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Mordecai Kaplan

Domagoj AKRAP

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Dieser Beitrag stellt den Anfang einer Serie zu diversen jüdischen Denkern und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts dar.

Mordecai Kaplan

Heute befindet sich in den USA neben Israel die größte und aktivste jüdische Gemeinschaft, und obwohl in den USA seit über drei Jahrhunderten jüdische Gemeinden nachgewiesen sind,  entwickelte das amerikanische Judentum erst in der Zwischenkriegszeit eine eigenständige genuin amerikanische Denkschule. Das ist vor allem einem Mann zu verdanken: Mordecai Menahem Kaplan (1881 – 1983), dem späteren Begründer des Rekonstruktionismus (reconstructionism), der jüngsten Denomination im Judentum. Der in Svencionys in Litauen geborene Kaplan kam im Kindesalter mit seinen Eltern in die USA und genoss zunächst eine streng orthodoxe Erziehung. Er begann sein Studium an der Columbia University in New York und wechselte bald darauf ans renommierte Jewish Theological Seminary (JTS), wo er 1902 seine Rabbinerordination erhielt. Danach diente er einige Jahre als Rabbiner in einer der orthodoxen Gemeinden an der Upper East Side in New York, bis er 1909 ans JTS zurückkehrte und dort zum Leiter des neu gegründeten Lehrerinstituts avancierte. Bereits ein Jahr später wurde er zum Professor ernannt. Kaplan blieb über 50 Jahre mit dem JTS verbunden und prägte durch seine intensive Lehrtätigkeit Generationen von konservativen (im Sinne der Zugehörigkeit zur Denomination des conservativ judaism) Rabbinatsstudenten. In die jüdische Geschichte eingegangen ist Kaplan vor allem durch seine Vorschläge zur Erneuerung der Gemeindestruktur und weniger als Philosoph des Judentums. Ideengeschichtlich ist Kaplan gewiss ein Kind seiner Zeit, beeinflusst vom Kulturzionismus eines Achad Ha-am (1856 – 1927), dem amerikanischen Pragmatismus eines William James (1842 - 1910), der Soziologie von Emile Durkheim (1858 – 1917) und schließlich von den damaligen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Trotzdem ist er der erste amerikanisch – jüdische Denker, der eine grundlegende Neuorganisierung der jüdischen Gemeinde auf soziologischer, theologischer und nicht zuletzt philosophischer Grandlage vorgeschlagen hat. Seinen eigenständigen Weg beschritt Kaplan mit der Gründung der Society for the Advancement of Judaism (Gesellschaft für den Fortschritt des Judentums) im Jahre 1922. Der Gesellschaft folgte 1935 die Gründung der Zeitschrift Reconstructionist, die in den Folgejahren zum wichtigsten Medium für die Verbreitung von Kaplans Ansichten über die jüdische Religion wurde. Ursprünglich hoffte Kaplan, seine Reformvorschläge würden als Denkmodel in alle Denominationen des amerikanischen Judentums aufgenommen werden. Es kam jedoch anders! Der Rekonstruktionismus entwickelte sich, nicht zuletzt auch auf Drängen einiger Schüler Kaplans, zur eigenständigen Denomination im Judentum, die heute in den USA neben der Reform, den Konservativen und den orthodoxen Richtungen existiert. Im Jahre 1967 wurde die Eigenständigkeit dieser Strömung mit der Gründung des Reconstructionist Rabbinical College in Wyncote, Pennsylvania auch institutionell besiegelt. Obwohl der Rekonstruktionismus bis heute mit Abstand die kleinste Gruppe im Judentum bildet (ca. 3% der amerikanischen Juden), üben die Ideen Kaplans starken Einfluss auf liberale und konservative Rabbiner, so dass die tatsächliche Wirksamkeit von Kaplans Ideen weitaus größer einzuschätzen ist, als die rekonstruktionistische Gemeinde.[1]

   Seine Grundauffassungen legte Kaplan in seinem 1934 erschienenen Hauptwerk Judaism as a Civilisation  nieder. Mit dem darin formulierten Programm wandte er sich vor allem an jene Teile des amerikanischen Judentums, die durch diverse Herausforderungen der modernen pluralistischen Gesellschaft in einen Konflikt mit ihrem jüdischen Erbe geraten sind. In dieser Gruppe glaubte Kaplan das vitalste und meist versprechende Element im Judentum zu erblicken, von dem aus die grundsätzliche Erneuerung ausgehen könnte. Wesentlich für das Programm sei, so Kaplan, dass es aus einer umfassenden Auslegung der Gesamtheit des jüdischen Lebens erwächst. Seine Kritik an den diversen jüdischen Gruppierungen betraf genau ihre Unzulänglichkeit das Judentum in seiner Gesamtheit zu erfassen, weil sie immer nur Teilaspekte, wie: das Gesetz, die ethischen Werte oder das Volkstum hervorgehoben haben. Die Lösungsvorschläge Kaplans beruhen auf einer kulturellen Version des Judentums, nach der die jüdische Zivilisation in verschiedenem Grade in der Diaspora funktionieren kann, vorausgesetzt, sie hat ihre Heimat Palästina und behält ihren hebräischen wie ihren religiösen Charakter.[2] Damit führte Kaplan in seine Definition des Judentums einen neuen Begriff ein - die Zivilisation. Nur mit der Breite dieses Begriffs kann das Judentum in seiner Gesamtheit mit all seinen Besonderheiten erfasst werden. Unter Zivilisation verstand Kaplan, die Akkumulation von Wissen, Können, Werkzeugen, Künsten, Literaturen, Gesetzen, Religionen und Philosophien, die zwischen dem Menschen und der äußeren Natur stehen, und die als Schutzwehr gegen die feindseligen Kräfte dienen, die ihn sonst zerstören würden.[3] Jede Gruppierung von Menschen hat das Potenzial zu einer Zivilisation zu werden, wenn es nur über gewisse gemeinsame Eigenschaften, wie zum Beispiel eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Brauchtum, Verhaltensmaßstäbe, Gesellschaftsideale oder andere gemeinsame Werte verfügt. In diesem Kontext bildet das Judentum für Kaplan eine sich entwickelnde religiöse Zivilisation, deren Kern am besten durch die Geschichte der Religion ausgedrückt wird, obwohl diese nur ein Element des jüdischen Lebens darstellt. Mit der Einführung des Entwicklungsbegriffes in die Definition des Judentums hat Kaplan auf der einen Seite seinem Glauben an den menschlichen Fortschritt Ausdruck verliehen und auf der anderen die Essenz des Judentums von der metaphysischen Offenbarungsebene in die historische Realität des Volkes transferiert. Dadurch gewann auch der kulturelle Aspekt des modernen säkularen Judentums in seinem Zivilisationsmodel einen Platz. Während Judaism as a Civilisation zweifellos das wichtigste Buch für das Verstehen von Kaplans ganzheitlichen Auffassungen zur jüdischen Identität darstellt, ist vom theologischen Standpunkt aus gesehen The Meaning of God in Modern Jewish Religion von noch größerer Bedeutung.

   In diesem 1937 verfassten Buch erweist sich Kaplan nicht nur als großartiger Soziologe mit Gespür für die Erneuerung des Judentums am organisatorischen Gebiet, sondern auch als origineller theologischer Denker. Er versucht darin die wichtigsten theologischen Kategorien des traditionellen Judentums im Lichte der Moderne für das gegenwärtige jüdische Leben neu zu interpretieren. Dabei dient ihm das jüdische Jahr mit seinen Festen als Leitfaden und zugleich auch als Brücke zwischen der Welt der Vergangenheit mit den jüdischen Erinnerungen und der Welt der Gegenwart mit den alltäglichen Sorgen. Nach der Schilderung der historischen Entwicklung der traditionellen religiösen Auffassungen und ihrer genauen Prüfung, versucht Kaplan jene Elemente aus ihnen, die Antworten auf bleibende Annahmen zur menschlichen Natur geben, herauszulösen und in sein System zu integrieren. Diesen Vorgang bezeichnet er als revaluation (Wiederbewertung, Neubewertung).[4] Bevor die Neuinterpretation der Feiertage geschildert wird, muss noch darauf hingewiesen werden, dass Kaplan auch die Gottesidee einer Neubewertung unterzogen hat. An Gott zu glauben bedeutet für ihn soviel wie, an die schöpferischen Kräfte des Lebens zu glauben und den höchsten Wert des menschlichen Lebens anzuerkennen.[5] Den Glauben an einen personalisierten Gott lehnte Kaplan hingegen als unzeitgemäß strikt ab.

   Die Feiertage und Feste spiegeln die höchsten Ideale eines Volkes wieder und daher nehmen die hohen Feiertage, entsprechend ihrer Stellung im jüdischen Jahr, auch bei Kaplan einen zentralen Platz ein. Eines ihrer entscheidenden Merkmale ist, dass sie, anders als die drei Pilgerfeste (Sukkot, Pessach, Schavuot) ihren Ursprung nicht in der Volksgeschichte Israels haben, sondern den einzelnen Juden als Angehörigen der Menschheit ins Blickfeld rücken. So wird der zu Rosch ha-Schanah zum Ausdruck gebrachte Glauben an Gott als den souveränen Herrscher über die Welt, bei Kaplan zur Kraft, die zur gesellschaftlichen Erneuerung führt, umgedeutet. Unter diesen Voraussetzungen wird aus der Aufforderung, die Welt unter dem Königreich des Allmächtigen zu vervollkommnen, die Aufgabe, eine Gesellschaftsordnung zu begründen, die das Maximum an individueller Selbstverwirklichung mit dem Maximum an sozialer Zusammenarbeit verbindet.[6] Dadurch gewinnt das Neujahrsfest für Kaplan neben den traditionellen religiösen vor allem einen stark gesellschaftspolitischen Aspekt, der sich zugleich an alle Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft richtet, ob religiös oder säkular. Dabei reicht es nicht aus bei seinem Nächsten, oder bei seinem Volk stehen zu bleiben. Alle Völker müssen die Souveränität Gottes anerkennen und zur Errichtung des Reiches der Gerechtigkeit und des Friedens beitragen, denn unter Utopie verstand Kaplan keine Vorhersagen, die unvermeidlich eintreten werden, sondern ein Projekt, das nur durch aktives Zutun des Menschen verwirklicht werden kann.

   Wie Rosch ha-Schanah erfuhr auch der Jom Kippur, der Versöhnungstag, einen Bedeutungswandel in Kaplans Lehre. War es beim Neujahrstag noch die Herrschaft des Ewigen, der gedacht wird, rückt nun die Vorstellung von Sünde und Reue in den Vordergrund. Die Reue wird im Judentum mit dem Begriff Teschuvah, was wörtlich Rückkehr heißt, ausgedrückt. Während in der Vergangenheit damit die Rückkehr zum Gott Israels gemeint war, sah Kaplan in der Gegenwart ganz andere Inhalte in diesem Begriff wirksam werden. Er beobachtete den Verlust der Bedeutung des traditionellen Begriffs von Sünde im alltäglichen Leben, was zur Folge das Infragestellen der Teschuvah und damit auch die ganze Befolgung des Rituals zum Versöhnungstag hätte. Kaplan betonte deshalb die Notwendigkeit einer ethischen Neubewertung des Begriffs der Versöhnung. Hierbei soll nicht der Eindruck entstehen, Kaplan habe keinen Respekt vor der Tradition gehabt. Im Gegenteil! Traditionen erschienen ihm unverzichtbar für das Leben jeder sozialen Gruppe, denn ohne Traditionen müsste jede Generation vom Neuen die Erfahrungen der Vergangenheit wiederholen und sie wäre nicht im Stande den Vorteil der eigenen Erfahrung der Nachwelt zu übermitteln. Andererseits können Traditionen, wenn sie die Veränderungen nicht wahrnehmen und das Bedürfnis zur Erneuerung, das aus den veränderten Umständen resultiert, ignorieren, das Leben der Gesellschaft hindern und unterdrücken. In diesem Fall wird die Tradition für Kaplan selbst zur Sünde.[7] Der gottesdienstliche Ritus zu Jom Kippur hat einst die Übernahme der Verantwortung jedes einzelnen Juden für die Verunreinigung des Heiligtums und die Entfernung von Gottes Gegenwart symbolisiert, während heute jeder Einzelne die individuelle Verantwortung für die Verderbnis unserer gesellschaftlichen Institutionen und ihre Tendenz den göttlichen Wert des Lebens zu verraten, übernehmen muss. Kaplan sah in der Idee der Teschuvah die fortdauernde Erneuerung der Natur des Menschen, die einen permanenten Aspekt des menschlichen Lebens bildet. Teschuvah ist nicht ein bloßes Gefühl, das man verspürt, wenn das Bewusstwerden der Sünde uns Gewissensbisse verschafft. Sie ist ein Teil des normalen Funktionierens unserer Persönlichkeit in ihrem Bemühen um eine schrittweise Selbstverwirklichung.[8] Kaplan war schließlich überzeugt, dass das Ritual des Versöhnungstages und seine symbolische Kraft nur dann effizient sein können, wenn uns das Wahrnehmen der Sünde veranlasst unsere Persönlichkeiten im Einklang mit den höchsten ethischen Möglichkeiten der Natur des Menschen aufs Neue zu errichten. Erst dann können wir die Teschuvah, im Sinne einer Rückkehr zu Gott wirklich erfahren.



[1] So gehören Kaplans Vorschläge zur Errichtung von jüdischen Gemeindezentren in Rahmen von Synagogen heute zum amerikanisch – jüdischen Alltag. Seine neuen Ansätze im Bereich der Gemeindearbeit waren Vorläufer der in den späten 60-ern entstandenen Havurot (Gemeinschaften), die seitdem einen ungebrochenen Zustrom verzeichnen.

[2] Vgl. Kaplan, Mordecai: Judaism as a Civilisation – Toward a Reconstruction of American-Jewish Life, The Jewish Publication Society of America 1981, S. 86.

[3] S. ebenda, S. 179 (dt. Übers. nach Norbert M. Samuelson: Moderne jüdische Philosophie, Rowohlt 1995, S. 310).

[4] Vgl. Kaplan, Mordecai: The Meaning of God in modern Jewish religion, Wayne State Univ. Press 1994, S. 6.

[5] Vgl. ebenda, S. 26. Kaplan schreibt wörtl. To believe in God is to reckon with life’s creative forces, tendencies and potentialities as forming an organic unity, and as giving meaning to life by virtue of that unity.

[6] Vgl. ebenda, S. 111.

[7] Vgl. ebenda, S. 171f.

[8] Repentance is part of the normal functioning of our personality in its effort at progressive self-realization, s. ebenda, S. 182.