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Hundert Jahre Czernowitzer

Armin EIDHERR

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Vom 30. August bis zum 3. September 1908 wurde in Czernowitz die mythenumrankte „Jüdische Sprachkonferenz" abgehalten. Dabei ging es darum, welche Sprache DIE nationale Sprache des jüdischen Volkes sein solle: Jiddisch oder Hebräisch standen obenan.

100 Jahre danach ist es an der Zeit, sie und ihre Wirkung zu würdigen. Wer sich mit der jiddischen Kultur beschäftigt, wird sehr bald auch auf die Konferenz von Czernowitz stoßen.

Die Haupttagesordnungspunkte der Czernowitzer Sprachkonferenz von 1908

Egal, was man über die Czernowitzer Sprachkonferenz und ihre Wirkung sagen möchte, man sollte zuerst zur Konferenz selbst zurückgehen und sich besonders ihre Inhalte ansehen. Man mag sie, was das Organisatorische, die Ergebnisse, die Resolutionen und ähnliches betrifft, als gescheitert sehen Und man kann sie für überschätzt halten, wie das nicht nur von vielen Zeitgenossen der Konferenz, sondern auch gegenwärtig bisweilen gesehen wird: In seiner umfangreichen, 445 Seiten umfassenden Monographie über den großen, in Czernowitz geborenen jiddischen Dichter Itzik Manger (1901-1961) erwähnt Alexander Spiegelblatt (geb. 1927) die Czernowitzer „Jüdische Sprachkonferenz" nur zwei Mal nebenbei, wo es heißt:

„Die Debatten im Zusammenhang mit der jüdischen nationalen Sprache, wie sie während der Czernowitzer Konferenz von 1908 geführt wurden, waren im Wesentlichen ein Resultat der ‚bundistischen’ Ideologie."

Das entspricht nicht ganz den Tatsachen, denn die Debatten resultierten aus der Konfrontation verschiedener Ideen – etwa aus diaspora-nationalen und arbeiterzionistischen.

Nun lässt sich vor allem anführen, dass – neben anderen Schwachpunkten wie dem Nicht-Zustandekommen einer sich um die Realisierung der Ideen von „Czernowitz" kümmernden Organisation – vor allem die nach fünf Tagen zustande gekommene Resolution nicht außerordentlich war:

„Die erste Konferenz für die jüdische Sprache erkennt Jiddisch als eine nationale Sprache des jüdischen Volkes an und fordert ihre politische, kulturelle und gesellschaftliche Gleichberechtigung."

Heute aber besteht kaum mehr Uneinigkeit über ihre starke, lang anhaltende Wirkung. Immerhin ist der Status des Jiddischen, ohne politische Anerkennung zu haben, als hervorragende Kultursprache weitgehend unbestritten, obwohl auch schon 1908 im Einladungsbrief zur Sprachkonferenz bemerkt wurde:

„Tatsächlich, die alte Scham bezüglich des Jiddischen hat angefangen schwächer zu werden. [...] Immer mehr versteht man, dass sich in ihr die jüdische Seele widerspiegelt, und man beginnt ihren Wert für den Fortbestand unseres Volkes zu begreifen."

Das primäre Motiv, die Konferenz zu veranstalten könnte man, als diaspora-nationalistisch definieren, wenngleich man es mit verschiedenen Konzepten zu tun hat – wie etwa jenen von Khayim Zhitlovski (1865-1943) und Nathan Birnbaum (1864-1937), die zusammen den Plan zur Konferenz gefasst und ihn realisiert hatten:

„Anfang des 20. Jahrhunderts agitierte eine ganze Reihe angesehener jüdischer Schriftsteller, wie Dr. Khayim Zhitlovski, Nathan Birnbaum, Abraham Reisen und andere für die jiddische Sprache, in welcher sie eines der Hauptfundamente der nationalen jüdischen Kultur sahen. 1908 wurde in Czernowitz eine ‚Jüdische Sprachkonferenz’ einberufen, um Fragen zu behandeln, die mit der jiddischen Grammatik, Orthographie und mit jiddischer Lexikographie verbunden sind."1

Betrachtet man die kompletten Tagungspunkte der Konferenz, dann ist die Bedeutung für die konkrete Sprach- und Kulturentwicklung des Jiddischen evident:

„1. die jiddische Orthographie, 2. Grammatik, 3. fremde und neue Wörter, 4. Wörterbuch, - zwischen 4. und 5. ist nachträglich eingefügt: Übersetzung der Bibel auf Jiddisch -, 5. Jugend und Sprache, 6. Presse, 7. Theater, 8. ökonomische Lage der jiddischen Schriftsteller, 9. ökonomische Lage der jiddischen Schauspieler, 10. die Anerkennung der jiddischen Sprache."

Man erkennt neben der Wertschätzung der Sprache und der Sorge um die Gewährleistung der Stabilität der sie festigenden Kulturinstanzen auch die Notwendigkeit der Verbesserungen nicht nur in sprachlicher und kultureller, sondern auch in politischer Hinsicht. Birnbaum wollte gerade in Österreich die in der Resolution geforderte „politische, kulturelle und gesellschaftliche Gleichberechtigung":

„In Österreich-Ungarn war es verboten bei der Durchführung von Volkszählungen Jiddisch in der Rubrik der Sprache anzugeben. Aber 1910 gab es bereits in Galizien und der Bukowina eine große Volksbewegung für die Anerkennung der jiddischen Sprache." 2

Mit den politischen Änderungen infolge des Ersten Weltkrieges war an eine Verwirklichung der diasporanationalen Pläne in realpolitischer Hinsicht in Österreich nicht mehr zu denken.

Reaktionen 1908 und in den Jahren danach

Ein typisches Beispiel für einen Artikel mit positiver Darstellung ist jener, den Gerschom Bader (1868-1953) Vorfeld der Konferenz in der hebräischen Zeitschrift Ha-Mitspeh [Der Wachturm] im August 1908 veröffentlichte. Bader drückt dort seine Hochschätzung der Konferenz aus. U.a. heißt es dort:

„Das Jiddische selbst ist nicht mehr als eine Diasporasprache. [...] Jedoch ist sie tief in der jüdischen Seele verwurzelt und schon seit fünfhundert Jahren die geistige Heimat der jüdischen Massen."

Und ein wenig später heißt es (fast prophetisch):

„Doch die Konferenz selbst ist eine bedeutende Leistung für die Literatur unseres Volkes, auch wenn keine einzige ihrer Resolutionen zu praktischen Resultaten führen wird."

Als Beispiel für die negativen Darstellungen bietet sich ein Artikel eines Dr. A. Coralnik an, der auf typische Weise ironische Haltung und Empörung:

„Man könnte die Sache von der heiteren Seite betrachten. [...] Wirklich komisch! Menschen, die nie die Jargonsprache gesprochen haben, wollen sie mit fanatischem Eifer zur Nationalsprache erheben [...]. Ich habe die heitere Seite zuerst berührt, [...] weil ich die eigentliche Frage, den Streit zwischen Jargon und Hebräisch, für müßig halte.

Liegt denn wirklich der Schwerpunkt des Judentums in der Einheit der Sprache? Die Juden waren doch seit jeher ein zweisprachiges Volk. Und hatten die Juden in Babylon, die aramäisch und hebräisch, die von Alexandrien, die griechisch, und die spanischen Juden, die arabisch und spanisch sprachen, weniger Einheit, als die Völker ringsumher, die nur eine Sprache hatten.[...]

Die hebräische Sprache [...] war wirklich die Nationalsprache der Juden, die nationale Wirklichkeitssprache. Denn die nationale Wirklichkeit ist eine andere als die Tageswirklichkeit. [...]

Er [= der „Jargon"] ist eine Übergangssprache, die dem Untergang geweiht ist. Eine, zwei Generationen – und die Juden im Osten Europas und in Amerika werden den Jargon gesprochen haben ... Es ist eine Bahnhofsprache, keine Sprache des Heimes. Man kann ein sehr guter, wahrer, produktiver Jude sein, ohne Jargon zu sprechen. [...]

Die Jargonsprache ist nicht lebensfähig, das will nicht sagen, dass sie nicht lebensberechtigt sei. Aber was lebt, unterliegt keinem Zweifel. [...] die Sprache hat keine Zukunft. Das ist auch klar. Wozu nun auf den Sand bauen? Wozu Unmöglichkeiten konstruieren?" 3

Der Artikel, der als Pars pro Toto für zahlreiche andere dieser Art stehen kann, ist auffallend widersprüchlich und unterstellt Dinge, die bei der Konferenz so gar nicht abgehandelt wurden. Auch der drastische zynisch-aggressive Ton ist typisch für die verschiedenen antijiddischen Positionen der Zeit.

Aber „Czernowitz" wurde wirkungsmächtiger, als es die Gegner und selbst positiv Gesonnene vorhersahen. Der „Geist von Czernowitz" ist beispielsweise schon spürbar, wenn es im Jahr 1924 in der ersten Nummer der deutschsprachigen Zeitschrift „Das Zelt" heißt:

„VORBEMERKUNG ZU DIESER ZEITSCHRIFT

Wenn wir daran gehen, eine neue jüdische Zeitschrift ins Leben zu rufen, sind wir uns all der Schwierigkeiten, die ein derartiges Unternehmen bedrohen, wohl bewusst; wir sind uns auch der undankbaren und zwitterhaften Rolle bewusst, die eine deutsch geschriebene jüdische Zeitschrift in einer Zeit einnehmen muss, da sich jüdisches literarisches Schaffen in immer fortschreitendem Maße der beiden nationalen Sprachen des Judentums bedient. Dennoch setzen wir den Versuch, weil wir wissen, dass es noch immer eine große Anzahl von jüdischen Menschen gibt, der nur auf diesem Wege ein kleines Abbild von dem vermittelt werden kann, was Juden schaffen und was das Judentum sich und mithin der Welt gibt und gab. […] Wichtig erscheint es uns, die modernen hebräischen und jiddischen Dichter in erstklassigen Übersetzungen zu Wort kommen zu lassen." 4

Das heißt, „Czernowitz" hatte deutlich auch außerhalb der jiddischen Kulturwelt, zumindest „innerjüdisch", bereits eine Akzeptanz. Aufschlussreich an der zitierten Stelle ist vor allem, dass das wesentliche jüdische Schaffen im Hebräischen und Jiddischen gesehen wird und eine deutschsprachige Publikation sich nicht als kulturell hegemonial, sondern als notwendige Vermittlerin sieht.

Dass das Thema aber noch immer extrem ideologisch aufgeladen war, zeigt ein Bericht aus demselben Jahr über bei ähnlichem Anlass stattgefundene Auseinandersetzungen in Eretz Israel:

Die Krawalle in Tel-Aviv wegen der Sprachenfrage. Am 5. Oktober veranstaltete der Poale Zion-Klub in Tel-Aviv eine Feier des 20. Jahrestages der ersten Konferenz der Jiddischisten in Czernowitz. Während der Feier blockierten Mitglieder des Vereines zum Schutze der hebräischen Sprache (Chewrath magine hasafah) das Klubhaus und griffen Besucher an. Es kam zu einem schweren Zusammenstoß, wobei es auf beiden Seiten mehrere Verwundete gab. Unter den Verletzten befindet sich der Führer der Poale Zion, Stadtradsmitglied Wescher. Drei Poale-Zionisten wurden verhaftet.

Unter der Arbeiterschaft herrscht wegen des Angriffes auf den Poale-Zion-Klub starke Erregung. Der Stadtrat von Tel-Aviv sandte an den Poale-Zion-Klub ein Schreiben, in welchem ihm aus Anlass der Überfälle das Mitgefühl ausgesprochen wird."5

1928 zog auch Zhitlovski sein bekanntes Resümee, wo er mehrfach vom Wirken der „Seele" bzw. des „Geistes" von Czernowitz spricht. Damit meinte er im Grunde die Stärkung des Jiddischismus und des jiddisch-kulturellen Selbstbewusstseins, das klar in der Kulturentwicklung ab etwa 1908 in Galizien und der Bukowina zu bemerken ist.

Die Konferenz bei Jiddischen Schriftstellern aus Galizien und der Bukowina

Interessant ist, dass die „Jüdische Sprachkonferenz" in der Zwischenkriegszeit bei den Schriftstellern kaum eine Rolle für ihr dichterisches Selbstverständnis zu spielen scheint: Zum Beispiel findet sich in keiner einzigen Nummer der wichtigen Wiener jiddischen Kulturzeitschrift „Kritik" (1920/21), in der durchwegs interessante jiddischistische Positionen vertreten wurden (Mosche Silburg, Melech Rawitsch, Mosche Gross), auch nur eine Erwähnung oder Anspielung auf die Czernowitzer Konferenz. – Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde „Czernowitz" im Zusammenhang mit dem „dichterischen Selbstverständnis" intensiver zum Thema gemacht.

Im zweiten Band seiner 1964 erschienenen Autobiographie schildert Melech Rawitsch (1893-1976), wie seine Entscheidung für das Jiddische als ausschließlicher Sprache seiner schriftstellerischen Tätigkeit von „Czernowitz" mitbestimmt worden sei, obwohl er als junger Mann – zum Zeitpunkt dieser Entscheidung – eigentlich Deutsch und Polnisch im Vergleich zum Jiddischen viel besser beherrschte.

Durch Czernowitz, könnte man sagen, wurde Jiddisch eine bewusste Wahl, wohingegen vorher zum einen ökonomische Gründe, zum anderen Erreichbarkeit der Massen (in der Haskala) für die Wahl ausschlaggebend waren: Die „Wahl des Jiddischen" könnte man beispielsweise im Zusammenhang mit Uri Zvi Grinbergs Gedichtzyklus „Mefisto" (1922) so deuten:

„[...] das Jiddische wendet sich hier [...] gegen die durch das Deutsche und das Hebräische repräsentierten Kulturen [...], gegen das anhand des jüdischen Gottes vorgestellte Prinzip der Unterscheidung in der Begrenzung, welches Einheit (Identität), darüber hinaus aber keine Vielheit erlaubt, und zugleich gegen das mit Mephisto vorgestellte Prinzip der Gleichheit, welches unbegrenzte Verwandlung, d.h. Vielheit, aber keine Einheit (Identität) zulässt. Das Jiddische soll eine Alternative zu diesen beiden Kulturkategorien vorstellen."

Die „Idee des Jiddischen" erweise sich „als Idee von Vielheit in der Einheit."6

Diese „Idee des Jiddischen" ist wahrscheinlich der innerste Kern des Jiddischismus.

Nun erfolgte die Entscheidung für Jiddische aus verschiedenen – von nationalistischen hin zu „a-nationalen"– jiddischistisch-„ideologischen" Gründen, was sich mit Rawitsch, dessen rund 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen Zeilen von Ironie und Wehmut durchtränkt sind, so zusammenfassen lässt:

„Der gesamte Osten Europas badet sich in Flammen des Sonnenaufgangs. Die jiddische Literatur wird die Literatur des ganzen jüdischen Volkes. Die jiddische Sprache – die Sprache aller jüdischen Zeiten. Gar bald werde es in Polen nationale jüdische Kultur-Autonomie geben, und [...] die Welt ein junger Garten Eden sein."

Ganz deutlich äußerte sich der in Czernowitz sozialisierte Yekhiel (Ikhil) Shraybman (1913-2005), er fühle sich durch „Czernowitz" sozusagen „geboren":

„Ich wurde fünf Jahre nach der Czernowitzer Sprachkonferenz geboren. Mein Vater war eine einfacher heimatverbundener Mann. Unser Haus war kein literarisches. Aber seit ich denken kann, erinnere ich mich an die drei Wörter ‚Czernowitzer Sprach-Konferenz’. Ich hatte ständig das Gefühl, im Jahr der Czernowitzer Sprachkonferenz geboren worden zu sein. Mehr noch: Ich dachte später oft, die Czernowitzer Sprachkonferenz habe mich geboren. [...] Die Czernowitzer Sprachkonferenz wurde in Czernowitz gehalten, um [...]das Ansehen der ganzen jiddischen Literatur zu heben, die schon damals in aller Welt zu schaffen begonnen wurde. Die Czernowitzer Sprachkonferenz gebar Dutzende große jiddische Schriftsteller in Russland und Amerika, die es verdienen auf der Leiter, die Weltliteratur heißt, nicht bloß auf der untersten Sprosse zu stehen."

Auch der Dichter Itzik Manger stellt sich (biografisch) in den Kontext der Konferenz:

„1908, ich war gerade sieben Jahre alt und ein barfüßiger Herumtreiber in den Straßen von Czernowitz, fand in meiner Geburtsstadt die „Czernowitzer Sprachkonferenz" statt, auf der man die jiddische Volkssprache zu einer der beiden Nationalsprachen des jüdischen Volkes kürte. Es war ein erhabener Moment im Leben eines Volkes, seiner Sprache und seiner Literatur. [...] Ein Volk, zwei Sprachen ... Zwei Sprachen, eine Literatur. Die jiddische Sprache wurde ein wichtiger nationaler und sozialer Faktor. In Jiddisch erwachte das nationale und soziale Gewissen. In diesem Sinne lässt sich die Funktion des Jiddischen mit der Funktion des alttestamentarischen Hebräisch vergleichen."7

Der heute noch in Czernowitz lebende Schriftsteller Josef Burg (geb. 1912) erwähnt in Aufsätzen und Erzählungen immer wieder die Czernowitzer „Jüdische Sprachkonferenz" von 1908 und gibt sie als eines der Motive für sein beharrliches literarisches Schaffen in Jiddisch an, obgleich er – speziell in der Ukraine – nicht nur „der nunmehr letzte jiddische Schriftsteller" ist, sondern dort auch kaum mehr Leser hat. Dass er dabei die Konferenz stets auf die gleiche Weise unrichtig darstellt, hat einerseits mit poetologischen Gründen, andererseits mit dem Wissen zu tun, dass bei „Czernowitz" sowieso der „Mythos" mehr zählt als der historisch-faktische Hintergrund.

So lässt er die Konferenz ständig im Jüdischen Haus spielen und legt Perez (1852-1915) damals nicht ganz so geäußerte Worte in den Mund:

„Jiddisch

Ich habe die Überschrift hingeschrieben, und als hätte ich irgendeinen geheimnisvollen Spruch über die Lippen gebracht, tauchte, wie aus dem Boden gewachsen, vor meinen Augen das große, vierstöckige Haus mit den Resten altfränkischer Ornamente und Zierate auf, das Haus, wo sich im Verlauf von Dutzenden Jahren alle Ströme des einstigen jüdischen Lebens widergespiegelt haben und wo am Anfang unseres Jahrhunderts die berühmte jiddische Sprachkonferenz stattgefunden hat.

Die Czernowitzer jiddische Sprachkonferenz.

Im Zentrum des Interesses, zwischen den Priestern der jiddischen Literatur – J.-L. Perez; durch den festtäglich dekorierten Saal schwebt eine farbige Wörterfülle, und es klingt feierlich und erhaben:

„Jiddisch ist die Sprache des jüdischen Volkes!"

Czernowitz [...]"8

„Czernowitz" und die Gegenwart

Das Sprechen vom „Geist", der „Seele", dem „Mythos" oder der „Symbolik" von „Czernowitz" wird vom bekannten Linguist und Jiddischforscher Joshua Fishman (geb. 1926) zurecht prinzipiell kritisiert:

„Man spricht und schreibt bei uns schon Jahre lang fast ohne Unterlass über die ‚Symbolik’ der Czernowitzer Konferenz. Es scheint, als habe schon jeder Große im Jiddischland über diese ‚Symbolik’ wenigstens einmal geschrieben – und wahrscheinlich schon mehr als ein Mal. [...] Doch das Resultat davon, dass man sich so unproportional mit der Symbolik der Czernowitzer Konferenz beschäftigt, ist, dass wir bis heute relativ wenig über die Konferenz selbst wissen."

Oder:

„Von einem so modernen Denker wie Zhitlovski sollten wir auf konkretere Begriffe wie bloß die romantische ‚Seele’ hoffen dürfen (‚die Sprache ist die Seele des Volkes’ und andere solche verbreiteten mystischen Formulierungen.")

Will man versuchen, die Begriffe „Seele" oder „Geist" jenseits von Mystizismen wie „Volksseele" u.ä. im Zusammenhang mit „Czernowitz" zu erklären, dann kann das jedoch sehr gut in Verbindung mit Zhitlovskis Jiddischismus-Begriff geschehen:

„Der Jiddischismus ist [...] nichts anderes und nichts Geringeres als das Streben nach voller und ganzer nationaler Einheitlichkeit und voller, ganzer geistiger Freiheit und Unabhängigkeit. [...] ‚Jiddisch – unsere nationale Sprache, unsere einzige Einheit in Freiheit.’"

Der „Geist von Czernowitz" meint somit, dass dort das Jiddische erstmals offiziell und in einem „würdigen" Rahmen seine Wertschätzung als „sprachliche Verkörperung" von der gesamten jüdischen Tradition (der religiös-klassischen, osteuropäisch-jüdischen etc.) und auch gleichzeitig der europäischen, der nichtjüdischen und eines modernen jüdischen diasporischen Selbstverständnisses erfuhr:

„Jiddisch war nie eine Ideologie. [...] Angefangen vom Rheinfluss bis zur Weichsel sprachen Juden Jiddisch – nicht wegen einer Philosophie, sondern die Sprache kam natürlich, als eine europäische Sprache für eine europäische Kultur. [...] Nathan Birnbaum sah wohl, [...] dass mit Jiddisch ein neues jüdisches Volk entsteht, dass, wenngleich zersät und zerstreut, doch durch die jiddische Sprache und die jiddische Kultur geeinigt wird."9

Eigentlich hat sich schon Zhitlovski den Jiddischismus ohne bestimmte religiöse, philosophische, politische Identität gedacht: jeder solle, vereinfacht gesagt, tun was er wolle – das Jiddische stifte die Einheit. Rawitsch schrieb über Zhitlovski:

„Zhitlovskis ganze Erscheinung ist eine Portion jüdischer Optimismus und Lebensfreude. [...] Denn er forderte das ganze Leben – leben und leben lassen."

Was aber sagt uns das heute?

Stellt man den Status Quo fest, wo sich als „nationale" Sprache des Judentums eindeutig Hebräisch durchgesetzt hat und Jiddisch – scheinbar – marginalisiert ist, könnte man sagen, dass das Jiddische gegenwärtig, wo es von seiner „Aufgabe", nationale Sprache (ob man das jetzt im Sinne von diaspora-national, kulturautonom, arbeiterzionistisch oder wie auch immer versteht) sein zu sollen oder zu müssen, befreit ist, erst in seiner seit jeher ihm am meisten entsprechenden Eigenheit als a-nationale, inter- bzw. transnationale Sprache aufgefasst werden kann! Die Idee von der „Vielheit in der Einheit" bekäme einen neuen Sinn.

Auf jeden Fall wird „Czernowitz" mit den vielen Thematiken, die es beinhaltet, sozusagen als Chiffre für die jiddische Kultur (und ihrer Gegner) und verschiedener jiddischistischer Haltungen, auch immer Gegenstand der jiddischen Studien und der jiddischen, jüdischen und generellen Kulturgeschichte bleiben. Wir sollen also in unserem Lehren und Lernen immer wieder nach „Czernowitz 1908" zurückkehren. 

  • 1 Borochov

  • 2 Borochov

  • 3 A. Coralnik: Die Sprachgesetzgeber von Czernowitz. In: Ost und West, Nr. 10, Berlin 1908.

  • 4 Das Zelt Nr. 1. Wien, Januar 1924. Der anonyme Artikel stammt vielleicht vom „Schriftleiter" Eugen Hoeflich (1891-1965), der später unter dem Pseudonym Moshe Ben-Gavriël schrieb.

  • 5 Palästina, Nr. 11, Wien-Leipzig 1928.

  • 6 Neuburger, Karin: Einleitung. In: Uri Zvi Grinberg: Mephisto. München 2007.

  • 7 Itzik Manger: Mein Weg in der jiddischen Literatur. In: Ders.: Ich, der Troubadour. Lieder, Balladen und Prosa. Hg. von Andrej Jendrusch. Berlin 1999.

  • 8 Burg, Josef: Jiddisch. In: Ders.: Sterne altern nicht. Ausgewählte Erzählungen. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Winsen 2004.

  • 9 Mordekhay Tsanin