Im Zuge der Transformation des osteuropäischen Judentums und   der zunehmenden Emigration in die westlichen Länder wurden Anfang des 20.   Jahrhunderts Wien und Berlin zu Dreh- und Angelpunkten verschiedener Strömungen.   Aufklärung, Chassidismus, Zionismus, Sozialismus, Assimilation und Akkulturation   stehen für die unterschiedlichen Wege jüdischer Identität in jener Zeit. Die   chassidische Volksbewegung wurde in dieser Zeit wiederholt von eher säkularen   jüdischen Denkern wie Martin Buber (1878–1965) herangezogen, als Modell um dem   »Westjudentum« neue Impulse zu geben. Buber war einer der ersten, die das   verschüttete chassidische Glaubensgut ausgruben und der westlichen Welt   zugänglich machten. Seine frühen chassidischen Nacherzählungen, Die   Geschichten des Rabbi Nachman (entstanden 1904/05) und Die Legende des   Baal Schem (entstanden 1905/06) waren erfolgreiche Versuche, das allgemeine   Bild des »Ostjuden« zu revidieren.1   Die Wirkung dieser Texte auf die jüdischen und nicht-jüdischen Leser kann gar   nicht hoch genug bewertet werden. Die Konfrontation mit den jüdischen   Flüchtlingsmassen aus Osteuropa bedeutete für viele moderne „westliche" Juden in   Städten wie Wien oder Berlin einen Schock. Sie sahen ihre eigene so hart   erkämpfte Gleichberechtigung und gesellschaftliche Stellung, die ohnehin stets   bedroht war, durch die »abgerissenen Ghettojuden« gefährdet.2 Entgegen der mitunter sehr verächtlichen   Haltung der westeuropäischen jüdischen »assimilierten Krawattenjuden« gegenüber   den osteuropäischen jüdischen traditionellen »Kaftanjuden« entstand vor allem in   der zionistischen Jugend eine undifferenzierte Verehrung alles »Ostjüdischen«.   Die vermeintlich ganzheitliche Welt des Ostjudentums wurde für viele Jugendliche   aus assimiliertem »westjüdischem« Haus zum idealisierten Zufluchtsort. Sie sahen   in den osteuropäischen Juden ein ursprüngliches Judentum, was zu einer   sentimental-romantischen Verklärung und Idealisierung des „Ostjudentums" führte.   Die satirischen Werke von Karl Kraus oder die Programme der jüdischen Kabaretts   jener Zeit spiegeln diese Auseinandersetzungen: So parodierte Maxim Sakaschansky   in seinem Berliner Kabarett »Kaftan« – dem einzigen jiddischsprachigen Kabarett   Berlins – erfolgreich die Kämpfe zwischen »West« und »Ost«.3 Nathan Birnbaum (1864–1937) führte das   Begriffspaar »Westjude« und »Ostjude« als erster in die publizistischen   Kontroversen ein. Er hatte sich bereits Jahre vor Bubers Kampf für eine jüdische   Renaissance darum bemüht aufzuzeigen, dass die osteuropäische jüdische Kultur   wichtige Impulse für ein geistiges Erwachen des westeuropäischen Judentums geben   könnte. Gerade sein Einsatz und glühendes Engagement für Sprache und Literatur   des osteuropäischen Judentums ist erwähnenswert. Dies kann man in Birnbaums   Artikel „Sprachadel" sehen, den er in der von Julius Kaufmann herausgegebenen   Zeitschrift »Die Freistatt« veröffentlicht hatte. »Wann werden sie endlich zu   	verstehen anfangen, daß, wenn es überhaupt noch eine Hilfe für das jüdische   	Volk gibt, diese nur von jenen neun Millionen Ostjuden kommen kann, die   	nicht blutarm und nicht verschlafen und nicht exotisch, die keine entjudeten   	Europäer und keine welken Orientalen, sondern einfach lebende Juden sind,   	denen das Leben, das jüdische Leben aus Worten und Taten sprießt und   	spritzt. «4 Neben der nur kurzlebigen »Freistatt« (die   Zeitschrift erschien nur zwischen April 1913 und 1914) war es vor allem die   programmatische Monatsschrift »Ost und West« (1901–1923), die sich diesen   kulturellen Fragen widmete. Gleich im ersten Heft veröffentlichte hier Martin   Buber seinen programmatischen Essay »Jüdische Renaissance«. Jedoch darf man   nicht übersehen, dass Micha Berdyczewski (= Micha Josef Bin Gorion, 1865–1921)   für Bubers Sichtweisen der »Jüdischen Renaissance« von entscheidendem Einfluss   gewesen ist. Der junge Gershom Scholem schrieb in seinem Tagebuch von 1916: »Ich las den Berdyczewski zu Ende,   	was in manchen Teilen sehr schön ist, in anderen, z. B. dem letzten Aufsatz   	Verneinung des Bestehenden mich dagegen durchaus nicht erfreut hat. Es zeigt   	aber, daß im Ostjudentum der Chassidismus vor Buber ›modern‹ gewesen ist,   	denn das Buch ist 1901 erschienen; es scheint mir, als ob bei Buber der   	Einfluß Berdyczewskis in seinen chassidischen Schriften zu verspüren ist,   	sie scheinen sich dann später gegenseitig beeinflußt zu haben. Berdyczewski   	ist aber offenbar bedeutend älter.«5 Buber wie auch Berdyczewski bedienten sich dabei zunächst der   Lebensphilosophie Nietzsches, und bei beiden spielt der Chassidismus eine   entscheidende Rolle. Verbunden sind beide Denker auch durch die Theorie, dass   Mythen, Legenden und Volkserzählungen den Schlüssel zur wahren Geschichte   enthalten. Diese würden Traditionen bewahren, die vom rabbinischen Judentum,   aber auch von den Autoren der jüdischen Philosophie und Aufklärung (Haskala)   unterdrückt worden seien. In seinem Sefer Chassidim (Warschau 1900) wurde   Berdyczewski zum begeisterten »Entdecker des Chassidismus« und sieht in ihm eine   revolutionäre Bewegung gegen die erstarrte Orthodoxie. Später trennte er sich   jedoch von dieser Begeisterung. Nurit Govrin beschreibt diesen Wandel in Berdyczewskis   Haltung zum Chassidismus. Die unterschiedlichen Richtungen und seltsamen   Ausformungen des Chassidismus im 19. Jahrhundert hätten ihn enttäuscht.6 Berdyczewski sah im Chassidismus keine   wirkliche Lösung für die gesellschaftlichen Verhältnisse des Ostjudentums. Zu   seiner unterschiedlichen Sichtweise hat er selbst gesagt: »Und wenn der Schleier fällt,   	untersucht und analysiert er wieder, auch, wo er früher nur bewunderte. Er   	nimmt jedes Buch, jede Schriftrolle, in welchen er einmal Freiheit und   	Erlösung gesucht hatte und liest sie wieder.«7 Seine frühe Chassidismus-Verklärung war eine   Denkweise, die von Buber teilweise aufgenommen wurde, wie folgende Passage von   Berdyczewski belegt: »Wie Lichtstrahlen leuchten wir von   	der Ferne, aus den Tagen, in denen die Seele des Chassidismus noch lebendig   	war [...] und das Leben voll schrecklicher Pracht, eine Welt voll sich   	erneuerndem Licht, das die Dunkelheit, die zwischen mir und meiner Seele und   	meinem Vater im Himmel trennte, beiseite wälzte und leuchtete. Und ich hörte   	das Echo eines heiligen himmlischen Gesanges, und als dies heilige Echo   	meine Ohren erreichte, als die göttliche Pracht, die von den Seelen der   	Chassidim strahlte, sich mir ganz enthüllte, da war ich in meinen Augen wie   	einer, der unter diese Hellsichtigen gefallen war und es [...] entfuhr dort   	meinem Herzen: Oh Herr der Welt, lass mich an ihnen Anteil haben.«8 1906 schrieb Buber an Hugo von Hofmannsthal: »Berdyczewskis hebräisches Büchlein   	enthält mehrere lyrische Skizzen, die die chassidischen Probleme sehr fein,   	aber mehr stimmungshaft als psychologisch behandeln; das Beste ist die   	Einleitung, die das persönliche Verhältnis des Verfassers darstellt: wie er   	zurückgekehrt ist und sich in der Seele der Chassidim gefunden hat. Den   	Büchern habe ich eigentlich nichts zu verdanken, wohl aber persönlichen   	Mitteilungen und Anregungen, namentlich Berdyczewskis.«9 Im Vorwort zu seinen gesammelten   wissenschaftlichen Schriften, das er in seinem Todesjahr verfasst hatte,   bemerkte Berdyczewski mit Bedauern: »Visionen gehören zur Jugend und   	meine Gedanken heute sind nicht wie damals. Um die Wahrheit zu sagen suchte   	ich im Chassidismus nicht die Schätze der Religion, sondern es überkam mich   	ein lyrischer Traum, und ich suchte für meine Gedankenwelt ein religiöses   	Gewand. Mein Geist war beflügelt und ich wollte das Weite durch Überwindung   	der Grenzen finden.«10 Der Wandel zeigt sich auch in Erzählungen wie Die Pause von 1902: »Berdyczewski beschreibt das Milieu   	seines Elternhauses und seiner Jugend, um zu zeigen, dass der Chassidismus   	keine Erlösung für den Einzelnen und die Gemeinschaft bringen kann. Er   	könnte allenfalls eine kurzfristige Erleichterung bringen, jedoch ist nicht   	sicher, was besser ist: die bestehende Misere andauern zu lassen oder ein   	kurzfristiges Erwachen mit dem Ausbruch starker Gefühle, welches am Ende zu   	nichts führt und mit der Rückkehr ins armselige Alltagsleben endet. Nachdem   	starke Gefühle geweckt wurden und man den Geschmack des wirklichen Lebens   	und der unterdrückten Triebe gekostet hat, kehren alle zum schrecklichen   	Alltag zurück. [...] Der Chassidismus kann die Triebe wecken, aber nicht die   	Lage verändern.«11 Berdyczewski selbst war in Miedzybóz   geboren, jener Stadt, in der rund 100 Jahre zuvor Israel ben Elieser   (1700-1760), der legendäre Begründer des modernen Chassidismus, als ein »Ba’al   Schem Tov« gewirkt hatte. Die Arbeit als »Ba’al Schem« besagte, dass Israel ben   Elieser ein Kenner der praktischen Kabbala war, der mit Gottesnamen durch   Amulette und Handauflegen in Verbindung mit Naturmedizin Menschen heilte.   Berdyczewski hatte familiäre Wurzeln in dieser Welt der Chassidim. Generationen   vor ihm waren allesamt Rabbiner gewesen. Aber er war der Erste, der diese   »goldene Kette« der Tradition durchbrach. In Breslau, Berlin und Bern studierte er vor allem   Philosophie und schloss 1896 sein Studium mit einer Dissertation über den   »Zusammenhang zwischen Ethik und Philosophie« ab. In Berlin lernte er 1899 auch   Rachel Ramberg kennen, die er 1902 heiratete. Dank ihrer Tätigkeit als   Zahnärztin im Armenviertel von Breslau konnte sie seine schriftstellerische   Arbeit unterstützen. Gemeinsam zogen sie 1911 wieder nach Berlin. »Zwei Jahre vor seinem Tode   	erreichte ihn die Unglücksbotschaft von den Pogromen der Bürgerkriegszeit in   	der Ukraine, der die gesamte Bevölkerung des Städtchens Dubowa [...] mit   	seinem greisen Vater, dem 75jährigen Rabbi Mose Aaron Berdyczewski, zum   	Opfer gefallen waren [...] und zermalmte ihn. Seine Kraft war schon vorher   	von Arbeit und Entbehrungen aufgezehrt gewesen, und den Schlag überlebte er   	nicht. Er starb am 18. November 1921 und ist auf dem Friedhof zu   	Berlin-Weißensee begraben.«12 Berdyczewski benutzte auch verschiedene Pseudonyme, aber am   bekanntesten ist sein Wechsel von Berdyczewski zu »bin Gorion«, da er die   wissenschaftlichen Studien von den Arbeiten des Dichters Berdyczewski trennen   wollte. Als Berdyczewski nach dem Ersten Weltkrieg deutscher   Staatsbürger würde, änderte er auch offiziell seinen Namen zu »bin Gorion«. Aber   diese zwei Seiten – Dichter und Wissenschaftler – sind miteinander verwoben und   verbunden. Da er glaubte, dass die Legenden den Schlüssel zur wahren Geschichte   enthalten, entwarf er eine Gegengeschichte, die er für authentischer hielt als   die »offiziellen« Versionen. Er bürstete die Geschichten der Hebräischen Bibel,   aber auch des Neuen Testaments gegen den Strich und schrieb eine »neue   Geschichte«. So stellte er beispielsweise Moses mit dem Bund am Sinai, der Stadt   Jerusalem und dem Stamm Juda als Träger der »offiziellen« Tradition Josua, den   Bund am Garizim, die Stadt Schechem und die Samaritaner als »unterirdische«   Tradition gegenüber. Bei seinen Schilderungen fällt seine Vorliebe für die   physischen und kraftvollen Bilder auf. So besiegte Josua die Amalekiter, während   Moses’ Hände schwach wurden. Die Samaritaner und ihr Heiligtum in Schechem   hielten zu Israel, während Juda ins babylonische Exil zog und danach die   Rückkehr nach Jerusalem anstrebte. In diesen Gegengeschichten spüren wir seine Hinwendung zu   Nietzsche und eine Umwertung der Werte, die die physischen Kräfte gegenüber den   geistigen Forderungen betont. Sehr deutlich formuliert Berdyczewski dies in seinem Werk  Sinai und Garizim, über den Ursprung der israelitischen Religion, das von   Rachel und Emanuel bin Gorion posthum in Berlin veröffentlicht wurde.   Berdyczewski hatte es bereits 1904 konzipiert und sieben Jahre lang daran   gearbeitet. Da er, wie er in der Einleitung betont, die Juden nicht nur als   Träger, sondern auch als die wichtigsten Erforscher der Gotteslehre sieht, zieht   er alle Auslegungen aus dem Talmud, den Midraschim, der Kabbala und spätere   rabbinische Kommentare für seine Überlegungen heran. In diesen Zusammenhang gehören natürlich auch seine großen   Sammlungen von Mythen, Legenden und Volkserzählungen. Zunächst erschienen seine Sagen der Juden zur Bibel in sechs Büchern (1913-1927). Von 1916 bis 1922   erschien seine zweite Sammlung mit vor allem außerbiblischen Figuren als Born   Judas in sechs Büchern, wobei nur Band 1 den »biblischen Mären« gewidmet   ist. Arnold Zweig besprach den Born Judas begeistert in der »Jüdischen   Rundschau« vom 9. September 1924. Auch wenn Berdyczewskis Gedankenwelt Buber   zentrale Impulse für sein Werk gegeben hat, war ihre Beziehung zeitlebens sehr   gespannt. Berdyczewski hatte bereits mit Bubers traditionell eingestelltem   Großvater, dem Midrasch-Forscher Salomo Buber aus Lemberg, korrespondiert, doch   sollte er sich gegenüber dem »modernen« Enkel und dem Kult um dessen Person eher   distanziert verhalten. Martin Buber half »dem neuen Autor« Berdyczewski in   Breslau und Berlin bei Verlagskontakten. Während aber Buber mit seinen Reden   über das Judentum zur charismatischen Figur in der jüdischen Jugendbewegung   wurde und erfolgreich seine Bücher veröffentlichte, führte Berdyczewski einen   oft niederschmetternden Überlebenskampf. William Cutter hat bereits anhand ihres   Briefwechsels und Berdyczewski´s Tagebuch ihr ambivalentes Verhältnis   beleuchtet.13   Auch wenn Berdyczewski einmal sagte »Buber hat mir das Leben gerettet«,14   äußert er sich zu Buber in seinen Tagebüchern ironisch und sarkastisch. So   notierte er zum Beispiel zu einem Besuch Bubers: »Ein Staatsbesuch von Martin   Buber in Länge von siebeneinhalb Minuten.«15 Mit Bubers eigenem Werk war Berdyczewski allerdings auch   nicht einverstanden. Im April 1908 schrieb er daher an Buber: »Ich hatte an Ihren Legenden meine Freude, u. wie ich   	auch jetzt mehr zur realistischen Dichtung neige, so hielten sie mich im   	Bann durch das, was ihnen innewohnt so wie durch das, was sie einem sagen.   	Wären sie unter Ihrem eigenen Schild erschienen, so könnte ich hier   	abbrechen, da ich nicht gerne jemandem Gutes ins Gesicht sage.   	Da Sie aber Ihren Sachen einen historischen Hintergrund gegeben haben, so   	will ich Ihnen nicht verhehlen, daß Sie  	m. E. dem nicht ganz gerecht   	worden sind. Daß ich jetzt, nachdem ich mich mit anderen Gebieten der jüd.   	Religion beschäftigt habe, über den Chassidismus selbst anders urteile,   	davon will ich absehen. Aber auch die chass. Quellen alleine müßten mehr   	gesondert und gesichtet werden. Woran ich aber noch mehr auszusetzen hätte,   	ist, daß Sie zuweilen aus sich selbst heraus in die Sachen hineingebracht   	haben, was in ihnen in Wirklichkeit nicht enthalten ist. Was auf die   	Rechnung der Dichtung selbst zu setzen ist – u. ich würde es eine deutsche   	Dichtung nennen –, wird leicht dem Judentum als solchem zugeschrieben. In   	der Hoffnung, daß Sie mir meine Offenheit nicht übel nehmen.«16 Im März 1908 hatte Berdyczewski sehr deutlich in sein   Tagebuch geschrieben: »Ich habe Bubers Buch studiert und habe entdeckt, dass es   	auf einer Art Lüge basiert. Es will mehr als ein Buch sein; die Geschichten   	erwecken den Eindruck als ob sie die Fakten auf denen sie basieren, nicht   	wirklich verstehen, und das ist die Hauptsache; es gibt kein Bewusstsein der   	Quellen noch werden die Materialien herangezogen, die ihm zur Verfügung   	standen, daher hat das Buch keinen Wert als wissenschaftliches Werk, als   	persönliches Werk, als Ausdruck eines Autors ist es auch zweifelhaft; die   	Sprache ist zuweilen unverantwortlich und ermüdend und es erweckt den   	Eindruck, dass der Autor von den Dingen, die er beschreibt unberührt ist.«17 Im selben Jahr tat Berdyczewski seinen   Ärger kund, indem er wieder über Buber notierte: »August: Buber hat wiederum   mehrere chassidische Bücher von mir geborgt. Dieser Mann kann sich nicht von   ihnen losmachen [und] Horodetzky macht mit seinem Philo-Chassidismus weiter   [...]«18   Und sehr drastisch schreibt er schließlich im Juli 1918: »Martin Buber wurde nun   öffentlich als Zadik bezeichnet.«19 Berdyczewskis Gedanken zeigten Buber, wie man mit Hilfe der   bildenden Künste eine Erneuerung des Judentums vielleicht vorantreiben könnte.   Buber entwickelte in seiner romantischen Form der »Jüdischen Renaissance« ein   »alt-neues« Judentum. Er lehnte die halachisch dominierten talmudisch-orthodoxen   Lehren des Exils ab und formte aus Sekten oder größeren Bewegungen eine neue   Kette der Überlieferung. Deren Glieder waren die Propheten, die Rechabiter, die   Essener, die Urchristen, kleine kabbalistische Zirkel im Mittelalter und der   Chassidismus. Sie fanden ihren Gegenpart im »offiziellen« rabbinischen Judentum.   Einen verwandten Versuch einer jüdischen Renaissance und »Gegengeschichte« hatte   Berdyczewki in heute teilweilse vergessenen Werken wie Sinai und Garizim bereits entwickelt, wobei Berdyczewski – zumindest was die Quellen betrifft –   ganz auf dem Boden der rabbinischen und kabbalistischen Tradition steht. So ist Sinai und Garizim von den dort herangezogenen Quellen immer noch ein   lesenswerter Versuch einer neuen jüdischen Geschichtsschreibung, während viele   der Reden Bubers aus dieser Zeit, die damals eine ungeheure Wirkung hatten,   heute nur noch seltsam blass wirken.                                        1 Siehe: KATJA POURSHIRAZI: Martin Bubers literarisches Werk zum Chassidismus. Frankfurt a. M.: Peter   Lang 2008; KLAUS DAVIDOWICZ: Gershom Scholem und Martin Buber. Neukirchen,   Vluyn: Neukirchener Verlag 1998.
 2 Siehe: TRUDE MAURER: Ostjuden in Deutschland. Hamburg: Christians 1986,   S.12-28.
 3 Siehe: GENNADY ESTRAIKH: Vilna on   the Spree: Yiddish in Weimar Berlin. In: Aschkenas 16,1 (2006),   S.123-129.
 4 Nathan Birnbaum: Sprachadel. In: Die Freistatt, 1   (1913-14), H. 3, S. 137-138. Der gesamte Artikel findet sich in H. 2, S. 83-88,   und H. 3, S.137-145. 
 5 Gershom Scholem: Tagebücher. 1. Halbband 1913-1917.   Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag 1995, S. 423.
 6 Nurit Govrin: »Die Seele eröffnete sich«.   Berdyczewskis Verhältnis zum Chassidismus in der Erzählung ›Die Pause‹. In:   Trumah 10: Israelische Literatur und Tradition (2000), S.121-129, hier S. 121.
 7 MICHA BERDYCZEWSKI: Gesammelte Essays, Tel Aviv: Am   Oved 1952, S. 273, zitiert nach Govrin, Die Seele eröffnete sich (wie Anm. 6),   S. 121.
 8 MICHA BERDYCZEWSKI: Schriften, Jerusalem: Mossad   Bialik 1999, Bd 4, S. 24, zitiert nach Govrin, Die Seele eröffnete sich (wie   Anm. 6), S. 120.
 9 Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten.   Hg. von Grete Schaeder. Bd 1, Heidelberg: Lambert Schneider 1972, S. 243.
 10 BERDYCZEWSKI: Gesammelte Essays, 1952, S. 375,   zitiert nach Govrin, Die Seele eröffnete sich (wie Anm. 6), S. 121-122.
 11 Govrin, „Die Seele eröffnete sich (wie Anm. 6), S.   123.
 12 Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen,   gesammelt von Micha Josef bin Gorion. Hg. von Emanuel bin Gorion.   Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag 1993, S. 773.
 13 William Cutter: The Buber and   Berdyczewski Correspondence. In: Jewish Social Studies 6 (2000), S. 160-204.
 14 Zitiert nach ebd., S. 162.
 15 Zitiert nach ebd., S. 164.
 16 Buber, Briefwechsel 1 (wie Anm. 24), S. 261-262.
 17 Zitiert   nach Cutter, The Buber and Berdyczewski Correspondence (wie Anm. 13), S. 180.
 18 Zitiert nach ebd., S. 183.
 19 Zitiert nach ebd., S. 197.