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Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit im Spiegel reichshofrätlicher Gerichtsakten

Verena KASPER

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Gerichtsakten können ein faszinierendes Bild vergangener Zeiten zeichnen und bilden einen wichtigen Quellenbestand für die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Frühen Neuzeit in Europa, den Zeitraum zwischen etwa 1500 und 1800 CE. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts stieg die Menge an schriftlichen Quellen durch Buchdruck sowie Ausbau und zunehmende Verschriftlichung vor allem administrativer Vorgänge stark an, wovon insbesondere die vielfach noch erhaltenen Aktenbestände frühneuzeitlicher Gerichte zeugen. Sie bieten einen besonders reichen und umfassenden Einblick in die uns oft fremden vormodernen Lebenswelten, genauer in deren Konflikte, denn gleich einem modernen Gerichtsverfahren mussten auch die frühneuzeitlichen Kläger und Beklagten vor den Richtern ihre Lebensverhältnisse, aber auch Rechtsvorstellungen und Rechtsansprüche in ihrem je situativen Kontext ausführlich beschreiben und argumentieren. Dazu war es oftmals erforderlich, Beweise zu erbringen, eventuell Zeichnungen, Karten, Urkunden, Quittungen, Zeugenaussagen et cetera vorzulegen oder Verhöre über sich ergehen zu lassen.1 All dies fand in Form von Protokollen, aber auch Prozessschriften und anderen Dokumenten seinen schriftlichen Niederschlag, die archiviert und vielfach bis in unsere Gegenwart überliefert wurden.

Eines der wichtigsten europäischen Archive, das unter anderem die Bestände des Reichshofrates - des kaiserlichen Höchstgerichts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation - vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des Alten Reichs 1806 enthält, ist das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz.2 An das kaiserliche Höchstgericht in Wien konnten sich unter gewissen Voraussetzungen Kläger aus dem gesamten Gebiet des Alten Reiches und damit aus rund 16 heutigen europäischen Staatsgebieten wenden, über alle soziale Schichten und Bevölkerungsgruppen hinweg vom hochadligen Fürsten bis zum einfachen Bauern. Ganz besonders intensiv wandten sich Juden aufgrund ihrer besonderen Rechtsstellung an dieses Gericht - wie in den letzten Jahren herausgearbeitet wurde,3 waren sie in rund 3.000 Verfahren und damit etwa 5% aller Verfahren am Reichshofrat prozessbeteiligt. Dies ist angesichts des verschwindend geringen jüdischen Bevölkerungsanteils im Alten Reich eine erstaunliche Präsenz an diesem christlichen Gericht. Daher bieten diese bislang noch kaum erschlossenen und bearbeiteten Quellenbestände auch für die jüdische Geschichtsforschung reiches Material nicht nur in Hinblick auf die Rechtsstellung der Juden in der Frühen Neuzeit, sondern auch für sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen der jüdischen Geschichte. Es handelte sich bei den Verfahren mit jüdischer Beteiligung in erster Linie um Schuldklagen der jüdischen Finanzelite zunächst vor allem aus den habsburgischen Erblanden, später zunehmend aus dem Reich. Aber auch zahlreiche innerjüdische Konflikte wurden an den Reichshofrat gebracht, ebenso wie Klagen jüdischer Gemeinden, insbesondere aus den süddeutschen Reichsstädten.

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Der Sitzungssaal des Reichshofrates in Wien, Anonym, Frankfurt a.M., um 1700. Quelle: Johannes Christopherus Uffenbach, Tractatus...excelissimo consilio caesareo - imperiali Vom Kayserl. Reichs-Hoff-Rath, Frankfurt a.M. 1700, Bd. III/ d 11.

Die Stiftung der Familie Wertheim in Frankfurt am Main - ein Beispielfall

Ein Verfahren der Jahre 1787-1789 sei hier exemplarisch herausgegriffen, das die Wiener jüdische Familie Wertheim sowie die Frankfurter jüdische Gemeinde, die nach Prag die grösste frühneuzeitliche jüdische Gemeinde im Reich darstellte und besonders häufig am Reichshofrat auftrat, betraf.4 Dieser Fall verweist auf die hohe Verflechtung und Interaktion der verschiedenen Gemeinden, selbst wenn diese weit voneinander entfernt lagen, wie im Falle Wiens und Frankfurts.

So berichten die Quellen, dass die Erben des bekannten kaiserlichen Hoffaktors Samson Wertheimer (1658-1724) ein Kapital von 150.000 Gulden in Wien „in fundis publicis" auf Zins angelegt hatten, um

„[...] verschiedene fromme Stiftungen, Schuelen, Erziehungs Anstalten, und ansehnliche Stipendien für Schuelkinder, und studierende Jünglinge ihrer Glaubensgenossen zu errichten."5

Ein Teil dieser Stiftungsgelder floss nach Frankfurt in die bereits existierende, so genannte Klaussynagoge und -schule und wurde dort in den 1780er Jahren von dem Familienmitglied Zacharias Wertheimer als Stiftungsadministrator verwaltet. Da der Stiftungsbrief, wie oft in Familienstiftungen der Fall, die bevorzugte Berufung von Familienmitgliedern auf vakante Lehrer- oder Rabbinerpositionen vorsah, wurde im Jahr 1786 von der Wertheimer Familie der auswärtige Rabbiner und Urenkel Samson Wertheimers Isaac Zacharias Fränckel aus Brandeis in Böhmen (heute Brandýs nad Labem, Tschechische Republik) als Lehrer an die Stiftung berufen. Während nun dieser bereits mit Frau und Kindern auf dem Weg nach Frankfurt war, entbrannte in der Frankfurter Gemeinde ein heftiger Streit um die Besetzung dieses Postens. Seitens der Frankfurter Gemeindeleitung vermochte man es nicht hinzunehmen, dass ohne ihre Einwilligung und Erlaubnis allein kraft Stiftungsrecht und nicht qua Gemeinde- oder Stadtrecht ein neues Gemeindemitglied aufgenommen werden sollte. Insbesondere deshalb nicht, da man bereits einheimische Kandidaten für die Rabbinerstelle vorgesehen hatte. So sicher war man sich beiderseits der eigenen Position, dass man den bislang intern geführten Konflikt vor das Frankfurter Stadtgericht, den Schöffenrat, trug, um Recht zu bekommen. Dies zeitigte jedoch ungeahnte Folgen - denn erstens war man seitens der Stadt nicht gewillt, ohne weiteres ein neues Gemeindemitglied aufzunehmen und verbot dies daher umgehend. Die Aufnahme in die Frankfurter Gemeinde war durch die Frankfurter Stättigkeit, die Judenordnung von 1616, besonders streng reglementiert und an Besitz, Vermögen, Einheirat in eine Frankfurter jüdische Familie, das Vorschlagsrecht der Gemeindevorsteher und die Genehmigung der städtischen Stellen geknüpft. Zweitens und prekärerweise aber wusste der Frankfurter Magistrat offenbar überhaupt nichts von der Existenz der Wertheimischen Stiftung in der Frankfurter Gemeinde, geschweige denn hatte er diese je legitimiert und deren Einrichtung erlaubt. Man zeigte sich daher mehr als empört und gewillt, die Stiftung umgehend und gänzlich zu schliessen bei Verhängung empfindlicher Strafen. Eine heikle Situation war also durch die Verlagerung des Konfliktes vor das christliche Gericht entstanden - die grundsätzliche Existenz der Stiftung und damit nicht nur die Stelle des zu berufenden Rabbiners, sondern auch die Stipendien und das Aufenthaltsrecht aller Schüler und Bediensteten der Klaussynagoge und -schule waren plötzlich gefährdet.

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Das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz, in dem rund 3000 Verfahren mit jüdischer Beteiligung aufbewahrt werden. Foto: Mit freundlicher Genehmigung V. Kasper.

In dieser nun sicher von beiden jüdischen Parteien ungewollten Situation appellierte Zacharias Wertheimer im Namen der Stiftung an den Reichshofrat gegen den Frankfurter Schöffenrat, denn nun konnte nur noch das kaiserliche Gericht die Stiftung retten. Und tatsächlich kam man der jüdischen Gemeinde dort zu Hilfe. Zwar schien der Frankfurter Magistrat alle rechtlichen Argumente als städtische Obrigkeit für sich zu haben, gleichwohl fand man am Reichshofrat einen Weg, die Autonomie der Gemeinde in dieser Angelegenheit zu wahren. So verlagerte man sich in der rechtlichen Entscheidungsfindung zum einen auf das Stiftungsrecht, das nach frühneuzeitlichem Rechtsverständnis als partikulares Recht dem allgemeinen Recht vorgezogen werden konnte. Zum anderen aber löste man den Konflikt durch die aussergerichtliche Mediation des für den Fall zuständigen Referenten Johann Baptist von Steeb zwischen den Parteien. Denn obwohl alle Verfahren am Reichshofrat von einem Gremium an Reichshofräten gemeinsam entschieden wurden, wurden ähnlich modernen Gremien jeweils ein oder zwei Reichshofräten bestimmte Fälle zugeteilt, um diese ihren Kollegen zu präsentieren bzw. zu referieren. Diese Referenten konnten entsprechend grossen Einfluss auf den Verlauf der einzelnen Prozesse ausüben. Im Wertheimischen Falle nun bedeutete der zuständige Referent von Steeb dem Vertreter des Frankfurter Magistrats in Wien in informellen Gesprächen und ganz im Sinne des aufklärerischen Erziehungsideals, dass man nicht gewillt sei, die Schliessung dieser Stiftung, die von solch grossem Nutzen für die Bildung innerhalb der jüdischen Gemeinde sei, zu dulden. Vielmehr sei es wohl einer Vernachlässigung der städtischen Aufsichtspflicht zuzuschreiben, dass der Magistrat nichts von der Stiftung gewusst habe. Es werde daher seitens des kaiserlichen Gerichts gewünscht, dass man einen Vergleich vollziehe, bei dem der Stiftungsadministrator Wertheim dem Magistrat den Stiftungsbrief gemäss der Frankfurter Judenordnung vorlege, um dessen Bestätigung zu erhalten, im Gegenzug aber die Annahme desselben ohne weitere Probleme erwartet werde. Zugleich benannte man gegenüber der Stadt von Seiten des Reichshofrates deutlich, dass man deren aggressives Vorgehen gegen die jüdische Stiftung nicht schätze, man

 „[...] glaubt in diesem Bericht einige Gehässigkeit gegen Appellanten um so mehr zu finden [...]".6

Dass der Referent explizit die „Gehässigkeit" stigmatisierte, die man seitens des Magistrats gegenüber der jüdischen Stiftung in dieser Angelegenheit erkennen lasse, mag darauf verweisen, dass man Diffamierungen am kaiserlichen Gericht von Juden oder jüdische Institutionen zunehmend nicht mehr zu tolerieren bereit war. Wie der weitere Prozessverlauf erkennen lässt, zeigten die mahnenden Worte des Reichshofrates Wirkung und die Stiftung konnte ohne weitere Probleme von Seiten des Magistrat aufrechterhalten werden. Gleichwohl gelang es den Frankfurter Gemeindevorstehern, die Berufung Fränkels zu verhindern und stattdessen einen einheimischen Gelehrten zur Stelle zu verhelfen - auch dies zeigt die Vergleichsanzeige, die man in Wien vorzulegen hatte.

Der Reichshofrat als Wahrer jüdischer Autonomie in Frankfurt

Wie dieser und viele weitere Fälle aus Frankfurt zeigen, trat das kaiserliche Gericht insbesondere dort immer wieder als Wahrer der jüdischen Gemeindeautonomie auf. Dies vor allem auch noch am Ende des 18. Jahrhunderts, als eben diese autonomen Räume vielerorts durch den absolutistischen Zugriff zunehmend eingeschränkt oder ganz aufgehoben wurden. Er tat dies nicht immer durch direkte Entscheide zugunsten der jüdischen Gemeinde, allein aber die Möglichkeit, eine Appellation an dieses Gericht zu bringen, konnte beispielsweise beschwerende städtische Verordnungen bereits verzögern oder ausser Kraft setzen. Ein solches Verfahren hatte oftmals auch pazifizierende Wirkung und verhalf zu einem Vergleich zwischen jüdischer Gemeinde und christlicher Obrigkeit, auf den sich letztere ansonsten vermutlich nicht eingelassen hätte. Wie in dem hier vorgestellten Verfahren zu sehen war, geschah dies unter Umständen durchaus auch auf informellem Wege durch aussergerichtliche Mediation.

Der Fall der Wertheimer Stiftung zeigt zudem exemplarisch, wie genuin das kaiserliche Gericht in innergemeindliche Konfliktsituationen involviert werden konnte - eine nicht selten anzutreffende Prozesskonstellation. Eben diese Art von Verfahren ermöglicht nachzeitig Einblick in die sozialen Lebenswelten und Bruchstellen jüdischer Gemeinden, ebenso wie in deren Verflechtung mit anderen Gemeinden im Reich. Auch macht sie die autonomen Räume der Gemeinde beschreibbar, die innerhalb des zunehmend stabilen und funktionsfähigen rechtlichen Rahmens trotz und neben sozialer Ungleichheit und Diskriminierung innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft möglich waren.

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Deckblatt der Appellationsprozessschrift im Fall der Wertheimischen Stiftung am Reichshofrat in Wien. Quelle: HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 461/1, o.F. Mit freundlicher Genehmigung Österr. Staatsarchiv.

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Unterschrift von Zacharias Wertheimer im Reichshofratverfahren um die Wertheimische Stiftung in Frankfurt. Quelle: HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 461/1, o.F. Mit freundlicher Genehmigung Österr. Staatsarchiv.

1    Siehe dazu als historisch fundierte, romaneske Einführung Davis, Natalie Zemon: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Berlin 2004 (Englischer Erstdruck Cambridge 1983). Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer: die Welt eines Müllers um 1600 Berlin 20076 (Italienischer Erstdruck Turin 1976).

2   Siehe zur Bedeutung des Reichshofratarchivs speziell für die jüdische Geschichte auch Auer, Leopold/ Ortlieb, Eva: Die Akten des Reichshofrats und ihre Bedeutung für die Geschichte der Juden im Alten Reich. In: Gotzmann, Andreas/ Wendehorst, Stephan (Hrsg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007, S. 25-38.

3    Vgl. Staudinger, Barbara: Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559-1670, Wien 2001 (ungedr. phil. Diss). Kasper, Verena: Die Frankfurter Judengemeinde und der Reichshofrat unter Joseph II. (1765-90), Graz 2009 (ungedr. phil. Diss.).

4    HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 461/1. Rubrum: „Wertheimer Zacharias, als Samson Wertheimerischer Stiftungs Administrator zu Frankfurt contra Die Juden Baumeister und den Magistrat als Judicem a quo - Appellationis die Einberufung eines Lehrers zur Wertheimerischen Stiftungsschule betr."

5    HHStA Wien, RHR, Obere Registratur K 461/1, o.F.

6    FSTA, Juden Akten 199 (Ubg D 33 N 199), o.F.