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CHANUKAH

Walter ROTHSCHILD

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Wieder wird es dunkel. Finsternis draussen - und drinnen. Was ist zu tun? Sogar ein kleines Licht kann grosse Wirkung haben.

Wir leben in Mitteleuropa, wo es solche dunkle Jahreszeiten gibt, einen solchen Sonnenzyklus. Unser Kalender wird aber von einer Religion (oder mehreren Religionen!) beeinflusst, die ihre Wurzeln im Mittelmeerraum haben. Ich wohnte für ein Jahr auf einer Insel in der Karibik - der Unterschied zwischen Sommer und Winter war dort kaum zu merken, es war immer warm, nur, dass im Winter der Sonnenuntergang eine halbe Stunde früher stattfand, als im Sommer. Andererseits gibt es Regionen auf unserem Erdball, wo es die Hälfte des Jahres dunkel bleibt. Jeder kennt die Geschichte vom Gerichtprozess in Alaska, wo der Richter den Zeugen fragt: „Wo waren Sie während der Nacht vom 15. September bis 12. März?"

Wir kennen - noch - die vier Jahreszeiten, auch wenn unser gegenwärtiger Klimawandel viele altvertraute Bilder verschwinden lässt. Und im Winter ist es draussen besonders hart, kalt, grau und grausam. Man sieht vor sich mehrere Monate des gleichen Grauens, bis irgendwann der Frühling wieder erscheinen soll. In solchen Zeiten braucht man Licht, und Freude.

So haben alle Religionen in der dunklen Jahreszeit ihr Lichterfest. Im Judentum aber gibt es noch mehr dazu. Nicht nur Lichter und Geschenke und Lieder, sondern Gedanken, Glauben, Erinnerungen an schlimme Zeiten und heldenhafte Taten. Die Geschichte Chanukahs - soweit wir sie noch rekonstruieren können - ist nicht messianisch und nicht universalistisch, sondern eine Konzentration auf unsere eigenen religiösen Bedürfnisse, und bedeutet eine Wiedereinweihung - nicht nur eines alten Tempels in alten Zeiten, sondern von uns selbst in unserer eigenen Zeit.

Die Geschichte ist grausam und hat mit der Purim-Geschichte in der Estherrolle gemeinsam, dass Gott kaum erwähnt wird - und sicher nicht als ein Charakter, der eine Hauptrolle spielt. Eigentlich sehen wir in den beiden Makkabäer-Büchern I und II1 einen Bürgerkrieg, einen inneren Krieg zwischen Juden und Juden. In den Texten, Gebeten und Liedern geht es um „Syrer" oder „Griechen" als unsere Feinde, aber eigentlich ging es um einem Streit zwischen jenen Juden, die bereit waren, eine „Vereinbarung" mit der Besatzungsmacht zu schliessen, und denen, die sich vehement dagegen wehrten und sogar bereit waren, dagegen zu kämpfen. Dieser Krieg wird als Guerilla- oder Partisanenkrieg beschrieben, mit vielen Massakern und dem, was wir heute als Kriegsverbrechen bezeichnen würden. Was wirklich damals passierte, ist schwer daraus zu lesen - die Heldengeschichten sind immer sehr einseitig -, aber anscheinend haben die fundamentalistischeren Juden, unter der Führung des Priesters Mattityahu und seiner Söhne, am Ende die Soldaten des Antiochus aus Jerusalem hinausgedrängt und den Tempel, der symbolisch für sie sehr wichtig war, wieder eingenommen.

Was danach passierte, ist Stoff der Mythen. Leider sind Mythen oftmals wichtiger als alle andere Versionen, und sicher stärker als historische Fakten. Mythen lassen sich meist einfacher in Kindermärchen verwandeln - und leider gibt es immer wieder erwachsene Menschen, die dann an solche Helden-gegen-Böse-Märchen glauben. Die „Bösen" hatten den Tempel „entweiht", also war es jetzt nötig, ihn zu reinigen, um dort den Dienst wieder aufnehmen zu können. Aber wie? Man sollte bedenken, dass alle Makkabäer Blut an ihren Händen hatten - und Gott hat David ganz konkret verboten, einen Tempel zu bauen, weil er Blut an seinen Händen hatte (I. Chronik 28:3).

Nach dem II. Makkabäer-Buch (10:5-8) gab es einen Versuch, Sukkot „nachzuholen". Ein Märchen über wunderbare Ölkrüge findet man erst später. Latkes (Kartoffelpuffer) wurden nie erwähnt - keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass die Kartoffel erst anderthalb Jahrtausende später im Westen bekannt wurde! Von Dreidels und anderen Spielzeugen redete damals auch keiner. Stattdessen war es wichtig, die Infrastruktur nach dieser „Stunde Null" wiederherzustellen. Und die Makkabäer, die kämpferischen Söhne Mattityahus, waren Priester - nicht nur „Freiheitskämpfer".

Eine interessante Frage ist, wie wir, die wir nicht mehr an den Tempel glauben, feiern sollen, dass der Tempel damals wieder in Betrieb genommen werden konnte. Schliesslich  wurde er ungefähr 250 Jahre später endgültig zerstört. Das heisst, wir feiern einen Sieg, der nur von relativ kurzer Dauer war - und wir wissen auch, wie die Geschichte weitergegangen ist. Das ist, als feierte man den Unabhängigkeitstag eines Landes, das nicht mehr existiert. Wie kann man das zu mehr als reiner Nostalgie erklären? Auch heute gibt es viele Juden - und nicht nur Juden - die gerne jede alte Synagoge, von der immer noch Überreste vorhanden sind, restaurieren lassen würden - auch wenn es keine Juden vor Ort mehr gibt, die sie für ihre religiösen oder gemeinschaftlichen Zwecke brauchen würden. Ist das ein „Wiederaufbau der heiligen Stätten", oder nur gut gemeinte Geldverschwendung? Die jüdischen Gemeinden von heute brauchen andere Gebäude als die alten von früher - in anderen Städten oder Stadtteilen, für moderne Bedürfnisse richtig und zweckmässig gebaut - (leider) mit eingebauten Sicherheitmassnahmen, aber auch mit behindertengerechtem Zugang, beheizbar, mit Räumen für Kinder, mit Büros - die Zeiten haben sich geändert. Ein altmodischer, pittoresker „Schlachthof-mit-Barbecue-im-Freien" in Jerusalem ist nicht das, was Juden heute brauchen. Warum sollte man sich nach einem solchen Wiederaufbau sehnen und dafür beten?

Aber ein Wiederaufbau des jüdischen Selbstvertrauens - das bleibt nötig. Genau ein solcher Wiederaufbau der jüdischen Identität in Zeiten, in denen Assimilation und Akzeptanz plötzlich so einfach scheinen (obwohl in Wirklichkeit Antisemiten noch immer auf eine Gelegenheit warten, die Assimilierten wieder hinauszudrängen), ein Wiederaufbau der Hoffnung nach dem tiefen Schmerz und der Verzweiflung des letzten Jahrhunderts - hier, denke ich, finden wir noch Gründe genug, um Chanukah als Fest für moderne Zeiten zu feiern.

Nur - bitte ich - nicht ausschliesslich mit Krapfen und Dreidels und Kindergeschichten. Die Zeiten sind schwer, und jeder braucht Hoffnung. Lassen wir den Kindern ihre Freude, ja, aber - Chanukah ist ein Fest der Hoffnung in schweren Zeiten - für Erwachsene, die verstehen, wie wichtig das ist.

Schalom!

Walter Rothschild ist Rabbiner von Or Chadasch, der liberalen jüdischen Gemeinde in Wien 2, Robertgasse 2.

1 Die sogenannten Makkabäer-Bücher III und IV haben mit Chanukah nichts zu tun, und alle vier sind nur in den Apokryphen zu finden, nicht in der hebräischen Bibel.