedenheiten überwinden kann. Die realistische Einschätzung der tatsächlichen Möglichkeiten der Diplomatie ist aber genauso wichtig, wie der Optimismus und der Glaube. Wir leben aber derzeit nicht in revolutionären Zeiten.
DAVID: Zum Abschluss des Gesprächs würden wir Sie gerne auch nach Ihren musikalischen, literarischen und sonstigen kulturellen Interessen fragen.
Botschafter Sechter: Ich interessiere mich für die Geschichte und die Kultur Mitteleuropas. Ich bemühe mich, die Inspiration aus der Geschichte auf meine diplomatische Tätigkeit zu projizieren. Ich bin davon überzeugt, dass die Völker Mitteleuropas durch die Geschichte oft neue Impulse entdeckten. Ausserdem freut es mich, wenn ich dem Publikum ein interessantes Buch oder ein Projekt aus der Tschechischen Republik vorstellen kann. Ich freue mich auch über das Interesse der jungen Generation und bin davon überzeugt, dass dies das beste und positivste Programm ist.
DAVID: Vielen Dank, Herr Botschafter, für das interessante Gespräch.