Die Ukraine galt seit ihrer Unabhängigkeit 1991 lange Zeit als ein Staat mit einer toleranten multi-ethnischen Gesellschaft. Auch die Regierung hob das bei verschiedenen Gelegenheiten nicht ohne Stolz hervor. Im Gegensatz zu anderen postkommunistischen Staaten schien das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen zu funktionieren. Allerdings trügt der Schein, denn es brodelte unter der scheinbar so friedlichen gesellschaftlichen Oberfläche. Seit den 90er Jahren machen sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus immer deutlicher bemerkbar. Besonders in den letzten beiden Jahren häuften sich bedenkliche Berichte - auch in internationalen Zeitungen - über antisemitisch und rassistisch motivierte Straftaten. Diese erreichten 2006 ihren bisherigen Höhepunkt. Die Gewalt richtet sich vor allem gegen Roma und Juden, immer häufiger kommt es auch zu Übergriffen gegen Flüchtlinge sowie Migranten aus Afrika und Asien. Judenfeindliche Vorfälle reichen von Gewalt gegen jüdische Personen bis hin zu Vandalismus von Holocaustdenkmälern, Synagogen, Friedhöfen und kulturellen Zentren. Die Polizei tut diese Vorfälle in vielen Fällen als Tat von Hooligans oder als simplen Vandalismusakt ohne erkennbaren politischen Hintergrund ab. Nur seltenen werden die Täter ausgeforscht, und noch seltener von einem Gericht verurteilt.
Brodsky Shul, Kiev, © Wikipedia
Schon mehrmals bekannte sich die Regierung demonstrativ zu einer multikulturellen Gesellschaft. Sie versucht mit Gesetzen gegen derartige Vorfälle vorzugehen. Im April 2007 reagierte der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko auf den Anstieg von Vandalismus in den letzten Jahren. Er forderte Staatsanwaltschaft, Polizei und Innenministerinnen auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Täter wirkungsvoller zu verfolgen.
Doch das Land sieht sich im Moment mit einer Fülle von Problemen konfrontiert. Vor allem politische Krisen, instabile Regierungskoalitionen und das Stocken des wirtschaftlichen Booms der letzten Jahre stellen die Ukraine vor große Herausforderungen. Die Bekämpfung der Korruption ist ebenso notwendig wie der Aufbau einer unabhängigen Justiz und freier Medien. Auch der niedrige allgemeine Lebensstandard trägt zur Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung bei und ist ein Nährboden für extremistische Gruppierungen im Land.
Antijüdische Wahlkampfparolen und Appelle an eine multikulturelle Gesellschaft Im März 2006 wurde Eduard Gurvitz abermals zum Bürgermeister der Stadt Odessa gewählt – er ist einer von vier jüdischen Kandidaten, die sich bei den letzten Kommunalwahlen durchsetzen konnten. Geboren in der ukrainischen Stadt Mogilyov-Podolskiy ging Eduard Gurvitz nach Leningrad, um dort Maschinenbau zu studieren. Im Alter von 29 Jahren kam er nach Odessa und wurde einer der ersten freien Unternehmer während der wirtschaftlichen Öffnung der Gorbatschow-Ära in den späten 80ern. Sein Weg führte ihn 1990 in die Politik, und es begann eine Kariere mit Höhen und Tiefen. Bei den Wahlen 1994 erlangte Eduard Gurvitz einen Sitz im ukrainischen Parlament und gewann im selben Jahr die Bürgermeisterwahl in Odessa. Vier Jahre später wurde ein politischer Herausforderer zum Bürgermeister erklärt, obwohl Gurvitz mehr Stimmen erreicht hatte. Das gleiche passierte auch bei den Wahlen 2002. Erst durch ein Gerichtsurteil wurde das Ergebnis revidiert.
Auf seine jüdischen Wurzeln angesprochen, meinte Eduard Gurvitz in einem Interview für „Jewish & Israel News"1, dass er zwar stolz darauf sei, sich aber in erster Linie als Politiker fühle: „Jude ist meine Nationalität, nicht mein Beruf. (..) Ich bin ethnischer Jude und Atheist". Gurvitz klingt wie die meisten Ukrainer, die während des Kommunismus in der Ukraine aufgewachsen sind. Er weist aber nicht ohne Stoz darauf hin, dass er seinen jüdischen Hintergrund nie verleugnet habe, um seiner Kariere nicht zu schaden. Im Gegenteil: „Mein ganzes Leben war ich Jude, und „Jude" stand auch in meinem Pass!" – gemeint ist die berüchtigte fünfte Zeile des Ausweises, in der die ethnische Identität einzutragen war.
Babij Jar: Kinderdenkmal, © Wikipedia
Es ist wie Eduard Gurvitz sagt, er ist ein Bürgermeister wie jeder andere auch. Er wurde als Person gewählt, nicht, weil er Jude ist. Gurvitz ist kein besonders religiöser Mensch und legt auch keinen Wert darauf, eine aktive Rolle im jüdischen Gemeindeleben seiner Stadt zu spielen. Dennoch ist es allein auf seinen Einsatz und seine Unterstützung zurückzuführen, dass ein jüdisches Waisenhaus in Odessa errichtet werden konnte. Auch Avraham Wolff, Chefrabbiner von Odessa, würdigt sein Engagement: „Er ist keine religiöse Person, aber er tut was er kann, um der Gemeinde zu helfen" Wenn man die judenfeindliche Stimmung innerhalb der ukrainischen Bevölkerung bedenkt, die in Wahlkämpfen noch geschürt wird, ist es nicht selbstverständlich, dass sich ein jüdischer Kandidat durchsetzen kann. Vor allem durch nationalistische Parteien flossen bei den Wahlen der letzten Jahre wiederholt judenfeindliche Parolen und Weltverschwörungstheorien ein. So wurden vor den Bürgermeisterwahlen 1994 Flugblätter verteilt, in denen die Bürger in Odessa aufgerufen wurden, gegen die „zionistische Übermacht" zu kämpfen. Bei den Regionalwahlen 2004 wurden Plakate eines Kandidaten, der Eduard Gurvitz nahe steht, mit Hakenkreuzen und Davidsternen verunstaltet. Der Hinweis auf die „Herkunft" eines Kandidaten – Jude oder Ukrainer – ist ein weiteres oft gebrauchtes Mittel. Nationalistische Parteien wie die Ukrainisch Konservative Partei (UKRP) und die Ukrainisch Nationale Versammlung – Ukrainisch Nationale Selbstverteidigung (UNA-UNSO) stellen „Russen" und „Zionisten" als Gefahr für den Staat dar. Mitunter wird vor einer zionistischen Weltherrschaft gewarnt, in der die Ukraine ein wichtiges Element sei. (Jüdische Oligarchen würden systematisch die Wirtschaft und das ganze Land zerstören.) Um dieser Gefahr entgegen zu treten sei es unerlässlich, „Ukrainer" in allen politischen Strukturen vorzuziehen und Aktivitäten jüdischer Organisationen im Land zu verbieten. Der Ausgang der Wahlen in Odessa und anderen Städten zeigt, dass der Großteil der Bevölkerung nicht bereit ist, offenen Antisemitismus und extremen Nationalismus zu unterstützen. Politischer Antisemitismus ist in der Ukraine eher eine Randerscheinung, dennoch können sich einzelne Politiker, die judenfeindliche Ansichten vertreten durchsetzen und einen Parlamentssitz gewinnen. Grund dafür ist unter anderem, dass rechte Parteien Teil von Wahlblöcken sind – auch von Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko. Im anhaltenden Wahlkampfdruck werden rechte bzw. nationalistische Kräfte integriert und zur Mobilisierung genutzt. Nationalistische Gruppierungen bauen auf der seit der Unabhängigkeit des Landes immer stärker werdenden fremdenfeindlichen Einstellung auf. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen in einem Zusammenwirken von Transformationsproblemen und der totalitären Vergangenheit des Landes. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem Ende der Sowjetzeit verstärkten die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern und führten zu Verunsicherung und generellem Misstrauen gegenüber dem Staat. Für rechte und nationalistische Parteien ist es ein Leichtes, auf diesen Ängsten aufzubauen und sie zu schüren. Die jeweilige ukrainische Regierung versuchte diesen Tendenzen entgegenzuwirken und betonte, dass die Ukraine das Heimatland all seiner Völker sei, ungeachtet ethnischer Wurzeln, Rasse oder Religion. Doch die offizielle Linie eines toleranten multiethnischen Staates trägt dazu bei, vor der Tragweite des Problems die Augen zu verschießen. Die führenden Politiker des Landes sprachen sich wiederholt gegen Judenfeindschaft aus. Weiters wurden Gesetze erlassen, die Minderheiten einen gewissen Schutz bieten sollen, wie auch gegen Rassismus und Formen der Diskriminierung. Die Gesetze allein sind aber nicht ausreichend. Ein wesentliches Problem ist, dass nur wenige rassistisch motivierte Straftaten überhaupt als solche angezeigt bzw. als solche verfolgt werden. MAUP: Die private Hochschule warnt vor den Juden Im großen und ganzen waren Ende der 90er Jahre antisemitische Artikel keine überdurchschnittlich häufige Erscheinung in ukrainischen Massenmedien. Es tauchten vereinzelt Artikel mit Vorurteilen und antijüdischen Inhalten in kleineren, auflageschwächeren Zeitungen auf. Ab dem Jahr 2002 war allerdings ein merklicher Anstieg judenfeindlicher Berichte zu verzeichnen. In den Jahren 2005 und 2006 wurden laut jährlichem Antisemitismusbericht des Stephan Roth Instituts über 600 judenfeindliche Artikel in Zeitungen gezählt (2006 auch in Zusammenhang mit den Parlamentswahlen)2. Verantwortlich dafür zeigte sich vor allem die Interregionale Akademie für Personalführung", besser bekannt unter ihrer ukrainischen Abkürzung „MAUP" – eine private Hochschule mit Niederlassungen in mehreren Städten des Landes. Gegenwärtig sind etwa 85% der antisemitischen Publikationen auf dieses Institut zurückzuführen. MAUP bringt zwei auflagestarke Magazine namens „Personal" und „Personal Plus" heraus, in denen seit einigen Jahren eine Reihe offen antisemitischen Beiträgen veröffentlicht wurde. Besonders die Artikel des MAUP Direktors Georgy Tschokin, der gleichzeitig an der Spitze der ultrarechten Ukrainischen Konservativen Partei steht, sind inhaltlich so fragwürdig wie provokant. In vielen Publikationen des Instituts wird zur Bekämpfung des Zionismus aufgerufen, der eine dem Nationalsozialismus gleichwertige Bedrohung darstelle. „Zionismus als größte Bedrohung der modernen Zivilisation" war der Titel eines eintätigen Seminars. Als Gastredner wurde David Duke, ehemals führendes Mitglied des Ku Klux Klan, geladen. David Duke leitet im MAUP auch Kurse im Bereich Geschichte und internationale Beziehungen. Außerdem hat die Hochschule Verbindungen zu Antisemiten aus Russland, dem Westen und dem Mittleren Osten. Finanzielle Unterstützung erhält MAUP aus arabischen Ländern, zu denen die Hochschule sehr enge Kontakte pflegt. Im Jahr 2004 wurde im Magazin Personal Plus ein offener Brief an Präsident Viktor Juschtschenko abgedruckt: Die Autoren appellierten für eine parlamentarische Untersuchung „der kriminellen Aktivitäten des organisierten Judentums in der Ukraine". Der Brief trug die Unterschrift von mehr als hundert bekannten Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Politik. Die Aktivitäten von MAUP wurden von jüdischen Organisationen rund um die Welt wie auch von Menschenrechtsorganisationen vehement kritisiert und ein Vorgehen gefordert – bisher ohne großen Erfolg. Die ukrainische Regierung, allen voran Präsident Viktor Juschtschenko, verurteilten antisemitische Aussagen und Aktivitäten des Instituts wiederholt. Bei einer Gedenkveranstaltung im September 2006 versprach Viktor Juschtschenko gegen ethnischen und religiösen Hass in der Ukraine vorzugehen: „Wie alle Ukrainer weigere ich mich, die kleinste Manifestation von Xenophobie und Antisemitismus zu akzeptieren und zu tolerieren."3 Als erste entschlossene Reaktion der ukrainischen Politik kann die Schließung regionaler MAUP Zentren gesehen werden. Die Suche nach den Wurzeln der ukrainischen Nation Seit die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, blickte man im Land auch intensiv auf die eigene wechselvolle Vergangenheit zurück. Es gab Blütezeiten wie das Großreich „Kiewer Rus", das als Wiege des heutigen ukrainischen Staates gilt. Über lange Zeit hinweg war das Gebiet der heutigen Ukraine aber Teil eines größeren Territoriums (Königreich Polen-Litauen, Sowjetunion) oder gar aufgeteilt auf verschiedene Reiche (Österreich, Polen, Russland). Ein eigener Nationalstaat war die Ukraine vor der Loslösung von der Sowjetunion nur für zwei relativ kurze Perioden im 17. Jahrhundert und nach der Russischen Revolution. In beiden Fällen scheiterte die Unabhängigkeit des Landes an den Interessen anderer Staaten wie Polen, Deutschland und vor allem Russland, wie auch an mangelnder Geschlossenheit der Bevölkerung. Das Schicksal der Minderheiten im Land war stets eng mit der Geschichte des ukrainischen Volkes verbunden. Die im 9. Jahrhundert um Kiew errichtete „Kiewer Rus", wie auch im 16. Jahrhundert die polnisch-litauische Herrschaft, bedeuteten für die jüdische Bevölkerung Zeiten der Freiheit und der kulturellen wie auch politischen Mitbestimmung. Aus jüdischer Sicht galt Kiew lange als das „Jerusalem des Ostens". Im Königreich Polen-Litauen kam es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer Welle jüdischer Emigration von Polen in die Ukraine, nach Wolhynien und Podolien, sodass nicht ganz die Hälfte der gesamten jüdischen Bevölkerung des Königreichs Polen in der Ukraine lebte. In dieser Zeit genossen die Juden weitgehende Autonomie. Es war ihnen erlaubt, Land zu besitzen wie auch Handel zu betreiben. Von Großgrundbesitzern wurden sie als Pächter der Güter eingesetzt. Die jüdischen Bewohner hatte damit eine wichtige Position innerhalb der Gesellschaft inne. Von den „Ukrainern" war erstmals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rede, als die ukrainische Sprache, eigene Sagen, Mythen und Lieder „entdeckt" wurden. Es war der Beginn vom Traum eines eigenen Staates. Die Nationalbewegung, die sich nun entwickelte, konnte dieses Ziel allerdings nicht erreichen. Es war ausgerechnet Josef Stalin, der die kulturell in eine Ost- und Westukraine geteilte Bevölkerung erstmals vereinte. Das bedeutete aber auch das Ende einer eigenen Kultur: Die ukrainische Sprache war verboten, das Gebiet nur mehr eine der Provinzen der Sowjetunion. Als die Unterdrückung 1991 endete, trat ein neues Nationalbewusstsein umso stärker hervor. Die seitdem stattfindende Rückbesinnung auf Symbole und Identifikationsfiguren der nationalen Vergangenheit tragen zu einer kollektiven Identität bei. Auf der neu eingeführten Währung sind nationale Heldengestalten wie Bogdan Chmielnizki abgedruckt. Er führte den Kosakenaufstand von 1648 an, der zur Gründung des Kosaken-Hetmanats im Gebiet der heutigen Ukraine führte - eine Erinnerung, die für die jüdische Bevölkerung des Landes sehr schmerzlich ist. Die Kämpfe der Kosaken waren begleitet von Pogromen und der Zerstörung zahlreicher Synagogen, Schulen und Bibliotheken. Im Prozess der kollektiven Identitätsfindung spielt die ethnische Herkunft für einen Großteil der Ukrainer eine wesentliche Rolle. Das Land leidet unter bisher ungelösten sprachlichen, religiösen und ethnischen Konflikten, die im Moment noch nicht als akut zu bezeichnen sind. Die Kombination dieser Faktoren bildet aber eine gefährliche Grundlage für Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. In jedem Fall sind Minderheiten, die teilweise abweichende historische Blickwinkel haben, ein störender gesellschaftlicher Faktor. Vor allem verhindern ein verklärter Blick in die Vergangenheit und die Überhöhung der eigenen Nation eine kritische Auseinandersetzung mit vergangenen Ereignissen. In der Ukraine findet Vergangenheitsbewältigung nur zaghaft statt. Verbrechen des Zweiten Weltkriegs – die Kooperation mit deutschen und rumänischen Faschisten – sowie die stalinistischen Verbrechen sind kaum aufgearbeitet. Letztlich wurde die Beschäftigung mit dem Holocaust im Lehrplan von Schulen und Universitäten vom Bildungsministerium verpflichtend festgelegt. Symbolisch für die Schrecken des Holocaust in der Ukraine steht „Babij Jar". Die „Großmütterchenschlucht", wie der Name übersetzt heißt, wurde im September 1941 zum Schauplatz eines der Verbrechen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg: Die jüdische Bevölkerung von Kiew war teilweise vor dem Einmarsch der Wehrmacht geflohen, etwa 50.000 waren zurückgeblieben, vorwiegend ältere Männer, Frauen und Kinder. Unter der Vorspiegelung, dass sie registriert bzw. zum Arbeitsdienst in andere Gebiete gebracht werden sollten, wurden an die 30.000 jüdischen Personen am 29. September 1941 in den Straßen Kiews versammelt. In Lastwägen wurden sie in die Schlucht nahe Kiew, nach Babij Jar, gebracht und dort sofort ermordet. Der Massenmord dauerte insgesamt fünf Tage und forderte nicht nur jüdische Opfer. In der Sowjetzeit bemühte sich das kommunistische Regime, die Erinnerung an die Tragödie von Babij Jahr loszuwerden. Zuerst sollte die Schlucht mit Sand zugeschüttet werden, 1959 gab es Pläne für eine Sportstätte. 1961 verfasste Jewgeni Jewtuschenko sein Gedicht „Babij Jar", das genau aus diesem Grund mit dem Vers: „Es steht kein Denkmal in Babij Jar" beginnt. Das Gedicht hinterließ einen tiefen Eindruck: Dimitri Schostakowitsch verwendete die Verse in den Chorsätzen seiner 13. Symphonie. Das Sowjetregime und Chruschtschow waren vom Gedicht verständlicherweise weniger angetan. Mittlerweile erinnern drei Denkmäler in Babij Jar an die Ereignisse im September 1941. Eines davon ist das Kinderdenkmal: Drei Bronzefiguren sitzen auf einem Marmorsockel, symbolische Nachbildungen der Spielsachen, die von den Kindern eingesammelt wurden. Der herausgeschnittene Teil im Marmor steht dafür, dass durch den Tod der Kinder etwas verloren ging, was niemals ersetzt werden kann. Ein filmisches Denkmal setzte Artur Brauner den Ereignissen in Babij Jar durch seinen gleichnamigen Film. Erzählt wird die Geschichte der ukrainischen Familie Onufrienko und der jüdischen Familie Lerner, die seit über 20 Jahren befreundet sind und Tür an Tür am Stadtrand von Kiew wohnen. Der Film zeigt in schonungsloser und gleichzeitig sensibler Weise das Schicksal der betroffenen Menschen nach dem Einmarsch der deutschen Armee. Jüdische Gemeinden im Aufbau Golda Meir, 1969-74 Ministerpräsidentin des Staates Israel, Simon Wiesenthal, der Schriftsteller Joseph Roth wie auch der Nobelpreisträger und hebräische Schriftsteller Samuel Josef Agnon, diese bekannten Persönlichkeiten wurden in der Ukraine geboren und sind für die jüdische Geschichte des Landes unvergesslich. Die heute in der Ukraine lebende jüdische Bevölkerung bildet den Rest einer einst sehr großen Gemeinde. Das jüdische Leben blühte und viele Städte beherbergten bedeutende religiöse Zentren. Unter dem kommunistischen Regime wurden - wie in allen Teilen der Sowjetunion - das jüdische Leben und seine Kultur unterdrückt. Die zahlenmäßig stark verkleinerte Gemeinde kämpft heute vor allem mit zwei Problemen: einerseits mit dem hohen Alter der Mitglieder und andererseits mit der Abwanderung von durchschnittlich 40.000 Personen jährlich. Grund für die Emigration ist in erster Linie die schlechte ökonomische und soziale Situation im Land. Trotzdem, oder gerade deshalb, wurden seit der Unabhängigkeit in der Ukraine mit viel Engagement neue Strukturen aufgebaut. In den letzten Jahren etablierten sich viele jüdische Organisationen, die seitdem eine Reihe von Aktivitäten organisieren und durch soziale Leistungen wie beispielsweise die Einrichtung von Suppenküchen den Ärmsten helfen. In 45 Städten der Ukraine gibt es jüdische Schulen und an der Internationalen Solomon Universität in Kiew existiert wieder eine Abteilung für jüdische Kultur und Geschichte. Das jüdische Leben wird außerdem durch verschiedene jüdische Zeitschriften und Magazinen, das jiddische Fernsehprogramm „Yahad" und zahlreiche kulturelle - und Bildungsangebote bereichert. Nach der realsozialistischen Zeit musste zunächst eine neue Infrastruktur geschaffen werden. Das ukrainische Parlament beschloss 1992 ein Gesetz, wonach das unter dem sowjetischen Regime konfiszierte Eigentum an religiöse Gemeinschaften zurückgegeben werden musste. In den folgenden Jahren wurden aufgrund dieses Gesetzes größere und kleinere Synagogen restituiert. Außerdem erhielten die jüdischen Gemeinden der Ukraine einige Gebäude als Ersatz für zerstörte Synagogen. Dennoch gestalteten sich die Verhandlungen um das ehemalige jüdische Eigenturm in vielen Fällen als schwierig und langwierig, wie man am Beispiel der Großen Synagoge in Kiew sieht. Die Brodsky Shul, wie die Synagoge nach ihrem Erbauer auch heißt, wurde 1926 konfisziert und diente anschließend als Klub für Künstler und als Puppentheater. Während der NS-Besetzung nützte die Armee das ehemalige Gotteshaus als Stall für ihre Pferde. Die Verhandlungen über die Rückgabe der Synagoge an die jüdische Gemeinde der Stadt zogen sich über beinahe sechs Jahre hin, da sich die Besitzer des Puppentheaters weigerten, das Gebäude freizugeben. 1997 konnte schließlich mit der Renovierung des aufgrund der Zweckentfremdung stark beschädigten Gebäudes begonnen werden. Dank finanzieller Unterstützer privater Großspender wurde die Große Synagoge im Jahr 2000 in ihrer ursprünglichen Funktion wieder eingeweiht und ist seitdem wieder ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in der Hauptstadt der Ukraine. Im Alltag sehen sich viele Juden mit einer Fülle an Vorurteilen konfrontiert. Ressentiments und Vorbehalte gehen vielfach auf die Sowjetzeit zurück, vor allem der Vorwurf, Juden hätten mit dem kommunistischen Regime kollaboriert und sich daran bereichert. Dennoch blickt vor allem die junge jüdische Generation mit viel Optimismus in die Zukunft. Sie glaubten an das Funktionieren der demokratischen Strukturen und hofften auf eine Annäherung an Europa, von der sie sich auch allgemein mehr Toleranz und Offenheit erwartet. Literaturhinweise:
Matthias Messmer: Sowjetischer und postkommunistischer Antisemitismus. Entwicklungen in Russland, der Ukraine und Litauen, Konstanz 1997
European Commission against Racism and Intolerance (ECRI): Third Report on Ukraine (Juni 2007), CRI (2008)4
http://www.coe.int/t/e/human_rights/ecri/
Ukraine- Analysen 41/08
http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/2008/UkraineAnalysen41.pdf
Stephan Roth Institut: Country Reports 1997-2006
http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/CR.htm
Dietrich Geyer: Die Erfindung der Ukraine. Warum Kiew und das Land am Dnjepr zu Europa gehören, Die Zeit, 24/2000
http://www.zeit.de/2000/24/Die_Erfindung_der_Ukraine
1 Das gesamte Interview in englischer Sprache: Vladimir Matveyev „Ukrain’s ,Jewish city’ has a Jewish Mayor", The Federation of Jewish Communities of the CIS, (http://www.fjc.ru/news/newsArticle.asp?AID=419872)
2 Stephan Roth Institute: Annual Reports. Republic of Ukraine 2005/2006 (http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/asw2006/ukraine.htm)
3 zitiert nach: ADL (3. Nov 2006) „Ukraine University of Hate. A backgrounder on MAUP" (www.adl.org/main_Anti_Semitism_International/maup_ukraine.htm)